Unveröffentlichte Manuskripte

 

Hier stellen wir (auf ausdrücklichen Wunsch) Material von Autoren zur Verfügung, das von uns bisher noch nicht weiter geprüft oder bearbeitet wurde (natürlich haben wir kurz drübergelesen, wir stellen hier ja nicht alles ins WEB — und was genau heißt das jetzt?). Nicht nur die Autoren freuen sich über Feed-Back, auch wir kommen dadurch möglicherweise zu einer anderen Einstellung gegenüber einem Manuskript, dem wir bisher keine großen Marktchancen eingeräumt haben (nein, liebe Freunde und Verwandte, es hat keinen Zweck uns jetzt mit Lobeshymnen zu überschütten, sowas merken wir). Wenn Ihnen also einzelne Beiträge gefallen, dann schreiben Sie uns das ruhig: eMail an den Buchverlag Andrea Schmitz

 

Als erstes stellen wir Ihnen das hochinteressante (aber von uns noch nicht überarbeitete) Manuskript von Björn Germek vor: Gruppentherapie. Es handelt sich um eine autobiographische Erzählung zum Thema Stottern.

 

Gruppenthe-te-therapie

- Erzählung -

 

Ein kleines Vorwort

Dieses Buch ist über eine Zeit, die ich mal erlebte. Es war eine schöne Zeit, manchmal denke ich noch daran zurück. Auch wenn sie schon lange vorbei ist und ich mittlerweile ein völlig anderer Mensch bin. Ich möchte mit dem Buch in die Gefühlswelt eines jugendlichen Stotterers hineinleuchten, und ich habe mich für den 17jährigen Tim Habermann entschieden, der einiges mit dem 17jährigen Björn Germek zu tun hatte. Ich bin nun Mitte 20, habe soeben mein zweites Buch über das Stottern geschrieben – und kann eines auf jeden Fall sagen:

Nichts ist beständiger als der Wandel!

Gebt Gas, da draußen!

 

Björn Germek (2002)

 

 

 

 

 

Der Tag X

 

 

Die Sitzecke befand sich am hinteren Ende des großen Vorraumes, gleich neben der Tür zur Terrasse - was man so Terrasse nannte, eher eine Entschuldigung von einer Terrasse. In fünf Schritten Entfernung stand eine Reihe von weiß-braun angestrichenen Tischen, die zu einem großen Essenstisch zusammengestellt waren. Weitere drei Schritte weiter folgte die kleine Küche und das Gruppentelefon. An der Wand neben der Küche hing ein Zettel.

‘Ich darf sto-sto-stottern’ stand darauf.

Alles in allem wirkte der Raum einladend. Durch die breite Fensterfront war er sehr hell erleuchtet und sogar einige Bilder hingen an den Wänden. Gustav Klimt - Bilder, dieselben, die man in jeder Arztpraxis vorfindet. Aber auch Bilder mit Gesichtern und Personen schmückten die mit Rauhfaser tapezierten Wände. Gruppe 6, Gruppe 10, Gruppe 9…

 

Kaffee. Mehr sah der junge Mann nicht an diesem Morgen. Die Kaffeetasse vor ihm war die letzte Rettung vor dem, was ihn erwartet hätte, wenn er von der Kaffeetasse aufgeschaut hätte. Er hätte wahscheinlich reden müssen.

Das Reden war für ihn das Allerschlimmste auf der ganzen Welt. Er wäre durch die Hölle gegangen, hätte sich freiwillig ins Gefängnis begeben, alles hätte er getan, aber reden, das wollte er nicht. Da war doch so eine Kaffeetasse eine wunderbare Erlösung für ihn. Und wie interessant es doch war, das tiefe Schwarz zu beobachten. Er schaute in die Tasse hinein und beobachtete - Nichts. Aber der Philosoph kann auch über den Begriff ‘Nichts’ diskutieren, also war es für den jungen Mann, der übrigens Tim Habermann hieß, absolut in Ordnung, über das Schwarze in der Kaffeetasse zu reflektieren. So saß er dort in der Sitzecke, inmitten von zehn bis zwanzig anderen Leuten. Die Sonne knallte durchs Fenster, mehr bekam Tim von der Außenwelt nicht mit.

Langsam aber sicher ließ sich der Grund der Tasse erkennen, und das bedeutete, er müsste bald von ihr aufschauen. Vielleicht würde er dann den Blick eines anderen kreuzen, und vielleicht würde dieser andere ihm eine Frage stellen. Das wäre an diesem Morgen der absolute Weltuntergang für Tim gewesen.

Also, was tun?

Rauchen!

Ja, rausgehen und rauchen, das wäre die Lösung! Rauchen war immer die Lösung gewesen. Man konnte sich hinsetzen und in aller Ruhe seine West-Light rauchen und so tun, als sei man ganz entspannt und genieße einfach nur seine Zigarette beziehungsweise sein Leben, während man sich innerlich vor Nervosität und Unsicherheit krümmte. Wirklich wunderbar, diese Glimmstengel.

Er stand auf, den Blick gen Boden gerichtet, die Hand in der linken Hosentasche, in der seine Zigaretten hilfsbereit auf ihn warteten. Als er aus dem Haus, bei dem es sich um ein Klinikgebäude handelte, hinausging, schlug die Sonne ihm mit ihrer Faust ins Gesicht, so dass er zurücktaumelte.

Es wäre wirklich ein schönes Freibadwetter heute, dachte er. Ich hätte Tobi gefragt, ob er mir vom Kiosk was zum Trinken mitbringen könnte und dann hätten wir einen schönen Tag im Freibad gehabt. Stattdessen sitze ich hier inmitten von lauter unbekannten Leuten, mit denen ich nachher auch noch reden muß. Und dann sehen sie das, was ich jahrelang zu verstecken versucht habe.

Er setzte sich auf die ursprünglich wohl mal weiß gewesene Bank an der Terrassentür, verkleidete sich mit einer Sonnenbrille und zündete seine Zigarette an. Die Terrasse lag am hinteren linken Teil des Hufeisens, gegenüber von der "Geschlossenen".

Er wollte nichts hören, nichts sehen, nichts sagen, einfach nur da sitzen und rauchen. Doch plötzlich, als hätte das jemand verlangt, fing neben ihm jemand an, ihn anzureden, das heißt, anzustottern.

"D-d-d-d-d-d-d-d-d-d-äh-na-na-äh-d-d-d-d-d-d-d-d-äh-na-na-dein-äh-na-dein-äh-V-v-v-v-v-v-v-v-v-v-v-v-v-v-v-v-v-na-hm-äh-Vater-ist-nett.", sagte er mit einer Anstrengung, die Tim nur allzu vertraut war. Er stotterte nicht ganz so verkrampft wie Tim, aber er brauchte genauso lange.

Woher nahm dieser Mensch das Recht, das zu tun, was Tim nicht tun wollte: stottern?

Woher nahm er das Recht, Tims Problem zu seinem zu machen?

"Ja.", antwortete Tim.

Kürze. Unbetontheit.

Sicherheit.

"Ich habe me-me-me-me-me-äh-me-me-me-me-na-äh-mich vorhin mit ihm unterhalten. T-t-t-t-t-t-t-t-t-t-t-t-t-t-äh-na-t-t-t-t-t-t-t-t-äh-na-der stottert auch, ne?"

"Ja.", antwortete Tim und sah den Mann neben ihm zum ersten Mal an.

Bei diesem ersten Kontakt mochte Tim ihn schon aus Prinzip nicht. Weshalb nicht? Aus dem einen Grund: der Mann stotterte, und Tim war der einzige Mensch - oder Unmensch - auf dieser Welt, der stottern durfte.

Tim hatte sich, seitdem er in diesen Sumpf von Negativität reingeboren worden war, kontinuierlich sein ganz eigenes Feindbild von sich selbst aufgebaut, und im Mittelpunkt dieses Feindbildes war sein Stottern zu finden. Er hatte sein Leben auf dem Stottern aufgebaut, und alle Fehlschläge hatte er stets auf eben diesen Tatbestand zurückgeführt, dass er stotterte. Nicht, dass er darauf stolz gewesen war, aber im Unterbewusstsein hatte sich, nach jahrelangem Auslachen und Abweisen von anderen, die Attitüde breitgemacht, dass er, wenn er schon Außenseiter war, auch wirklich Außenseiter spielen musste. Er hatte das Stottern zu seinem Hauptproblem, gleichzeitig aber auch zu einem Joker gemacht. Zum Beispiel hatte er in der siebten und achten Klasse auf dem Gymnasium eine Phase gehabt, in der er am liebsten jeden verprügelt hätte. Er hatte jeden gehaßt, wirklich jeden, und dass nur, weil er sich selbst gehaßt hatte. Damals hatte er sein Stottern als Grund dafür genommen, seine Mitschüler zu vermöbeln. Jeder, der ihn wegen seines "Sprachfehlers" ausgelacht hatte (sag’ mal was) - und so etwas kam in dem Alter ständig vor - hatte nach der Schule arge Probleme am Hals gehabt. Das war so lange gelaufen, bis der Schuldirektor ihm eines Tages erzählt hatte, dass solche Leute wie Tim an dieser Schule nicht geduldet würden, und er nach Hause gehen könnte, wenn er noch einmal einen Mitschüler verprügeln würde.

Auch wenn diese Phase noch so arm gewesen war, so hatte Tim in dieser Zeit sein Außenseiterdasein äußerlich doch zu seinem Vorteil verwandelt, denn er war gefürchtet gewesen. Er hatte in dieser Zeit seinen Ruf gemocht. Als er vernünftiger geworden war und seinen Selbsthaß auf sich selber projiziert hatte, hatte er sich immer noch wie ein Außenseiter gefühlt, auch wenn er schon längst keiner mehr gewesen war. Er hatte angefangen, in seinem Geist herumzuphilosophieren und hatte sich eine Ideologie zusammengesponnen, die niemand nachvollziehen konnte.

Bis zum heutigen Tage hatte sein Weltbild sich so weit entwickelt, dass für ihn feststand, dass eigentlich die ganze Welt schlecht war, und dass er der einzige war, der das auch wirklich so klar sehen konnte. Das Blöde daran war, auch das gehörte zu seiner Ideologie, dass er, der große Philosoph, seine Erkenntnisse nicht verbreiten konnte, da er ja stotterte. Somit hatte er sich ein Tim-gegen-den-Rest-der-Welt-Bild zurechtgelegt, das aus einem einzigen Kreislauf bestand: ich stottere-andere mögen mich deswegen nicht und lachen-sie sind intolerant-alle sind intolerant-die Welt ist schlecht-ich weiß das, weil ich viel Zeit zum Nachdenken habe-weil ich stottere. Mit diesem Weltbild hatte er sich höchstpersönlich von den anderen abgeschottetet.

 

An diesem Tag war es jedoch zum ersten Mal so, dass er nicht der einzige Stotterer war, und somit konnte er auch kein Außenseiter sein, was sehr, sehr ungewohnt und schon fast nervend für Tim war. Trotzdem fing er langsam und mühsam an, sich mit seinem Banknachbarn zu unterhalten. Was sollte er auch sonst tun? Er konnte sich nicht mehr verstecken, denn der Typ neben ihm hatte durch sein eigenes Stottern das Versteck ausfindig gemacht und das, was sich da versteckte, entlarvt. Außerdem sah der Mann ganz nett aus, und wahrscheinlich würden die beiden eine lange Zeit zusammen durchstehen müssen, denn wenn Tim noch nicht viel wusste, aber dass die Therapie genau 17 Wochen ging, wusste er schon seit einem halben Jahr.

 

"Ja, mein Vater stottert auch.", antwortete Tim. Wie er das sagte, kann man leider nicht in schriftlicher Form wiedergeben. Es gibt keine Lautschrift für die Laute, die Tim von sich gab. Wenn man das Wort ‘mein’ in Lautschrift umsetzen müsste, wäre das ‘ein’ kein Problem. Das ‘M’ jedoch gibt es nicht in der Variation, in der Tim es aussprach. Es war mehr ein Herumpusten, wobei die Lippen nicht zum ‘M’ geformt waren sondern eher eine Art ‘O’ bildeten, allerdings wesentlich angespannter und mit einem Luftausstoß, der ein Auto hätte schieben können. Dabei drückte er die Augen so fest zusammen, dass man Angst hatte, er würde gleich sterben. Währenddessen versuchte er mit Hilfe von ruckartigen Bewegungen der Arme und Beine, das Wort schneller herauszubekommen. Das musste doch weh tun.

