Warum ich schreibe ...
Von der Seele schreiben, die Not, die Verzweiflung, sagen die einen. Von der Seele mußt du sie dir reden, sagen die anderen. Nur, wer versteht sie, kann wahrhaftig mit einem fühlen? Dieses Rezept legt niemand bei.
Sie sehen einem angeblich an, was man eigentlich will oder meint. Ist es so schwer, den anderen zu verstehen? Wahrscheinlich fehlen mir die treffenden Worte und ich gebe zu schnell auf.
Zuhören müßte man doch können, dir zuhören, mir zuhören und den anderen zuhören. Nur nimmt sich niemand Zeit dazu, sie ist viel zu knapp. - Im Fernsehen wartet eine wichtige Sendung oder irgendeine Freude, die dann schließlich doch keine wird.
Und zu wem soll ich reden? Erzählen von den Tagen der Trauer, der Tränen, erst allein geweint, dann ganz offen, ohne mich derer zu schämen? Warum habe ich mich erst der Tränen geschämt, die locker unter der Haut saßen, mein Sohn, und bei jedem kleinsten Anlaß über die grauen Wangen rollten?
Grau war's in meinem Herzen und ohne Trost. Ab und zu ist es tief drinnen immer noch grau und trostlos. Dann baue ich Kraft auf, aus der Tiefe, tief drinnen hol ich sie, und lasse mich nicht unterpflügen vom Leid und der Traurigkeit, weil ich dir mit ganzer Kraft helfen will.
Ich schreibe es mir deshalb von der Seele, aus dem Kopf in die Finger, in die Tasten, in den Computer hinein, der damit machen soll, was er will, ich schenk sie ihm, die ganze Traurig- und Hilflosigkeit.
Herta Rauscher-Emge
Sehnsucht
Im Pferdewagen durch die Steppe ziehen,
im Feuer Äpfel braten,
Kartoffeln rösten,
bis die Funken stieben.
Holz auflegen,
ein großes Feuer machen,
Wärme auf der Haut spüren.
Im rotglühenden Abend
die Zeit vergessen.
Wege ohne Schatten möcht ich ziehn,
in flirrender Sommerluft
mit einem Windhauch auf der brennenden Haut,
bis zum verborgenen Horizont
die gelben Blumen pflücken,
zu Sträußen binden,
verschenken,
wie helle Worte
ohne Zwiespalt.
Besuch
Aus der Ferne klingt ein Lied,
gerade noch zu hören in der Nacht.
Ein Zug braust vorüber
vom Bahnhof in der Näh'.
Das Lampenlicht wirft
hellen Schein
auf die menschenleere Straße.
Die letzten Gäste gehn.
Abschied in der Tür.
Bis bald ...
Bis zum nächsten Mal ...
Wir danken ...
Danke, daß ihr bei uns den Abend verbrachtet.
Danke, daß ihr so fröhlich wart,
mit uns lachtet,
lachtet über gemeinsam
vergangene Tage;
wir hörten Musik,
stritten über politische Fragen,
saßen nur still,
wenn keiner etwas zu sagen hatte,
vergaßen die Zeit
ohne Worte,
ohne Effekthascherei
waren wir Freunde,
die sich viele Jahre bereits verstehen.
Köpenickiade in Zuckerhandl
In meiner Kindheit besuchte ich gerne meine Großeltern in Zuckerhandl. Drei Kilometer Fußweg über die Landstraße entlang hatte ich zu gehen: Erst in Znaim über die Eisenbahnbrücke, dann den Ziegeleiberg hinunter bis zur Gaststätte Gutwillinger, hernach zog sich die Straße ansteigend auf eine langes Stück freie Landstraße, die gesäumt war von fruchtbaren Feldern und Obstbäumen; von dort reichte der Blick bis zur Napoleonseiche auf dem Heikaberg. Oft mußte ich im Winter bei heftigem Schneesturm hinter dem Bahnwärterhäuschen Schutz zum Atemholen suchen. Aber bald nach dem Zuckerhandler Friedhof kamen die ersten Häuser, und dann war ich auch schon im Dorf. Ich lief über einen schmalen Holzsteg, der über einen Bach führte, in dem immer laut schnatternde Gänse schwammen. Aus den Bauernhöfen klang reges Arbeitsleben, und Pferdewagen fuhren auf die Felder hinaus ...
Aber das ist nicht die Geschichte, die ich eigentlich erzählen wollte, die begann erst später, viel später, als die Laute im Dorf ganz anders geworden waren.
Die Landstraße hallte vom Schritt russischer Truppen und dem Dröhnen der Panzermotoren wider.
Der Pfingstsonntag 1945 war ein strahlender, sonniger Tag, der Krieg war zu Ende. Meine Mutter und ich saßen bei meinen Großeltern und Mutters Schwester in Zuckerhandl in der Küche. Die Gespräche drehten sich nur um eines: Wie sollten wir dieses Leben weiterführen, keine Nacht schliefen wir ruhig und ohne Angst.
Einmal suchten wir Zuflucht vor den Übergriffen der sowjetischen Soldaten auf dem Speicher, ein andermal versteckt im Bach hinter dichtem Strauchwerk.