 

Sein Vater. Ein feiner Kerl. Auch wenn es manchmal gerade in Bezug aufs Stottern nicht so glattlief zu Hause, weil sein Vater sich solche Sorgen machte, so hatte Tim sich doch stets auf seinen alten Herrn verlassen können. Und wenn er daran dachte, dass er ab heute ohne seine Eltern auskommen müsste, wurde ihm ganz schlecht. Eigentlich hatte er sich auf die Sprachtherapie dort, die Norbert, ein anderer Therapeut, ihm empfohlen hatte, sehr gefreut. Zumal es ihm in letzter Zeit sehr, sehr schlecht gegangen war. Heute jedoch konnte er sich nicht mehr vorstellen, sich so lange dort aufzuhalten, ohne sich der ständigen elterlichen Unterstützung sicher zu sein.

 

Der Mann neben ihm sah einen Menschen vor sich, den man absolut nicht einordnen konnte: Lange Haare. Ein verkrampftes, bleiches Gesicht. Sorgenfalten. Zusammengepreßte Augen.

Tim hingegen sah nichts. Er konnte in den Momenten der Anspannung nichts sehen, nicht denken, nichts fühlen außer Angst. Er war völlig abgetaucht, weit weg von der Welt, in der er lebte. Und all das, weil er versuchte, das Wort ‘mein’ zu sagen. Kam der Schweiß, der seinen Körper hinablief, von der Sonne oder von seinen Anstrengungen, seinen Bemühungen, dieses eine kurze Wort herauszubekommen?

Tim machte sich darüber keine Gedanken. Er hatte nur den einen verzweifelten Wunsch, den allergrößten Wunsch seines Lebens: er wollte nicht mehr bei jedem zweiten Wort alle Kräfte seines Körpers ausschöpfen und den Überblick verlieren. Wie oft war es ihm passiert, dass er sich beim Fahrradfahren mit einem Freund unterhalten hatte und einfach in ihn hineingefahren war, weil er ihn nicht mehr sehen konnte. Er haßte sich dafür, dass ihm ständig die Augen zufielen, dass er ständig vor sich hin pustete, um ein ‘M’ zu sagen. Er wollte das nicht mehr.

 

"Ich bin der Jochen.", sagte der Mann neben ihm.

In Tims Wahrnehmung dauerte es mehrere Stunden, bis er unter größter Anstrengung und der Verursachung von pfeifenden Geräuschen "Ich bin Tim.", antworten konnte.

Was dachte Jochen von ihm? Auch Jochen stotterte lange und oft und angestrengt, aber er wirkte wesentlich relaxter als Tim. Tim fühlte sich dreckig, wie ausgekotzt und sehr verunsichert. Er hätte bei seiner Zigarette bleiben und sich nicht auf ein Gespräch einlassen sollen. Das wäre was gewesen!

In der Zwischenzeit hatten Tims Eltern sich mit anderen besorgten Eltern ausgetauscht. Sie hatten sehr viele Gemeinsamkeiten festgestellt und sich prächtig über ihre armen, vom Leben, von Gott oder von wem auch immer gestraften Söhne und Töchter unterhalten. Angeregt plauderten sie vor sich hin, und hin und wieder konnte Tim Gesprächsfetzen vernehmen. Unser Tim hat ja auch in der Schule starke Schwierigkeiten-ja-ja-ach-mmm-ja, ja-nein, wirklich? Gymnasium, 12. Klasse-Oberstufe-starke Belastung…

Tim wünschte, er könnte sich auch einmal so angeregt unterhalten wie seine oder die anderen Eltern, und er war in dem Moment unglaublich neidisch auf die anderen Leute.

 

Früher als erwartet kam die Stunde des Abschieds, die erste Trennung von Tims Eltern, die länger dauerte als zwei Wochen. Bis dahin hatten seine Eltern in allen Lebenslagen hinter ihm gestanden, und sie hatten eigentlich alles Unangenehme für ihn erledigt. Und jetzt sollte Tim auf einmal für fast ein halbes Jahr auf eigenen Füßen stehen? Wie sollte er alleine bestehen, ohne seine Eltern, die bis zu seinem 17. Lebensjahr sein Sprachrohr – seine Füße – gewesen waren?

Da stand eine ungewisse Zeit mit ungewissem Ergebnis vor ihm, die er ohne seine Eltern packen musste!

Auch seine Eltern schienen sehr verunsichert zu sein, denn beide weinten stark und hielten es wohl kaum aus, ihren Jüngsten einfach dort zurückzulassen. Beide kamen Tim an diesem Tag sehr alt vor, sie wirkten bestimmt zehn Jahre älter als sie wirklich waren, und das machte Tims EntSchluss, sich dieser Therapie zu unterziehen, nicht gerade fester. Er hatte Angst, die Angst erschlug ihn fast und machte ihn handlungsunfähig. Sehnsüchtig wünschte er sich seine Heimatstadt herbei, und er vergaß in diesem Augenblick, dass es ihm eigentlich dermaßen schlecht ging, dass er bis vor einigen Tagen sein Leben an den Nagel hatte hängen wollen und dass diese Therapie seine einzige letzte Hoffnung auf ein besseres Leben war.

"Bleib sauber.", floskelte sein Vater, während er ihn umarmte und versuchte, ein möglichst großes väterliches Vorbild für seinen armen Sohn abzugeben, indem er das Weinen unterdrückte.

Auch seine Mutter umarmte ihn und sagte etwas Ermutigendes, das allerdings eher wie ein Ausschnitt aus einer Beerdigungsrede klang.

In diesem Moment gingen Tim Tausende von Gedanken durch den Kopf, aber alle Gedanken standen für den Wunsch, wieder mit den Eltern ins traute Heim zurückzufahren.

Nehmt mich wieder mit, schrie er seine Eltern in Gedanken an. Was soll der Mist hier? Es ist doch nur eine von vielen Therapien, die sowieso wieder nichts bringt! Ich bleibe jetzt ein halbes Jahr hier und versäume die Schule, und dabei kommt eh wieder nichts heraus. Nehmt mich wieder mit!

 

 

 

Die erste Nacht in einem fremden Bett

 

 

"Willst nen Keks?", fragte Sven Dorn mitten in der Nacht.

"Nein, danke", erwiderte Tim, der es nicht gewohnt war, nach dem Zähneputzen noch Süßigkeiten zu essen. Es war wirklich schon sehr spät und alle hatten einen harten – weil ungewohnt abgelaufenen – Tag hinter sich.

"Wieso nicht? Alleine essen macht dick!"

Du bist doch schon dick, dachte Tim. Gerade schlank war Sven wirklich nicht, aber der erste negative Eindruck, den Tim von ihm noch an diesem Nachmittag gehabt hatte, hatte sich absolut nicht bestätigt.

Die Chefetage dieser Station – also der Therapeut und die Mitarbeiterinnen – hatte Tim und Sven auf ein Zimmer geschickt, in dem sie die nächsten Nächte, so um die 90, zusammen zu verbringen hatten, und während Tim am Nachmittag, als er ihn kennengelernt hatte - voreingenommen wie er immer schon gewesen war - überhaupt noch keine Lust gehabt hatte, sich mit diesem Kerl das Zimmer zu teilen, empfand er dieses Opfer angesichts des zu erhoffenden Therapieerfolges nun als nicht mehr ganz so tragisch.

Tim Habermann, extrem im Leben, extrem in seiner Denkweise, extrem im Stottern. Entweder die Leute waren für ihn extrem nett oder extreme Idioten. Es gab keine Graustufen.

 

Nun lagen sie sich mitten in der Nacht in den Betten gegenüber, und Sven mit dem runden Bauch, dem runden Gesicht und den runden Brillengläsern bot ihm Kekse an. Eigentlich sollten die beiden längst schlafen, denn in der Klinik, die ursprünglich als psychiatrische Klinik gebaut worden war, galt die Ordnung, dass Minderjährige um halb elf still in ihren Betten liegen sollten.

"Na gut.", brachte Tim nach einer halben Minute unter enormer Anstrengung heraus. "Dann gib mir doch noch einen Keks."

Tim konnte Svens Freude sehen.

Sven sprang auf und eilte zum Kleiderschrank, in dem ein ganzes Fach von Süßigkeiten eingenommen worden war. In seiner Hand hielt er seinen Funkwecker, der mit einem praktischen Licht ausgestattet war. Damit beleuchtete er den Schrank und zauberte eine angebrochene Prinzenrolle heraus. Dann setzen sich beide auf ihre Bettkanten und begannen, sich an den Keksen zu erfreuen.

 

Es war die erste Nacht in diesem fremden Bett in der fremden Umgebung, und es war vielleicht zwölf Stunden her, dass seine Eltern ihn hier, wie einen Hund auf einer Autobahnraststätte, ausgesetzt hatten. So jedenfalls hatte Tim das empfunden, obwohl er es ja schließlich gewesen war, der sich für die Therapie hier entschieden hatte. Und nicht seine Eltern.

Doch die Trauer, die ihn am Nachmittag noch beherrscht hatte, war längst verflogen und einer gesunden Neugierde gewichen, die ihm viel besser stand.

Während dieses Tages hatte Tim die ganze insgesamt elfköpfige Gruppe kennengelernt. Alle waren Stotterer, einer stärker, einer schwächer. Es waren vier Mädchen beziehungsweise Frauen und sieben Jungen beziehungsweise Männer: Kerstin Lierz, Nicole Polker, Claudia Schmidt, Magdalena Hartzig, Jochen Worrenfeld, Manuel Hartner, Paolo Maccello, Mark Weila, Sven Dorn, Jakob Schlotze und natürlich Tim Habermann. Die Altersskala reichte von 15 bis 32, wobei die meisten gerade volljährig waren. Alle schienen auf ihre Art nett zu sein. Was blieb ihnen auch anderes übrig?

Bei der Vorstellungsrunde am Nachmittag hatte sich herauskristallisiert, dass alle dasselbe Problem hatten wie Tim - was Tims Rolle als Außenseiter extrem im Wege stand - und dass einige sogar noch krassere Probleme hatten als er, wobei man dies nach einem Tag natürlich noch nicht so genau sagen konnte. Die Vorstellungsrunde war der blanke Horror gewesen. Da hatten sich 12 Stotterer im Beisein von der Hälfte der Therapiebegleiterinnen und einer Praktikantin namens Gabi in einem engen Raum gegenüber gesessen und hatten sich etwas erzählen sollen. Tim war es so vorgekommen, als hätte man ihm zehn Spiegel vorgesetzt. Diese Art von Spiegel, die die Person, die davor steht, verzerren und die auf der Kirmes die kleinen Kinder zum Lachen bringen.

Die Leute sahen unterschiedlich aus, aber trotzdem hatten sie die eine schreckliche Gemeinsamkeit. Der eine hechelte bei dem Versuch zu sprechen (Sven Dorn), die andere schob ein "ch" vor alle gestotterten Wörter (Nicole Polker). Elf Stottervariationen, mal stark mal schwach, mal laut mal leise, mal mit offenen mal mit geschlossenen Augen. Aber alle Abarten, außer die von Paolo, dem wilden Italiener, dauerten ewig lange und hatten am Nachmittag eine zerreißende Unruhe in Tim verursacht. Es war ihm schwergefallen, damit umzugehen, dass er plötzlich nicht mehr der einzige sein sollte, der lange zum Reden brauchte, und gleichfalls hatte er sich damit schwergetan, den Leuten zuzuhören, geschweige denn sie anzusehen. Wie am Morgen noch in die Kaffeetasse, so hatte er nun auf die Bodenfliesen in dem Therapieraum geschaut, die mindestens genauso interessant waren wie das Schwarz in der Kaffeetasse. Immer noch wäre er am liebsten nach Hause gefahren, hätte seine letzte Hoffnung aufgegeben, zumal die Situation sich so dargestellt hatte, dass er bald den anderen kurz (oder lang) von sich hatte erzählen sollen, was ihm großen Kummer beschert hatte. Und während er noch an eine vorzeitige Flucht gedacht hatte, war er auch schon an der Reihe gewesen und hatte bruchstückhaft herausgepreßt, dass er der Tim wäre, und dass er Gitarre spielte und Selbstverteidigung machte.

Außerdem hatten seine Lungen die Information in den Raum geboxt, dass er das Gymnasium besuchte und gerade in die 12. Klasse versetzt worden war.

All das war ihm vergleichsweise so schwergefallen wie einer Frau die Geburt eines Kindes. Es war mal wieder einer von Tims Weltuntergängen gewesen, gut, dass er so viele Welten hatte! Wie sehr anstrengend und quälend das mal wieder gewesen war! Wie sehr Tim während dieser Runde und auch sonst gehofft hatte, endlich einmal die Augen aufzubekommen und den Bauch, die Beine und die Arme entspannen zu können! Die Informationen, die er den anderen mitgeteilt hatte, hatten nach seinem Empfinden mindestens genauso lange gedauert, wie man für das Lesen eines tausendseitigen Buches benötigt. Es war mal wieder eine Höllenfahrt von Buchstaben und Lauten gewesen, die in seinem Kopf hin und her geirrt waren, die aber einfach nicht über seine Lippen hatten gleiten wollen.

Nach zehnminütigem Schwitzen hatte er dann endlich das sagen können, was er hatte sagen wollen.

Erschöpfung.

Verunsicherung.

Aber nach der Vorstellungsrunde war Manuel Hartner zu Tim ins Zimmer gekommen und hatte mit ihm ein Gespräch übers Gitarrespielen angefangen. Manuel hatte 11 Jahre Unterricht gehabt und so wie er erzählt hatte, schien er gut spielen zu können. Sie hatten sich lange über das Gitarrespielen unterhalten und zum ersten Mal an diesem Tag hatte Tim sich der leisen Vorahnung nicht mehr verwehren können, dass es dort in der Therapie vielleicht nicht so schlecht werden würde. Schließlich hatte er nun schon mal jemanden gefunden, der ungefähr in seinem Alter war und auch Gitarre spielte. Wenn da nur nicht dieser fette Kerl gegenüber auf dem Bett gesessen hätte, mit dem er noch gar nichts hatte anfangen können!

Die Sonne hatte noch immer durchs Fenster geschienen.

Mittlerweile schien die Sonne nicht mehr durchs Fenster sondern nur noch der Mond. Alle Fenster waren auf die Seite des Sportplatzes gerichtet, dessen Flutlicht allerdings nachts entweder ausgeschaltet war oder einfach durch die Laterne, die direkt an der Fensterfront stand, überstrahlt wurde. Die Laterne durchflutete das Zimmer von Tim und Sven, und hätten die Fenster keine Vorhänge gehabt, wäre es taghell in allen Zimmern gewesen.

 

Nach einer zehnminütigen Keksorgie öffnete sich plötzlich die Tür, und eine Frau trat herein, die nicht besonders gut gelaunt zu sein schien.

"Ihr schlaft ja immer noch nicht.", sagte sie etwas streng.

"Wir konnten nicht schlafen.", antwortete Sven spontan.

"Dann seht mal zu, dass ihr jetzt schlafen könnt.", befahl die unfreundliche Frau und schlug die Tür wieder zu.

"Unfreundliche Zicke, wer war das überhaupt?", stellte Tim fragend fest, und beide legten sich ins Bett, nicht bevor sie die Laken von den Kekskrümeln befreit hatten.

"Die Nachtwache.", antwortete Sven.

Tim registrierte, dass es wirklich verdammt hell in dem Zimmer war, und als er den Blick zum Fenster richtete, sah er, dass eine Vorhanghälfte nicht vorgezogen war. Er stand auf, um diesen Fehler zu beheben.

"Was machst du denn jetzt?", fragte Sven mürrisch, schon halb schlafend.

"Ich ziehe den Vorhang zu.", antwortete Tim, ausnahmsweise flüssig. "Is’ so hell hier drin."

"Meinetwegen.", brabbelte Sven vor sich hin, während er in seine Traumwelt abdriftete.

Tim legte sich wieder hin, doch er konnte lange noch nicht einschlafen. Er war stark verwirrt, denn er wusste nicht, was ihn in der nächsten Zeit erwarten würde. Was waren das für Leute, mit denen er das nächste halbe Jahr verbringen würde? Konnte man mit ihnen zurechtkommen? Jochen, Manuel und anscheinend nun doch auch Sven schienen ja ganz nett zu sein, soviel hatte er schon mitbekommen. Aber was war mit den anderen? Was trieben die so, wenn sie nicht gerade hier waren? In welchen Kreisen bewegten sie sich?

 

Nur ein paar Zimmer weiter lag Frau Föhrings persönliches PatientInnen-Buch in einem Regal. In diesem führte sie schon seit Jahren Buch über die Patienten, weil sie ihre Mitarbeit in dieser Station sehr ernst nahm und wollte, dass sie sich jederzeit daran erinnern könnte.

Noch heute Nachmittag hatte sie folgende Eingaben getätigt:

 

 

11. Juni. Heute sind die alten Patienten nach Hause gefahren und die neuen gekommen. Ich bin gespannt, was aus denen wird. Ist mal wieder ‚ne bunte Mischung:

 

 

Zimmer 13

 

Magdalena Hartzig. 17 Jahre, kommt aus Köln. Verschüchtert, "Mutterkind", unselbständig. Diverse Krankheiten , bekommt nach Aussage der Mutter hin und wieder mal einen epileptischen Anfall. Daher: aufpassen, dass sie auch ihre Tabletten regelmäßig nimmt!! Hauptschülerin.

 

und

 

Kerstin Lierz. 19 Jahre. Äußerst selbstbewusst. In mehr als guten Verhältnissen aufgewachsen. Bekommt Gesangsunterricht, das heißt, da ist Geld in der Familie! Herkunft: Mainz. Lautes Stottern. Gerade Abitur hinter sich.

 

 

Zimmer 14

 

Claudia Schmidt, 27. Schon mal hiergewesen, vor fünf Jahren. Damals wurde nur an der Akzeptanz zu sich selbst gearbeitet, jetzt soll die stottertechnische Seite nachgeholt werden. Mönchengladbach. Arbeitet als Sekretärin, will bald heiraten.

 

und

 

Nicole Polker, 19. Herkunft: Neuss. Gerade Abitur bestanden. Vater setzt sie unter Druck, weil er auch mal gestottert hat und will, dass die Tochter seinem Werdegang folgt und es wieder los wird... Sie stottert sehr leise, wahrscheinlich mangelndes Selbstbewusstsein.

 

 

Zimmer 15

 

Paolo Maccello. Herkunft: Italien, aber in Deutschland (Solingen) aufgewachsen. 15, dennoch schon ziemlich reif. Sehr temperamentvoll: darauf achten, dass er die etwas Schwächeren nicht herunterbuttert. Fast keine Symp- tomatik, hat aber trotzdem Angst vorm Stottern. Hauptschüler.

 

und

 

Jakob Schlotze, 16, Ost-Berlin. Kein Stottern sondern Poltern. Hyperaktiv, ebenfalls mehr als gut aufgewachsen: überverwöhnt. Aufpassen, dass er sich dadurch nicht zum Außenseiter macht. Hat die Hauptschule fast hinter sich.

 

 

Zimmer 16

 

Tim Habermann, 17. Herkunft: ein kleines Städtchen bei Dortmund (habe ich vorher noch nie gehört, muß ich ihn morgen noch mal fragen). Hat ‚ne ziemlich harte Zeit hinter sich und führt ein recht zerwühltes Innenleben. Darauf achten, dass er den Mut nicht verliert und weitermacht. Ein sehr starker Stotterer. 12. Klasse Gymnasium.

 

und

 

Sven Dorn. Aus Hagen, 17 Jahre alt. Äußerst zuversichtlich, stottert laut und nach vorne. Und ist auch nicht ganz so motiviert wie sein Zimmerkollege. Zusehen, dass die beiden dennoch klarkommen. Demnächst startet er seine Erzieherausbildung.

 

 

Zimmer 17

 

Mark Weila, 18. Kommt mir aber eher vor wie ein Kind. Hat furchtbar große Probleme in allen Lebensbereichen. Es geht im sehr schlecht, sowohl seelisch als auch sprachlich. Er kommt aus Münster. Arbeitslos.

 

und

 

Manuel Hartner, 20, Herkunft: Hannover. Ein ganz netter Kerl mit einer auffallenden Symptomatik. Dennoch zuversichtlich und sehr energisch. Kein Problem. Abitur gemacht.

 

 

Zimmer 18

 

Jörg Schnorrenberg. 32, kommt aus Wuppertal. Karrosseriebauer. Stottert laut, aber nicht immer. Verheiratet.

 

Ende des Eintrags.

 

 

Tim musste an seine alten Freunde denken. Am Wochenende würde er sie wiedersehen, und er würde ihnen erklären müssen, warum er die nächste Zeit nicht in der Schule sein würde und was überhaupt mit ihm los war. Am Freitag vorher war er das letzte mal in der Schule gewesen, und danach war er sang- und klanglos verschwunden. Er konnte ja nicht wissen, dass die meisten seiner Schulkollegen ohnehin schon bescheid wussten. Tim war der Meinung, dass niemand von ihnen davon wusste, mit Ausnahme von Tobias, seinem besten Freund, Jens, einem andern Freund, und Sonja, einer platonischen Freundschaft. Allen anderen wollte er es verschweigen, bis… Wie lange eigentlich? Wie lange würde er den anderen vorenthalten können, dass er eine Sprachtherapie machte, die darauf abzielte - das hatte er in einem Beratungsgespräch mit dem Therapeuten gehört - , offensiv mit dem Stottern umzugehen? Wie würde er seine Ziele verwirklichen können, wenn er das in der Therapie Erlernte nicht in seinem Freundes- und Bekanntenkreis umsetzen könnte?

Diese Fragen machten Tim erneut hellwach. Das war doch ein Widerspruch in sich, offensiv mit dem Stottern umzugehen und den anderen dies nicht verraten zu wollen. Wie sollte er das nur in den Griff bekommen?

Da waren sie wieder, die Gedanken an die anderen. Dieselben Gedanken, die ihn seit Jahren davon abhielten, so zu sein, wie er sein wollte. Was denken die anderen, wenn ich jetzt aufzeige und stottere? Lachen die wohl über mich? Eigentlich waren diese Gedanken der Grund, weshalb es ihm so schlecht ging. Stottern, gut, er stotterte viel, verkrampft, angestrengt. Aber das war eigentlich nicht der Grund dafür, dass er bis vor einigen Wochen in besonders schwachen Momenten mal an Selbstmord gedacht hatte. Der Grund für diese Heldentod-Phantasien waren die Gedanken daran, was die anderen über Tim denken würden.

Es hatte eine gewisse Art von Ironie. Tim dachte darüber nach, was die anderen über ihn dachten, und aus diesem Grunde hielt er sich lieber zurück, und dachte dann darüber nach, was die anderen über ihn dachten, weil er sich zurückhält. Eine äußerst komische Art von Paranoia, deren Auswirkungen allerdings für Tim nicht ganz so komisch waren.

Was Tim zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste, nicht wissen konnte, weil man es ihm bisher einfach verschwiegen hatte, war, dass wenn diese Gedanken an die Gedanken der anderen nicht existiert hätten, sein Stottern um einiges geringer gewesen wäre. Denn die Tatsache, dass Tim sich bereits geistig verkrampfte, ermöglichte kein entspanntes Kommunikationsverhalten.

Das allerdings klingt schon fast zu einfach, denn wenn man jahrelang eine verkrampfte innere Haltung eingeübt hat, kann man diese nicht einfach ablegen. Dazu gehörte Training, und Tim hatte gehört, dass diese Therapie besonders intensiv dieses Training anbot.

Tim bekam es mit der Angst zu tun, als er an das nächste Wochenende dachte, und diese Angst ließ ihn lange nicht einschlafen. Ganz davon abgesehen, dass das Bett reichlich ungemütlich war, und dass er weder Radio hören noch fernsehen konnte. Er konnte noch nicht einmal rauchen, was ihn vielleicht ein wenig entspannt hätte.

Sven schlief schon tief und fest, und immer dann, wenn er einatmete, entstand ein äußerst penetranter Pfeifton, der sich in regelmäßigem Abstand wiederholte.

 

 

 

Man redet über sich

 

 

Svens Funkwecker klingelte, was Tim jedoch nicht weiter beeindruckte. Tim schlief gerne etwas länger, und er hatte die Angewohnheit, so lange im Bett liegen zu bleiben, bis es schon fast zu spät war aufzustehen. Zum einen lag das daran, dass er zur Schule einen Fußweg von fünf Minuten oder wahlweise einer Zigarettenlänge hatte, zum anderen, weil Tims Mutter ihn seit Jahren jeden Morgen weckte und ihn nie hängen ließ. Er wusste ganz genau, dass seine Mutter ihn schon pünktlich wachbekommen würde, und deswegen blieb er liegen, bis sie ihn fast schon anschrie.