Nur die Großeltern waren immer im Hause geblieben, auch wenn Gewehrkolben gegen das Haustor polterten und Einlaß gefordert wurde. Wenn es dann wieder still im Hause war, die Soldaten mit Wein oder den geforderten Lebensmitteln gegangen waren, riefen die Großeltern laut nach Lumpi, dem Hund. Das war für uns das Zeichen zum vorsichtigen Heimschleichen.
An dem besagten Pfingstsonntag schreckte uns abermals Klopfen am Haustor auf. Großvater kam in Begleitung eines französischen Offiziers, der mit Orden und hohen Rangabzeichen dekoriert war, in die Küche. Wir blickten ihm erschrocken entgegen.
"Erkennt ihr ihn nicht?" fragte uns Großvater gut gelaunt, "es ist doch Ludwig aus Wien."
Ich kannte Onkel Ludwig, der mich ausgezeichnet durch Wien geführt hatte. Aber ich konnte nicht glauben, daß er unerwartet als Soldat in französischer Uniform vor uns stand.
Er hatte sich in den Nachkriegswirren als deutscher Soldat in Berlin die französische Uniform 'besorgt' und war dann von Berlin aus mit einem Fahrrad bis nach Znaim gekommen; jetzt machte er bei uns in Zuckerhandl Station.
Er wunderte sich, daß wir trotz der Ängste, die wir auszustehen hatten, immer noch so friedlich beisammen-saßen, denn in Znaim, so erzählte er, mußten die ersten Deutschen schon aus ihren Häusern heraus und die Stadt über die Grenze verlassen.
"Doch solange ich hier bin", sagte der Onkel, "braucht ihr euch vor nichts und niemandem zu fürchten. Meine französischen Sprachkenntnisse reichten von Berlin bis hierher, so kann ich damit und dank dieser Uniform auch euch beschützen."
Onkel Ludwig sollte sein Versprechen bald unter Beweis stellen müssen. Russische Soldaten und mit Gewehren bewaffnete Tschechen drängten in die Küche. Onkel Ludwig stellte sich in seiner ordensgeschmückten Uniform, die Hacken zusammenschlagend, sofort stramm zwischen Küchentisch und Stuhl. Die Uniform und sein Verhalten verfehlten ihre Wirkung nicht. Es war eng geworden in der Küche, als die Soldaten und die Tschechen vor unseren Augen gleichfalls ihre militärische Begrüßungsparade zum besten gaben. Händeschütteln, französisch, russisch, halb deutsch und halb tschechisch gesprochene Worte ließen uns nicht mehr auf den Stühlen sitzen, und wir stellten uns ängstlich abwartend dahinter. Onkel Ludwig parlierte in seinem besten Französisch auf die Männer ein, von denen zum Glück ohnedies keiner ein Wort verstand. Sein Wiener Charme war anscheinend aber so beeindruckend, daß alle im besten Einvernehmen wieder gingen. Natürlich nicht, ohne noch einen guten Rat für den Onkel zu hinterlassen: er solle sich gut satt essen, sich ausreichend Verpflegung mitgeben lassen - denn wir seien nur Deutsche - und dann weiterfahren.
Kurz danach vermißte Onkel Ludwig seine Armbanduhr, die er mit anderen Gegenständen auf dem Küchentisch abgelegt hatte.
"Ich muß die Uhr wiederhaben!" sagte er ärgerlich.
"Reg' dich nicht auf", meinte Großvater beruhigend, "uns fehlt auch immer etwas, wenn sie wieder fort sind."
Onkel Ludwig jedoch war nicht zu beruhigen und schwang sich auf sein Fahrrad, um bei der russischen Kommandantur seine Uhr zurückzufordern. Dank seiner Uniform erreichte er es, daß die Soldaten vor ihm antreten mußten.
Trotzdem bekam Onkel Ludwig seine Uhr nicht wieder zurück, aber er traf gesund und wohlbehalten mit seinem Fahrrad in Wien ein. Noch lange hing die erlebnisreiche Uniform zur Erinnerung im Schrank.
Es ist sicher schwer in der heutigen Zeit, diese Geschichte zu verstehen. Aber während ich mich beim Schreiben in Gedanken zurückversetze, steigen die Ängste, die Unruhe und die Hilflosigkeit der Deutschen in der damaligen Zeit aus der Vergangenheit auf, als wäre es gestern gewesen. Und ich empfinde es als ein großes Glück, heute in ruhigen Zeiten leben zu können.
Rückfahrt
In einem Zuge möchte ich sitzen,
allein im Abteil,
zurückfahren in die Vergangenheit.
Hast du alles recht gemacht,
nichts versäumt in deinen Lebensjahren?
Dreihundertmal würd ich mich fragen,
nicht mehr, dreihundertmal ist noch zu ertragen.
In einem Zuge möchte ich sitzen
an einem Fensterplatz,
nicht daran denken, einst aussteigen zu müssen.
Fahr nicht so schnell auf meiner Lebensbahn,
halte an,
laß mich noch einmal den Freunden winken,
die ich einst gekannt,
im Vorüberfahren ...