 

Vielleicht kam seine bald krankhafte Bettschwere aber auch daher, dass er sich oft genug dem Tag nicht gewachsen fühlte, und im Unterbewusstsein mit dem Gedanken herumspielte, dass er sich diesem nicht stellen müsste, wenn er nur lange genug im Bett liegen bleiben würde. Der Tag war für ihn eine Hürde, keine Freude. Er freute sich nie auf die helle Zeit des Tages, in der man allerlei Dinge zu erledigen hatte. Man musste in die Schule gehen, in die Höhle des Löwen, wo man von potentiellen Feinden umgeben war. Man musste sich ab und zu einen Zahnarzttermin oder dergleichen besorgen, auch da lauerten eine Reihe von Feinden auf ihn. Vielleicht klingelte aber gerade an diesem Tag auch mal das Telefon, wenn die Eltern nicht zu Hause waren, und Tim die Pflicht hatte, den verdammten Hörer abzunehmen. Der Tag war voller Gefahren, die Tim zu verletzen drohten. Schön war es hingegen, abends alleine vor dem Fernseher zu hocken. Dort hatte Tim keine Verpflichtungen mehr, da konnte er endlich entspannen, und sich in Ruhe Gedanken darüber machen, was er doch eigentlich für eine feige Sau war.

 

Sven sprang in Null Komma Nichts aus seinem Bett, riß das Fenster weit auf, und eine klare Morgenluft stürmte in das Zimmer. Er öffnete den Schrank, der links neben der Tür stand, holte sein Duschzeug, ein Handtuch und frische Unterwäsche heraus, und eilte aus dem Zimmer, um sich möglichst schnell unter die Morgendusche zu stellen. Die Tür wurde zugeknallt, das Licht aber brennen gelassen.

Warum macht der Kerl denn das Licht nicht aus? Tim war ein absoluter Morgenmuffel. Wer Tim am Morgen krumm kam, konnte sicher sein, dass Tim mit ihm einen Streit anfangen würde. Und was Tim morgens am meisten haßte, war das Licht im Schlafzimmer, dieses aggressive, unerbittliche, künstliche Licht, das jeden Zwergenaufstand von morgendlicher guter Laune sofort in den Boden stampfte. Aber heute bekam er davon nicht viel mit, denn sofort schlief er wieder ein, bis Sven frisch geduscht in das Zimmer polterte, mit den Worten:

"Aufstehen, ist Viertel nach sieben!!!" Das sagte er keineswegs leise, sondern frecherweise unheimlich laut.

"Ja, ja.", brummelte Tim, der auch Lautstärke am Morgen nicht haben konnte. Sven wusste das wohl nicht, denn er schaltete sein Radio ein, das auf dem Tisch stand. Damit er den Sound auch noch beim Haareföhnen hören konnte, machte er das Radio noch um ein paar Hundert Einheiten lauter, was Tim wirklich extrem mies fand. Itz, itz, itz, itz, itz…- ein Technolied am frühen Morgen war für Tim keine schöne Art aufzuwachen.

Dann fing Sven damit an, Tim irgendwelche Geschichten zu erzählen, und da Tim jetzt sowieso wach war, konnte er Sven auch fragen, wobei er den ersten längeren Stotterblock des Tages genießen durfte, ob Sven jede Nacht so komische Pfeiftöne von sich geben würde.

"Ja, ja.", antwortete Sven. "Meine Nasennebenhöhlen sind chronisch geschwollen, da kommt das schon mal vor, dass man nachts schnarchen muß."

Das kann ja heiter werden, dachte Tim. Nicht nur, dass der Typ am Morgen so einen Krach verursacht, auch nachts läßt er mir keine Ruhe!

Langsam aber sicher bewegte Tim ein Bein nach dem anderen aus seinem Krankenbett, und er kam sich furchtbar alt vor. In seiner Halbschlafphase war es ihm so vorgekommen, als wäre ausgehend von Svens Zeitansage bis zu diesem Moment lediglich eine Minute vergangen, allerdings war es mittlerweile tatsächlich schon 7:40 Uhr, was bedeutete, dass das Frühstück schon seit zehn Minuten auf dem Tisch im Eßzimmer (oder wie auch immer man diesen Raum nennen wollte) stand, und der Kaffee wahrscheinlich schon fast leer war. Der Tag fing wirklich gut an.

"Ich gehe dann schonmal, ja?", tönte es aus Svens Mund.

"Ja, ja. Ich komme auch gleich."

Tim zog sich langsam an. Es war schon praktisch, die Sachen abends einfach auf einen Stuhl zu schmeißen. Dann brauchte man morgens nicht extra zum Kleiderschrank zu rennen, um sie wieder herauszuholen. Er stand von seinem Bett auf, oder besser gesagt, er zog sich aus dem Bett, ging zum Waschbecken hinüber und versuchte, sich mit eiskaltem Wasser endgültig zu wecken, was auch relativ gut gelang.

Frau Kronies hatte an diesem Tag Frühdienst, sie mochte den Frühdienst lieber als alle anderen Schichten. Frau Kronies war eine der vier Frauen, die die Arbeit des Therapeuten, des Oberstotterers, unterstützten und mit einzelnen Patienten das individuelle Therapieprogramm durchsprachen.

Das taten sie seit 11 Kursen, also ungefähr seit sechs Jahren. Außerdem vermittelten sie zwischen dem Therapeuten und den Patienten; sie waren so etwas wie Vertrauenspersonen.

Frau Kronies war in den letzten Wochen sehr krank gewesen und kam nun frisch erholt zum Dienst zurück.

 

Es war schon komisch mit anzusehen, wie die 11 Stotterer an dem großen Eßtisch saßen und, anstatt die anderen nach der Butter oder dem Kaffee zu fragen, selber aufstanden, um sich diese zu holen. Alles in allem war es ein sehr ruhiges Frühstück, was Tim nur begrüßte, denn selbst wenn er kein Stotterer gewesen wäre, das Reden am Morgen wäre auch dann für ihn ein Greuel gewesen. Gespräche am Morgen gehörten Tims Meinung nach verboten. Zwischendurch kam der Therapeut herein.

Der Therapeut, Herr Rawe, war ein relativ junger Mann, der selbst stotterte. Er hatte Sprachheilpädagogik studiert und war sehr kompetent auf seinem Gebiet. In der linken Hand trug er einen Aktenkoffer, in der rechten einen silber-metallic Motorradhelm.

"Morgen!", rief er und war auch schon wieder in dem Mitarbeiterraum verschwunden, in dem sich die ganze Mitarbeiterschaft regelmäßig versammelte, um das Tagesprogramm oder die Behandlung von ganz schweren Fällen durchzusprechen. Zehn Sekunden später kam er wieder heraus, steuerte zielstrebig in die Küche, wo er sich eine Kaffeetasse organisierte. Diese füllte er dann bis zum Rand und lief damit erneut in den Mitarbeiterraum, nicht ohne die Gruppe darüber zu informieren, dass um ungefähr neun Uhr die Therapiearbeit losgehen sollte.

Kurze Zeit später kam die Praktikantin Gabi Hyller hinein. Sie studierte auch so etwas ähnliches wie Herr Rawe, und wollte mal sehen, wie die Praxis der sprachtherapeutischen Arbeit aussah, genau wie all die anderen Praktikanten, die die vergangenen Therapiegruppen über einen gewissen Zeitraum hinweg mitverfolgt hatten.

Gabi grüßte kurz und marschierte durch in den Mitarbeiterraum, wo sie dann alle saßen und sich über die neue Gruppe unterhielten.

 

Um kurz nach acht war das Frühstück beendet, und die Raucherfront, die aus Claudia, Nicole und natürlich Tim bestand, verabschiedete sich zum ersten Mal an diesem Tag für zehn Minuten, um ihre Sucht zu befriedigen. Der größte Wunsch von Tim war in diesem Moment, sich wieder ins Bett legen zu dürfen, um noch ein Stündchen zu schlafen. Oh Mann, war ihm der Morgen immer unangenehm!

Was die anderen jetzt wohl taten? Seine ganzen Kollegen hatten gleich Schule. Philosophie in den ersten beiden Stunden, das war immer recht interessant. Schade nur, dass Tim sich selten mündlich beteiligen konnte, denn dieses Fach wäre wirklich etwas für ihn, dem großen Denker, gewesen.

 

Um neun Uhr ertönte die Stimme des Therapeuten durch den Flur.

"Es geht los!", sagte er und ging schnellen Schrittes in den Therapieraum, und alle folgten ihm, die meisten mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, weil niemand genau wusste, was ihn oder sie nun erwartete. Auch Gabi und eine der Mitarbeiterinnen waren dabei, diese allerdings hatten kein mulmiges Gefühl. Sie waren ja keine Patienten, mussten keine Heldentaten vollbringen, nur arbeiten.

Als sich alle hingesetzt hatten, begann der Therapeut den ersten Arbeitstag

 

"Sie haben sich ja bereits alle kennengelernt, stimmt’s?", fragte der Therapeut. Kräftiges Nicken der Patienten.

"Das Schweigen wird ihnen schon noch vergehen in den nächsten Wochen, da können Sie sicher sein. Aber nun erstmal zum Programm: heute werden wir den ganzen Tag Videoaufnahmen machen. Frau Bittner wird gleich die Videoanlage aufbauen, und dann werde ich einen nach dem anderen vor laufender Kamera über seine – Entschuldigung, wenn ich jetzt nicht ganz geschlechtsneutral rede – derzeitige Lebenssituation befragen. Sie werden sehen, in einigen Jahren werden Sie sich dieses Kurzinterview mit großer Freude anschauen."

Mindestens die Hälfte der Patienten bekam einen ersten Brechreiz. Videoaufnahmen? Die meisten konnten es sich nicht vorstellen, mit ihrem jetzigen Sprachproblem das Auge einer Kamera zu ertragen. Selbst Paolo, der wie gesagt kaum stotterte, sah etwas blasser aus als sonst. Sven, Paolo und auch Jakob Schlotze ertrugen den Gedanken an die Kamera ganz gut, all die anderen dachten aber erneut an eine frühzeitige Abreise. Es war dasselbe Problem wie mit einem Anrufbeantworter. Man möchte einen Freund anrufen, dessen Anrufbeantworter sich stellvertretend meldet. Doch man weiß, wenn man aufs Band oder wahlweise auf den Mikrochip spricht, bleibt diese Stimme dort gefangen. Es ist so, als halte der AB einen Teil von einem gefangen. Ein verdammt unangenehmes Gefühl, besonders für einen Stotterer, der nicht dazu steht, dass er stottert. Man legt also wieder auf und ruft nachher noch einmal an. Ähnlich ist es wie gesagt mit der Videokamera. So lange man in ihrer Gegenwart nicht stottern musste, war das alles kein Problem.

Diese Erwägungen gingen ganz bestimmt nicht bewusst in Tims ohnehin schon überstrapaziertem Kopf vor, denn er war zu dieser Zeit noch nicht in der Lage, objektiv über sein Innenleben zu reflektieren. Das einzige, was er nach der Bekanntgabe des Tagesprogramms bewusst wahrnahm, waren die gleichen Gefühle, die alle anderen um ihn herum hatten.

Angst.

Lähmung.

Unwille.

Aber was sollte er tun?

Kneifen durfte er nicht, denn schließlich würden alle aus dieser Gruppe die Videoaufnahme über sich ergehen lassen. Hier, in dieser Stadt, in diesem Umfeld, wollte er einfach kein Außenseiter sein, zumal jeder hier dasselbe Problem hatte wie Tim. Der gute Engel in Tim versuchte ihm zu sagen, dass er es den anderen zeigen müsse, dass er diese Aufnahme mitmachen sollte. Luzifer sollte heute ausnahmsweise mal schwächer sein.

Außerdem hatte Tim hohen Respekt vor dem Therapeuten, der ja als lebendiges Beispiel diente, da er erfolgreich etwas an seinem Stottern getan hatte. Und er vertraute dem Therapeuten, also konnte es nicht falsch sein, diese Videoaufnahmen zu machen. Trotzdem konnte er den Sinn dieser Aufnahme noch nicht ganz erkennen.

 

Der Therapeut erzählte noch ein paar Minuten, und dann wurden die Utensilien für die Aufzeichnungen aus der Gerätekammer geholt, während die Raucherfront ein zweites oder drittes Mal nach draußen ging, um etwas dafür zu tun, dass ihre Reflexe, ihre Ausdauer und Atemluft auf einem niedrigen Level gehalten wurden.

Es wurde immer noch viel geschwiegen, denn so ganz hatten sich die einzelnen immer noch nicht aneinander gewöhnt. Und positiv wurde diese erste Woche bestimmt von niemandem gesehen. Man vertraute sich noch nicht so richtig, man wusste kaum etwas übereinander und außerdem vermißte man seine Freunde zu Hause. In den nächsten 17 Wochen, das wusste jeder, würde man abends kaum etwas mit den Freunden unternehmen können. Jochen Worrenfeld zum Beispiel war verheiratet, und bestimmt vermißte er seine Frau. Claudia Schmidt freute sich so sehr auf ihre Hochzeit, dass sie momentan absolut keine Lust hatte, ganze sieben Wochen dort zu verbringen, vor allem, weil sie kein besonders gutes Verhältnis zu dem Therapeuten hatte.

Nach einer Viertelstunde, es war ungefähr halb elf (fast schon Zeit für Tim, allmählich fit für den Tag zu werden), fing der erste an, über sich, sein Stottern und einem Teil seines bisherigen Lebens zu erzählen. Alles vor laufender Kamera. In der Zwischenzeit begann Gabi Hyller damit, die einzelnen Leute dazu einzuladen, ihnen vor einem laufenden Diktiergerät Fragen zum Stottern zu stellen, deren Antworten sie dann zu Hause auswerten wollte.

 

Es war nicht Pflicht, jedem einzelnen bei der Videoaufnahme zuzusehen. Tim ertrug es auch nicht die ganze Zeit, den Leuten bei ihren qualvollen Versuchen, sich aus ihren Blocks zu befreien, seine Aufmerksamkeit zu schenken. Ab und zu ging er hinaus, um seine Sucht zu befriedigen, oder um einfach nur die Mittagssonne zu genießen. Der Tag sollte genau so sonnig werden wie der vorige.

Manuels und Svens Rede bekam er dennoch mit, und das, was Sven erzählte, konnte er einfach nicht glauben. Sven sagte tatsächlich, dass der einzige Grund für die Therapie die Erfüllung seines Traumberufes war. Ansonsten wäre ihm sein Stottern wirklich völlig egal. Leidet der Typ nicht unter seinem Stottern? Kennt er nicht die Situation, dafür ausgelacht zu werden?

Tim war stark verwirrt aufgrund dieser offensiven, kämpferischen Haltung, die Sven an den Tag legte. Und somit war Sven Dorn ihm einen sehr weiten Schritt voraus, denn er stand zu seinem Sprachproblem, was Tim zu diesem Zeitpunkt noch nicht konnte. Wie verschieden sich die beiden doch waren. Sven war ein Großstadtskind, Tim ein Dorftrottel, Sven war Hauptschüler, Tim Gymnasiast, Sven machte sich nichts aus seinem Sprachproblem, Tim wollte so nicht weiterleben. Trotzdem, auch wenn die beiden nichts gemeinsam hatten - sie hatten noch nicht einmal ein gleiches Hobby - , hatten sie in der Nacht zuvor eine halbe Tüte Prinzenrolle verzehrt und sich dabei mehr oder weniger gut – wenn auch oberflächlich – unterhalten.

 

Tim suchte sich seine Freunde immer sehr genau aus, deswegen hatte er auch nur eine Hand voll, die jedoch waren wirkliche, echte Freunde, auf die er zählen konnte. Derjenige in seiner Heimatstadt, auf den er in der Zeit der Therapie auf jeden Fall zählen konnte, war Tobias Brander, ein sehr alter Schulfreund, der in diesem Augenblick wahrscheinlich gerade in der Schule saß und alles zweimal mitschrieb, damit Tim immer auf dem neuesten Stand darüber war, was los war in seiner Schule. Tim wollte unbedingt mit seinen Kollegen zusammen das Abitur bestehen, und da er bereits in die 12. Klasse versetzt war, musste er während der Therapie unbedingt Kontakt zur Schule behalten um durchzukommen.

Mit Tobias hatte Tim viele schöne Zeiten verbracht, und er war ein Freund von der Sorte, die man nicht so oft finden konnte. Er war ehrlich zu Tim, auch was sein Stottern anging. Ehrlichkeit fand man wirklich nicht mehr ganz so oft.

Tim schätzte Ehrlichkeit, und vielleicht fing er ja deswegen an, auch Sven zu mögen. Wer sagte schon zu einem Therapeuten, der selber betroffen war und wusste, was Stottern für psychische Probleme hervorrufen konnte, dass ihm der ganze Psycho-Mist total egal war, und dass man diese blöde Therapie eigentlich nur mitmachte, um hinterher für die Kids eine Autoritätsperson darzustellen? ‘Blöde Therapie’ hatte Sven bei der Aufnahme zwar nicht gesagt, aber Herr Rawe hätte das leicht so interpretieren können.

Sven hätte Herrn Rawes Berufsethos verletzen können, was ihm aber egal war. Denn er war ja einfach nur ehrlich, und das fand Tim gut.

 

Es wurde den ganzen verbleibenden Morgen und einen Teil des Nachmittags lang über die einzelnen verworrenen Innenleben gesprochen. Tim kam kurz nach dem Mittagessen, beziehungsweise nach nahezu einer halben Schachtel Zigaretten an die Reihe.

 

"So, Herr Habermann, dann erzählen Sie mal etwas über sich.", sagte der Therapeut, dem man schon ansah, dass er das Gespräch mit Sven gerade nicht so richtig genossen hatte. Es war ja auch wirklich kein Wunder, denn Gleichgültigkeit war hier auf Übereifer gestoßen – was nicht gutgehen konnte.

Es folgte eine zirka zwanzigminütige Unterhaltung, die von langen Pausen unterbrochen wurde. Ein enormer Kraftakt für Tim. Er saß ganz verkrampft auf seinem Stuhl, auf dem schon eine Reihe anderer vor ihm gesessen hatte. An seinem Shirt war ein externes Mikrofon befestigt, das dafür Sorge trug, dass man auch wirklich alles verstehen konnte: jeden einzelnen verzweifelten Atemzug, jedes krampfhafte Gepuste und Gestöhne. Tim mühte sich wirklich ab, dem Therapeuten all das mitzuteilen, was dieser ohnehin schon wusste: Alter, Schulform, Hobbys, Leidensdruck in Bezug aufs Stottern, Lebensqualität, Elternhaus und so weiter. Als Tim - in völlig durchnäßter Kleidung sitzend - sein letztes Wort herausgepreßt hatte und schon im Begriff war, sich mit einer Zigarette zu belohnen, sagte der Therapeut plötzlich:

"Oha!"

"Was ist denn?", fragte Tim.

"Ich habe vergessen, das Mikrofon einzuschalten. Ihre Stimme wurde nicht aufgenommen. Sie müssen mir leider alles noch einmal erzählen."

Tim wurde sauer. Er hatte einfach keine Lust mehr zu reden. Außerdem interessierte es ihn überhaupt nicht, was er gesagt hatte. Er wollte sich das Band nie wieder ansehen. Trotzdem tat er, was der Therapeut wollte. Er holte tief Luft und begann, den ganzen Blödsinn erneut herauszudrücken. Dieselben Fragen, dieselben Antworten. Das einzige, das Tim bei dieser Unterhaltung noch bewusst und energisch von sich gab, war die Aussage, die ihm sowieso schon im Kopf herumschwirrte, seitdem er wusste, dass er bald eine weitere Therapie vor sich hätte:

"Ich habe viele Therapien mitgemacht, die alle nichts geholfen haben. Aber dieses hier, das ist mein letzter, mein allerletzter Versuch. Danach ist Ende."

"Ich kann gut nachvollziehen, dass sie die Nase voll haben.", bestätigte der Therapeut. "Aber ich verspreche ihnen, wir werden gut zusammen arbeiten."

Tim glaubte ihm das. Er hatte bei einem Beratungstag dort, sozusagen bei einem Tag der offenen Tür, ein ähnliches Video gesehen. Der Mann auf diesem Video hatte genauso stark gestottert wie Tim, auf einem anderen Video, das am Ende der Therapie aufgenommen worden war, hatte er aber sehr flüssig gesprochen, und man hatte kaum noch gehört, dass es sich um einen Stotterer handelte. Was Tim damals sehr geängstigt hatte, war allerdings die Tatsache, dass es diesem Menschen zu der Zeit, als Tim das Video gesehen hatte, schon wieder schlechter gegangen war.

Das hatte Günther Rawe damals erzählt, und davor hatte Tim sehr viel Angst. Was nützte ihm das, ein oder zwei Jahre flüssig zu sprechen und hinterher wieder in das alte Problem zurückzufallen? Es nützte ihm gar nichts, glaubte er. Aber er glaubte auch daran, was Herr Rawe über die erfolgreiche Zusammenarbeit gesagt hatte.

Tim war konsequent, ehrgeizig. Wenn er einmal etwas angefangen hatte, brachte er es auch zu Ende. So hatte er auf der Gitarre seines Bruders das Gitarrenspielen erlernt, ohne eine einzige Stunde Unterricht in der Musikschule zu nehmen. Sein Bruder Dirk hatte ihm zum Geburtstag ein Buch geschenkt, in dem einige Grundlagen des Gitarrespielens erklärt waren, und Tim hatte dieses Buch zu seiner ganz privaten Bibel erklärt und jeden Tag darin ein neues Kapitel durchgearbeitet. Am Ende war er zwar kein Gitarrengott geworden, aber er hatte spielen können, und er machte immer noch Fortschritte.

Er hatte viel Zeit und viele gerissene Saiten für die Gitarre seines Bruders geopfert, und irgendwie (auch das war ihm im Grunde bewusst) war das Reden kaum etwas anderes als Gitarrespielen. Die Saiten seiner Gitarre waren zu vergleichen mit seinen Stimmbändern, die unterschiedlichen Töne mit den Bewegungen der Lippen und der Zunge, die Tongebung an sich mit der Handhabung des Luftstroms. Deswegen war Tims Stottern übertrieben gesehen nichts anderes als eine Kombination von durchgeleierten und jahrelang falsch angeschlagenen Saiten einer Gitarre.

Das Ziel der Therapie war, die Saiten wieder zu spannen und die motorischen Abläufe beim Anschlagen der Saiten zu trainieren. Wie gesagt, sehr zeitaufwendig, aber nicht unmöglich. Der Unterschied zu Tims Gitarre war allerdings, dass diese keine Psyche hatte, und deswegen wäre es bei ihr einfacher, sie wieder auf Vordermann zu bekommen. Tim jedoch hatte eine schwarze, enttäuschte und verängstigte Psyche, was die Korrekturarbeit bestimmt nicht einfach machte.

 

Tim trug seine Geschichte zum zweiten Mal vor und verabschiedete sich dann möglichst bald, um endlich wieder seine Ruhe zu haben und die nächste Zigarette zu rauchen. Es war ja auch ein recht hoher Streßfaktor in diesen Tagen, und da konnte man es ihm nicht verübeln, wenn er mehr rauchte als sonst. Auch wenn Zigaretten keineswegs dazu beitrugen, ruhiger zu werden, glaubte er an die heilsame, beruhigende Wirkung, und der Glaube zählte. Bei allem auf dieser Welt.

 

Nach der wohlverdienten Zigarettenpause musste Tim noch zu Gabi Hyller, um ihr bei ihrer Arbeit zu helfen. Auch hier musste er wieder auf ein Band sprechen, aber Tim merkte, dass es ihm nicht mehr so viel ausmachte. Gabi war eine nette Frau, er schätzte sie auf Anfang 20, vielleicht Mitte zwanzig, aber nicht älter. Sie hatte ein hübsches Gesicht und ein sehr vertrauenerweckendes Lächeln. Sie saß dort mit ihrer Kaffeetasse, und Tim fühlte sich, obwohl er sie noch weniger kannte als die anderen in seiner Gruppe, ein bißchen zu Hause in ihrer Gegenwart. Das Gespräch war sehr locker, obwohl Tim kaum ein Wort herausbrachte, ohne stark zu stottern. Aber er brachte die Worte heraus, eins nach dem anderen, und als beide Seiten der 90minütigen Kassette voll waren, hatte Tim Gabi eine Reihe von Geschichten aus seinem Leben erzählt.

"Du und Sven, ihr labert mir meine ganzen Kassetten voll. Ihr habt wirklich bisher am meisten erzählt.", sagte Gabi lächelnd.

In dem Moment hatte Tim einen kurzen Geistesblitz, und ein Funken von seiner kindlichen Sprechfreude überkam ihn. Seine Mutter hatte ihm mal erzählt, dass er als kleines Kind trotz seines Stotterns stundenlang mit einer Euphorie jedem Fremden aus seinem Leben erzählt hatte, dass dieser fast schon die Flucht ergriffen hatte, weil es allmählich dunkel geworden war. Das war natürlich eine Übertriebene Erinnerung an die damalige Zeit gewesen, aber auch Tim konnte sich gut erinnern, dass er mal wesentlich lieber gesprochen hatte als in der letzten Zeit oder in den letzten Jahren. Und diese Sprechfreude war nun für einen kleinen Augenblick zurückgekehrt, hatte Tims Herz für kurze Zeit aus dem dunklen Keller auf die Spitze des Florianturmes in Dortmund katapultiert. In diesem Moment hatte Tim zum ersten Mal seit Jahren wieder das Gefühl, völlig frei durchatmen zu können. Und er genoß dieses Gefühl. Er hätte noch ewig weitererzählen können, aber Gabi sagte, sie hätte noch zwei oder drei andere zu interviewen. Sie bedankte sich herzlich bei Tim für dieses wirklich sehr aufSchlussreiche Interview und schickte ihn hinaus.

 

Am Abend setzte die Gruppe auf Anraten einer der Mitarbeiterinnen eine Tradition in die Welt, nämlich die, jeden Mittwochabend einen Gruppenabend zu veranstalten. An diesen Abenden konnte man allerlei Dinge unternehmen. An diesem Mittwoch ging sie geschlossen in die Stadt, um sich auf einer Kegelbahn auszutoben. Kurz vorher war das letzte Gruppenmitglied eingetroffen. Es hieß Thomas Wunderssen, kam aus Bonn, und man sah es ihm an, dass er entweder Jura studierte oder bald sein Jura-Studium antreten wollte. Er trug ein kleinkariertes Hemd, eine vornehm wirkende Brille und einen feinen, säuberlichen 0815 Haarschnitt, den man wahrscheinlich auch bald bei QVC kaufen konnte. Und Tim lag mit seinem ersten Eindruck absolut nicht falsch, was aber nichts über Thomas Charakter aussagen musste. Der falsche Eindruck, den Tim von Sven anfangs gehabt hatte, hatte Tim gezeigt, wie leicht man sich ein vorschnelles Urteil über unbekannte Menschen bilden konnte. Tim versuchte das zu ändern, indem er sich erstmal gar kein Urteil bildete und neutral feststellte, dass Thomas ein kleinkariertes Jura-Studenten-Hemd trug.

Thomas stotterte nicht so stark, er redete nur unangenehm schnell und verhaspelte sich ähnlich wie Jakob Schlotze.

Das 12er-Gespann machte sich also zusammen mit den Mitarbeiterinnen auf den Weg zu dieser Kegelpinte im Herzen dieser Stadt. Es war ein Amtsviertel. Überall sah man schwarze Nobelkarossen mit rätselhaften Nummernschildern, überall kamen einem schlipstragende Männer mit grauen Bärten oder sehr damenhaft wirkende junge Mädchen, die wohl die Töchter von den schlipstragenden Männern mit den grauen Bärten waren, entgegen. Am Bahnhof lungerten die Quotenobdachlosen, die es in jeder Großstadt gibt, herum. Tim konnte sich vorstellen, dass sie gerade in diesem bonzenhaft wirkenden Städtchen nicht so viel Chancen hatten, viel Geld zusammenzuschnorren.

Der Kegelabend ging immerhin bis elf, obwohl die Minderjährigen so früh ins Bett mussten. Aber sie waren ja in Begleitung einer Erzieherin, also konnte nichts passieren.

Mit Hängen und Würgen erklärte Kerstin Lierz zwischendurch ein neues Kegelspiel. Es war anstrengend, ihr die ganze Zeit zuzuhören. Sie kam wie gesagt aus Mainz, und Mainzerisch war für Tim eine der schlimmsten Arten, die deutsche Sprache zu verunstalten, gleich nach Sächsisch und Schwäbisch. Tim hatte mal jemanden kennengelernt, der aus Stuttgart, also aus dem Schwabenland kam, und er hatte sich oft vorgestellt, wie ekelhaft sich das anhören würde, wenn dieser Mensch auch noch stottern würde. Aber auch bei Kerstin, die fairerweise gar keinen so starken Dialekt sprach, hörte sich die Kombination von starkem Stottern und dem Dialekt nicht besonders attraktiv an.

Sven und Tim kämpften verzweifelt um den letzten Platz an diesem Abend. Zum Schluss war Tim Sven eine Nasenlänge voraus, was Sven aber gut hinnahm. Verlieren konnte er also.

 

Gemeinsam gingen sie zurück in die Klinik, die in der Dunkelheit angsteinflößend leer wirkte. Tim hatte öfters ungewöhnliche Gedanken, die ein wenig mystisch angehaucht waren. Er war eben ein phantasievoller Mensch, und an diesem Abend stellte er sich vor, wie es wäre, wenn er der einzig Normale zwischen Hunderten von Zombies sein würde, die ihn über das ganze Klinikgelände jagen würden… Omas, die eigentlich Hexen waren, Kinderstationen, in denen alles lebte, nur nicht die Kinder, Nachtwächter, die einem auf einmal mit ihren haarigen Händen auf die Schulter klopfen würden...

In der Klinik angekommen gingen zuerst die "Kinder" ins Bett, und auch die "Erwachsenen" begaben sich nach einer halben Stunde in ihre Gemächer. Es war ja doch ein reichlich harter Tag gewesen.

Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Nächten stellte Tim fest, dass es aufgrund der Straßenlaterne fast taghell in diesem Zimmer war. So stand er also, nachdem sie das Licht gelöscht hatten, zum zweiten Male auf und zog den Vorhang peinlich korrekt vors Fenster.

"Was machst du denn jetzt?", fragte Sven genauso wie in der Nacht zuvor.

"Ich ziehe den Vorhang zu.", antwortete Tim. "Is’ so hell hier drin."

"Mach doch was du willst, du empfindliches Landei.", brabbelte Sven auf dem Weg ins Niemandsland des Schlafs.

 

Sven und Tim schliefen recht bald ein, denn der Tag war nicht von schlechten Eltern gewesen. Bevor Tim vollends in das Reich der Träume hineindriftete, spürte er allerdings noch einmal diese alte, längst verloren geglaubte Freude am Sprechen, die er am Nachmittag bei dem Gespräch mit Gabi wiedererleben durfte. Und zum ersten Mal seit Jahren schlief er ein, ohne Angst vor dem nächsten Tag haben zu müssen.

 

 

 

Telefon

 

 

Alle saßen in dem kleinen Versammlungsraum der Mitarbeiter. Sie mussten sich ziemlich drängen, und manche mussten stehen. Zwischen den beiden Fenstern hing ein kleiner Zettel, auf dem alle Namen der Teilnehmer des Kurses 12 mit Namen und Alter vermerkt waren. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes lag das sogenannte Nachtwachenbuch, in dem ebenfalls alle Namen aufgelistet waren, mit den Zusätzen, wann die Patienten ins Bett gehen sollten und auf welche Patienten die Nachtwache am meisten achten sollte. In dieser Gruppe war es Magdalena, die besondere Achtsamkeit benötigte. Denn sie hatte ständig irgendwelche neuen Krankheitsbilder vorzuweisen, die fast unberechenbar waren.

Dicke Aktenordner, Stifte, Stempel, leeres Papier. Dieser Raum war die Schaltzentrale, in der sozusagen entschieden wurde, was der einzelne Patient so zu tun hatte, aber bis auf ein Buch, das im Zimmer lag und ‘Erfolg in der Stotterertherapie’ hieß, hätte ein Unwissender niemals damit gerechnet, dass von hier aus im Jahr ungefähr 20 Stotternden geholfen wurde. Dieser Raum hatte nichts von dem Geruch des Stotterns, nichts von dieser erdrückenden Traurigkeit, die die meisten Behinderten (egal, in welcher Weise sie behindert sind) befällt, wenn sie auf ihre Behinderung aufmerksam gemacht werden. Es war Tim direkt aufgefallen, als er dieses Haus zum ersten Male betreten hatte: das Stottern wurde hier durch Akten und Bücher zu etwas nicht Emotionalem, und das störte ihn.

Wo war die Trostlosigkeit in diesen Räumen? Es konnte doch nicht sein, dass sie ihn als einen unter vielen in einer Akte vermerkten, ohne daneben zu schreiben, wie schlecht es ihm im Moment ging. Sie konnten doch nicht all seine selbstvernichtenden Gedanken außer Acht lassen und einfach so eine Therapie mit ihm durchführen. In der Schule, zu Hause, überall hatte er Gelegenheit, sich selbst an die Probleme, die das Stottern so mit sich führte, zu erinnern. In der Schule zum Beispiel musste er nur die Türklinke des Haupteingangs herunterdrücken und schon wurde ihm klar, er würde heute wieder derbe auf die Schnauze fallen, weil er Geschichtsunterricht hatte und wahrscheinlich das nächste Kapitel referieren müsste. Zu Hause brauchte er nur an dem Telefon vorbeizugehen, und im gleichen Moment verkroch er sich in sein Zimmer und dachte darüber nach, dass das Telefon eine ganz schlechte Sache war. Aber hier in der Klinik hatte es in den letzten Tagen so etwas nicht gegeben. Gleich von Anfang an hatte der Therapeut, zum Beispiel durch die Aufnahme auf das Videoband, Tims Problem verwissenschaftlicht, also mit anderen Worten jahrelange Selbstmitleidsphasen, Gedanken und Wutanfälle in den geistigen Papierkorb geschmissen, um die Festplatte für eine neue, wissenschaftliche Art zu denken freizugeben. Natürlich ist es schwer zu verstehen, aber Tim hatte sich an diese Trostlosigkeit des Stotterns gewöhnt. Er wusste nicht, ob er bereit war, die Welt dieser Trostlosigkeit aufzugeben und in die Welt der Wissenschaft einzusteigen, denn wenn diese Therapie fehlschlagen würde, müsste er zur Trostlosigkeit zurückgehen und sie anflehen, dass sie ihn wieder zu sich aufnahm.

Aber noch war es ja auch noch nicht so weit, dass er sich endgültig von seiner Negativwelt loslösen musste, denn noch hatte Tim im Prinzip keinen einzigen Schritt nach vorne gemacht, und es standen ihm noch einige schwierige - und zu diesem Zeitpunkt noch unlösbare – Aufgaben bevor, und es würde wahrscheinlich noch sehr lange dauern, bis er sein eigenes Stottern vollkommen wissenschaftlich sehen würde.

 

Der Therapeut hatte der Gruppe am Morgen mitgeteilt, dass sie an diesem heutigen Donnerstag einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung gehen würden: sie würden telefonieren!

Fast allen, bis auf Sven, Claudia und vielleicht auch Paolo, machte diese Vorstellung sehr große Angst. Sie sollten telefonieren? Sie sollten die schlimmste Erfindung, die die Menschheit jemals hervorgebracht hatte, benutzen? Sie sollten eine ihrer tiefsten Überzeugungen verneinen, nämlich die, dass sie nicht fähig waren zu telefonieren? Die meisten konnten sich das nicht so richtig vorstellen. Denn in den Köpfen der meisten Gruppenmitglieder hätte man, wenn man diese mal aufgeschraubt hätte, einen übergroßen, neuartigen Tumor gefunden. Der Name des Tumors: "Ichkanndasnicht", oder auch "Ichtudasnicht".

Jetzt saßen sie also in diesem Raum und starrten auf das Telefon in der Mitte das Raumes auf einem sechseckigen Tisch. Das Telefon besaß diese neue Schnellwahlfunktion, das heißt, man musste nur wählen und im gleichen Moment klingelte es dann auch schon.

"Wovor haben Sie beim Telefonieren am meisten Angst?", fragte der Therapeut neugierig, obwohl er natürlich, nach jahrelanger Therapieerfahrung und auch Erfahrung mit sich selbst als Stotterer, genau wusste wovor. Tim wusste nicht so präzise, wovor er am meisten Angst hatte. Er versuchte, sich an einige Mißerfolge mit dem heimischen Telefon zu erinnern.

 

Das Telefon klingelte. Warum klingelte dieses scheiß Ding immer nur dann, wenn die Eltern nicht zu Hause waren? Tim wusste, dass dieses ekelhafte grüne Teil mit den 16 unnützen Knöpfen (er benutzte sie ja sowieso nie) ihn haßte. Es musste ihn hassen, warum sollte es sonst klingeln? Alle Telefone hatten Tim gehaßt, vor allen Dingen dasjenige mit der altmodischen Wahlscheibe, dessen Klingeln man noch nicht leiser schalten konnte.

Das Telefon klingelte, und Tim wusste nicht, was er tun sollte. Sollte er tatsächlich herangehen, und versuchen, seinen Namen zu nennen, während der Mensch am anderen Ende der Leitung entweder in den Hörer lachte oder Tim anmeckerte, er sollte schneller reden? Tim hatte das oft erlebt, und er hatte verständlicherweise auch keine Lust mehr auf dieses Erlebnis. Seit einigen Wochen hatte er einen neuen Weg gefunden, seinem Namen beim Telefonieren aus dem Weg zu gehen. Und zwar gab es ein Wort, das er meistens flüssig herausbringen konnte, und das war das Wort "Ja". Dieses als Frage formuliert hatte ihm in den letzten Wochen einige Mißerfolge erspart, und somit war es für ihn wesentlich leichter, dem Telefonat entgegenzugehen. Er musste einfach nur "Ja?" sagen, und damit war der Anfang des Gesprächs schon gemacht. Meistens wollte man ein Elternteil sprechen, dann konnte er mit einigen Synonymen und Überlegungspausen sagen: "Nein, äh, d, äh, meine E, äh, die sind nicht da." Das hörte sich zwar arg bescheuert an, aber es war immer noch besser, als stottern zu müssen. Ganz schlimm war für Tim, dass er seinen Gesprächspartner nicht sehen konnte, und somit konnte er auch nicht sehen, ob der Gesprächspartner seine Stottern lustig fand oder nicht. Das verunsicherte ihn mehr, als wenn ihm jemand bei einem Stotterblock ins Gesicht lachte. Also versuchte er, besonders am Telefon immer flüssig zu reden. Wie er das tat? Wie schon gesagt, durch Umtauschen der Wörter und durch gelegentliches Einschieben einer Überlegungspause. Man könnte jetzt sagen, das sei doch eine gute Sache, dann müsste ein Stotterer ja nie wieder stottern. Dass diese Überlegung allerdings ein wirklich schwacher Bindfaden ist, sollte Tim aber auch schon im nächsten Moment auf unangenehmste Weise klar werden.

Er nahm all seinen Mut zusammen, hob den Telefonhörer ab und sagte:

"Ja?"

"Ja, hallo? Wer ist denn da?"

Was sollte denn jetzt diese Frage?! Wie konnte der Mann am anderen Ende eine solche Frage stellen? Er hatte doch die Nummer der Familie Habermann gewählt, also musste er doch davon ausgehen, dass ein Habermann drangehen würde. Was sollte Tim denn jetzt tun? Seine Brust zog sich vor Angst zusammen, und er konnte kaum noch atmen. Ein tonnenschwerer Stein drohte ihn zu ersticken.

Das Blut der Angst lief seinen Rücken herab und fand einen Schleichweg durch die Jeans und an den Beinen hinunter. Tim stand dort in dem Wohnungsflur, seine Beine und Hände äfften die eines 100jährigen Opas nach. Leise hörten seine Ohren die Küchenuhr ticken.

Ticktick, ticktick, ticktick.

Sie tickte so unglaublich viele Male, der Sekundenzeiger war bestimmt schon oft vollständig herumgelaufen, hatte die Minuten umkreist wie tanzende Indianer das Feuer.

Und der Typ am anderen Ende wartete immer noch auf eine Antwort. Tim hatte große Lust, einfach den Hörer hinzuschmeißen und dem anderen nicht zu antworten. Aber was hätte er dann davon? Der andere würde noch mal anrufen und wieder fragen, wer am Apparat sei. Hektisch, wie ein gejagtes Tier, sah er sich im Wohnungsflur um. Alles war so beängstigend leer, so erbarmungslos kahl und einsam. Wenn doch Tims Mutter jetzt hier wäre, dann könnte er ihr den Hörer in die Hand drücken und wäre den Mann für alle Ewigkeiten los. Aber sie war nicht hier, sie war einkaufen. Warum war sie gerade jetzt einkaufen? Weil die Welt im Prinzip schlecht war.

Weil der Mann am anderen Ende ihn haßte.

Weil so etwas nur Tim passierte.

Sowieso waren alle Anrufer seine Feinde, denn sie alle lachten ihn aus, zumindest glaubte Tim das. Und weil er das zu wissen glaubte, hatte er auch einen Haß auf diese Leute.

"Wer ist denn da?"

Tim musste irgendetwas sagen, aber er wusste genau, er würde es nicht können. Hoffnungslos holte er tief Luft und stieß sie im gleichen Moment wieder aus. Heraus kam dieses altvertraute, lächerliche Hecheln und Stöhnen, aber keineswegs hörte es sich nach "Tim" an.

"Hallo? So sagen sie doch etwas?!"

Was verdammt sollte er denn jetzt machen? Er schämte sich so sehr, er fühlte sich so klein und dreckig. Ein weiteres Einatmen und Ausstoßen der Luft. Immer noch kein "Tim"! Der Mann wurde sehr ungeduldig.

"Ist dort Habermann?", fragte er nach einer ganzen Zeit. Diese Frage kam gerade rechtzeitig. Jetzt musste er sie nur noch bestätigen.

"Ja.", antwortete er schnell. Ein tolles Wort, dieses ‘Ja’.

"Ist der Vater oder die Mutter da?"

"N, äh, äh..." und so weiter.

"Nein? Kannst du ihnen etwas ausrichten?"

"Ja."

"Sagst du ihnen, sie sollen mich heute Abend noch zurückrufen? Ich heiße Rahlfs, sie wissen schon bescheid."

"Ja."

"Willst du es lieber aufschreiben?"

Hielt der Mann ihn für dumm? Er konnte sich doch wohl diesen einfachen Namen merken!

"Hole dir am besten mal was zu schreiben." Er dachte wirklich, dass Tim sich das nicht merken könnte. Dieser alte Dreckskerl!

"Mmm.", antwortete Tim. Er haßte diesen Mann, auch er war sein Feind. Aber er wusste genau, wer in diesem Moment eigentlich sein richtiger Feind war: er selbst. Er selbst war es schließlich, der noch nicht einmal seinen eigenen Namen sagen konnte. Der noch nicht einmal in der Lage war, anderen mitzuteilen, wer er war, und ob seine Eltern da waren oder nicht. Er war der Hassenswerte.

"Hast du’s aufgeschrieben?"

"Ja.", log Tim.

"Also dann, tschüs." Der Mann legte auf. Tim hörte nichts mehr.

 

Jetzt war er mit sich selbst alleine. Er taumelte benommen ins Wohnzimmer, setzte sich hin, und seine Hände zitterten. Die Uhr tickte immer noch. Schon komisch, wie laut man ein so leises Geräusch hören konnte. Einen Moment später ließ er den Kopf nach hinten fallen, und brach in ein bitterliches Gewinsel aus.

"Warum ich? Warum ich? Warum?", wiederholte er immer wieder. So saß er dort, in sich zusammengesunken und in Selbsthaß aufgehend. Er war damals 15, und er hatte schon länger das Gefühl, dass diese Welt nicht die richtige für ihn war, oder besser gesagt, dass er nicht der richtige für diese Welt war, denn alles schlechte bezog er zumeist auf sich.

Es sah schon komisch aus, wie dieser 15jährige in dem Wohnzimmer saß. Ein junger Mann, der eigentlich noch unbekümmert und optimistisch leben müsste, der noch lange davon entfernt war, den Ernst des Lebens zu erkennen. Aber dieser junge Mann hatte vor einigen Sekunden einmal mehr in seinem Dasein den ernstesten Ernst, den es überhaupt gab, erlebt. Viele Menschen, die vom Ernst des Lebens schwafeln, meinen damit vielleicht die Anstrengung ihrer Arbeit und die Gewißheit, arbeiten zu müssen, damit sie überleben oder sich irgendeinen subjektiv gesehen wichtigen Luxus leisten können. Ohne Zweifel, ernst genug. Dass es aber für einen Heranwachsenden noch wesentlich ernster zugehen kann, davon wollen diese Leute, die ja schon so weise und erfahren sind (und die vor allen Dingen wissen, was der Ernst des Lebens ist und was nicht), meistens nichts hören. Sie tun das als pubertären Kram ab, der schon irgendwann wieder vorbei geht.

Tim weinte sehr lange, womit er seine junge Katze weckte. Diese schüttelte sich einmal kräftig und eilte dann zu ihrem Menschen herüber, um diesen zu trösten.

So wird es zumindest immer in irgendwelchen Tierfilmen interpretiert, die wahrscheinlichere Möglichkeit ist aber wohl die, dass das Tier sich einfach freute, Gesellschaft zu haben und diese Annäherung an einen ihrer ‘Familienmitglieder’ aus purem Eigennutz vollzog. Aber egal, was die Beweggründe für dieses Handeln waren, für Tim machte es keinen Unterschied, und auch er freute sich über die Nähe eines anderen, ihm gut gesonnenen Wesens. Die Katze setzte sich auf seinen Schoß und vergrub ihre Krallen in Tims Wollpulli. Tim legte seine zitternde Hand auf ihren Kopf und war sehr dankbar, dass es dieses Tier gab. Dieses Tier, diese kleine Katze, die andere Leute mit der Tageszeitung verjagt hätten, hatte ihm schon sehr oft das Gefühl gegeben, dass alles doch gar nicht so ganz schlimm war. Es war der Katze egal, wie Tim sich ausdrückte, und sie hatte alle Zeit der Welt, ihm zuzuhören. Sie übte keinen Zeitdruck auf ihn aus, und sie lachte auch nicht über ihn.

Er liebte dieses Tier, und es war, von seinen Eltern und seinem Bruder einmal abgesehen, der einzig wahre Freund auf der für ihn unerträglich beschissenen Welt.

Natürlich darf man nicht vergessen, denn das wäre eine Schande, dass es auch durchaus Momente gab, in denen Tims Welt ihm nicht so schrecklich vorgekommen war. Es war keineswegs so, dass ständig nur negative Gefühle in seinem Kopf herumschwirrten, manchmal war dieser Tumor sogar sehr klein und machte sich wochenlang nicht bemerkbar. Aber heute war er sehr groß, und dann konnte er auch fast schon tödlich sein.

 

"Wovor haben sie am meisten Angst beim Telefonieren?" Diese Frage schwebte in Tims Kopf umher, und er fand keine Antwort auf diese Frage. Wovor hatte er in diesem Telefonat damals am meisten Angst gehabt? Vorm Stottern, ohne Zweifel, aber vorm Stottern hatte er auch in anderen Situationen sehr viel Angst. Was machte das Telefonieren so einzigartig bedrückend? Vielleicht die Tatsache, dass man durch das Telefonieren, bzw. durch die Tatsache, dass es das Telefon gab, nie vollkommen sicher vorm Reden war. Man musste immer darauf gefaßt sein, dass plötzlich das Telefon klingelte, und so konnte man sich nie völlig entspannen. Aber da musste es noch mehr geben, das konnte doch nicht alles sein. Wenn das alles gewesen wäre, wäre nicht jedes Telefonat mit solchen Qualen verbunden gewesen. Ein anderes Ereignis am Telefon fiel ihm ein.

 

Werner anrufen! Werner war Tims Trainingskollege, der ihn Montag und Donnerstag immer zum Training mitnahm, das im Nachbarort stattfand. Werner war schon ein netter Vertreter, Tim mochte ihn sehr. Er war vielleicht Ende 30 oder Anfang 40. Tim war mit 15 Jahren einem Ju-Jutsu-Verein beigetreten, und seitdem fuhr er meistens mit Werner zusammen dorthin. Aber auch hier galt immer die Regel: nie stottern. Tim, egal, was du machst, du darfst nie stottern!, betete er oft in seinem Tumor-Gehirn herunter. Tim sagte damals immer zu seiner Mutter, dass er, wenn er auch nur einmal stottern würde, sofort aus dem Verein austreten würde. Nie hatte jemand aus dem Verein erfahren, dass Tim stotterte, und dabei sollte es auch bleiben. Dass der bisher erfolgreiche Versuch, immer flüssig zu reden, einen enormen Druck auf Tim ausübte, dürfte klar sein, aber Tim bekam diesen Druck nur in der Form mit, dass er immer weniger Lust hatte, zum Training zu gehen, obwohl er große Fortschritte machte und schon kurz vor seiner Orangegurt-Prüfung stand.

An diesem Tag hatte Tim ebenfalls keine Lust, zum Training mitzufahren. Der Vorwand, zu Hause zu bleiben, war damals eine bevorstehende Mathearbeit, aber Tim wusste, er würde diese Arbeit sowieso nicht schaffen. Also hätte er auch mitfahren können. Der einzige Grund nicht mitzufahren war natürlich der, dass diese Maske, die Tim immerhin schon seit zwei Jahren in dem Verein aufsetzte, höchstwahrscheinlich irgendwann nicht mehr so gut funktionieren könnte, und dass irgendjemand aus diesem Verein sein Sprachproblem, seine alte beschissene Behinderung, die ihn noch eines Tages auffressen würde, mitbekommen würde. Aber Tim wollte nicht wahrhaben, dass er davor flüchtete, also schob er es auf diese Mathearbeit, für die zu lernen keinen Zweck hatte.

Jetzt gab es nur ein Problem: er musste Werner anrufen, um ihm zu sagen, dass er Tim heute nicht abzuholen brauchte. Und selber anrufen war noch um einige Einheiten schwerer als den Hörer abzunehmen, wenn das Telefon klingelte. Denn wenn man selber anrief, musste man seinen Namen sagen und konnte nicht nur einfach ‘ja’ sagen. Außerdem hatte man dann einen ganzen Text aufzusagen, denn man wollte ja etwas von demjenigen, den man anrief. So müsste Tim in dieser Situation zum Beispiel sagen: "Hallo, Tim Habermann hier, ist der Werner da?" Das war der erste Satz. Falls Werner nicht da wäre, müsste er sagen: "Können Sie ihm sagen, dass ich heute nicht mitfahre zum Training." Das wäre der zweite Satz. "Ich fahre dann nächste Woche wieder mit." Der dritte Satz. "Danke, tschüs." Der vierte Satz. Insgesamt 26 Möglichkeiten, bei einem Wort nicht weiterzukommen und ein neues Versagenserlebnis hinter sich zu bringen. Dass der Moment des Stotterns allerdings kein Versagenserlebnis war sondern eher ein Schritt in die Selbstakzeptanz, das wusste Tim nicht, und hätte er es damals schon gesagt bekommen, er hätte dem Menschen, der ihm so etwas Abfälliges gesagt hätte, nicht geglaubt.

Tim stand also erneut in dem Wohnungsflur und überlegte krampfhaft, ob er das Telefon aus dem Fenster schmeißen sollte, den Anruf wagen sollte, oder einfach doch mitfahren sollte. Aber was sollte dann aus dieser heiligen Mathearbeit werden? Das ging also nicht. Die erste Möglichkeit war auch nicht realistisch, denn Werner war schon so entgegenkommend und nahm Tim immer mit, und ihn dann einfach zu versetzen, wäre verdammt unhöflich. Also musste er anrufen. Er musste riskieren, bei einem dieser 26 Wörter hängenzubleiben. Was sollte er tun, wenn es tatsächlich so kommen sollte?

Die nasse Hand seines triefenden Körpers faßte den Hörer und führte ihn an das pochende Ohr. Tuuuut. Er wählte die erste Zahl, die zweite, die dritte. Angst, vorzeitige Scham, der Wunsch, einmal flüssig reden zu können, ohne 1000 Umwege zu gehen. Die vierte Zahl, die fünfte. Tuut, tuut, tuut.

"Stark?" Tim erschrak. Da war wirklich Werners Frau am anderen Ende, und sie wartete darauf, dass irgendjemand irgendetwas sagte. Aber, was ein Zufall, Tim konnte nichts sagen, denn seine Stimmbänder existierten in dem Moment nicht mehr. Die Angst, die sich schon den ganzen Tag in ihm aufgebaut hatte (vor diesem einen lächerlichen Telefongespräch mit einer erwachsenen Person, die wahrscheinlich gar nicht negativ reagieren würde), hatte sich in eine imaginäre Schere verwandelt, die mal eben schnell Tims Stimmbänder in der Mitte durchgetrennt hatte. Tim konnte nichts mehr sagen. Er hechelte in gewohnte Manier wie ein Geisteskranker in diesen scheiß Telefonhörer. Sein Körper bog sich mal nach vorn, mal nach hinten, seine andere Hand griff in die Luft, als wollte sie eine Fliege fangen. Sein Füße übten ein paar Tanzschritte, sein Brustkorb wurde mal größer, mal kleiner. Alles in allem ein eher peinliches, aber arg mitleiderregendes Bild. Noch einmal: was ursprünglich mal ein Stottern gewesen war, war jetzt, anderthalb Jahrzehnte später, eine Reaktion auf das Stottern, die man eher mit spastischen Lähmungen vergleichen konnte, als dass man es als Laie als Stottern identifiziert hätte.

"Hallo?" Werners Frau konnte niemanden hören, daher fragte sie, was verständlich war, ob überhaupt jemand am anderen Ende wäre.

"Hallo?" Tim wurde schwarz vor Augen, und dann tat er etwas, was er schon längst hätte tun sollen: er legte auf. Die Leitung war tot. Er musste nicht mehr stottern. Dafür fühlte er sich jetzt um so mehr als Versager, denn er hatte sein Ziel nicht erreicht. Mal wieder nicht erreicht. Und er hatte wieder dieses Gefühl, dass es an ihm lag, dass er nichts auf die Reihe bekam, dass er wahrscheinlich ewig ein armes, behindertes, kleines Arschloch bliebe und nie irgendeine Chance im Leben erhielt.

In diesem verfluchten Leben.

Tränen, die den wahren Ernst des Lebens verrieten, quollen aus seinen erstarrten Augen, und sie waren schwerer und damit schneller als der Schweiß auf Tims Rücken.

Da schloß seine Mutter die Wohnungstür auf - sie war wieder Einkaufen gewesen und erblickte ihren armen Sohn, um den sie sich sehr sorgte. Wie er dort stand und weinte! Das konnte nichts Gutes heißen. Noch ehe sie ihn fragen konnte, was denn überhaupt los sei, überfiel Tim sie schon mit diesem Versagenserlebnis.

 

"Kannst du nicht bei Werner anrufen und ihm sagen, dass ich krank sei und du mich abmelden wolltest?", brachte Tim schluchzend und langsam hervor. Und da Tims Mutter so unendlich viel Mitleid mit ihrem jüngsten Sohn hatte und ihn so gut es ging beschützen und ihm helfen wollte, erfüllte sie ihm den Wunsch und meldete ihn bei Werner ab. Wieder einmal hatte sie ihm einen riesengroßen Stein von der Brust genommen, und er war ihr damals sehr dankbar gewesen.

 

Also noch einmal die Frage: "Wovor haben sie beim Telefonieren am meisten Angst?" Was war der Grund, weshalb er den Hörer aufgelegt hatte? Tim konnte es nicht wissen, denn dieser Grund war so eine Art Lebenserkenntnis, bestehend aus mehreren Nebengründen, die er vielleicht eines Tages einmal richtig begreifen würde. Aber einer der tiefsten Gründe war wohl, wie in allen anderen Lebensbereichen, denen Tim regelmäßig ausgesetzt war und vor denen er Angst hatte, dass der Gesprächspartner Tims Angst bestätigte. Doch das bedeutete eine Sackgasse, denn wenn man Angst davor hat, dass eine andere Angst bestätigt wird, dann handelt es sich eine Endlosschleife, die sich immer wieder von selber aufruft und zwar ohne, dass der Gesprächspartner von außen mitwirkt. Tim hatte Angst davor, dass sein Selbsthaß, den er sich aufgebaut hatte, von anderen bekräftigt würde, indem sie entweder auflegten, ihn anschnauzten oder ihn auslachten. Weil er diese Angst hatte, hatte er auch Angst davor, dass die Angst vor seiner Versageridentifikation berechtigt war.

Am Anfang, sozusagen am Tag Null, hatte das damals noch geringe Stotterproblem gestanden und darauf gewartet, bemerkt zu werden. Die Angst war dazugekommen, die sich dann irgendwie und irgendwann dupliziert und eines Tages eine Eigendynamik entwickelt hatte, die Tim fast in den Wahnsinn getrieben hätte.

Ähnlich wie in dieser einen Geschichte, in der jemand den jungen, noch nicht besonders routinierten, Vogel fragte, wieso er fliegen konnte, und dieser von nun an darüber nachdachte und es irgendwann dann nicht mehr konnte, hatte sich in Tims Psyche die Grundweisheit breitgemacht, dass er nicht vernünftig sprechen konnte. Dazu waren noch einige Schlüsselerlebnisse gekommen, die diese Auffassung noch verstärkt hatten:

Er hatte als kleines Schulkind nie beim Fangen mitmachen dürfen, beim Fußball hatte er immer im Tor stehen müssen. Der Name Klassenclown war ihm früh geläufig gewesen. Alles nur, weil er langsamer gesprochen hatte.

Das erste Mädchen, in das Tim sich verliebt hatte (am Ende der sechsten Klasse auf dem Gymnasium), hatte irgendwann zu ihm gesagt, sie wollte mit Behinderten nichts zu tun haben. Das war Tim durchaus noch bewusst. Und er wusste auch, dass er nicht Schuld war an dieser ganzen Geschichte sondern dass ihn die anderen in sein Versagen hineinmanövriert hatten.

 

Doch Tim lebte jetzt, in seinem Dasein als Jugendlicher, und er musste in der Gegenwart etwas gegen seine Angst tun und nicht in der Vergangenheit. Also zurück zur Frage: "Wovor haben sie beim Telefonieren am meisten Angst?"

 

Irgendjemand aus der Gruppe beantwortete schließlich die Frage, die der Therapeut vor ungefähr fünf Minuten gestellt hatte:

"Davor, dass jemand auflegt."

"Gut.", sagte der Therapeut auf eine sehr coole Art und Weise. Und noch cooler nahm er den Telefonhörer in die Hand und sagte mit der entschlossensten Miene, die man sich überhaupt vorstellen kann:

"Dann bringen wir die Menschen mal dazu aufzulegen."

Er ließ den Zeigefinger seiner freien Hand über eine Seite der Gelben Seiten gleiten, blieb irgendwann stehen und wählte die Nummer, auf der sein Finger zeigte.

Totenstill war es in dem Raum, selbst die Mitarbeiterinnen, die sowas schon oft miterlebt hatten, und auch Gabi hielten den Atem an. Nach ein paar Sekunden hob jemand ab, und der Therapeut sagte:

"Gugugugugugugugugugugugugugugugugugugugugugugugugugugugugugugu..." Das sagte er ungefähr drei Minuten lang. Er saß da ganz lässig in seinem Chefsessel und hatte wirklich die Absicht, den anderen zum Auflegen zu bringen. Aber der andere legte wohl nicht auf sondern wartete vergeblich darauf, dass der Therapeut voran kam. Als der Therapeut das "Guten Tag" gesagt hatte, machte er noch bei einigen Wörtern so weiter und nach ungefähr 10 Minuten hatte er folgenden Satz zum Besten gegeben: "Guten Tag, Rawe hier, wie lange haben sie heute geöffnet?" Kurze Pause, dann:

"Dadadadadadadadadadadada..." Eine Ewigkeit. "Danke, tschüs."

In dem Raum waren an diesem Tag ungefähr 15 Leute, und 14 von ihnen waren baff. Wie konnte dieser Mann in so einer Seelenruhe so lange an einem Wort hängenbleiben, ohne irgendein Anzeichen von Scham zu zeigen? Der Therapeut hatte sich nicht geschämt, und er kannte ja auch (und das schon seit über 30 Jahren) die gefährlichen Situationen im Leben eines Stotterers. Er war ja noch immer einer von ihnen, da kam es den anderen, denen schon beim bloßen Zuhören schlecht wurde, sehr komisch vor, dass er kein einziges Mal die Kontrolle über sich verlor oder nervös am Telefonkabel spielte. In diesem Moment wirkte dieser Mann sehr überlegen und souverän, wie eine Art Übermensch. Restlos alle in diesem Raum wünschten sich, genauso selbstsicher auftreten zu können wie er.

"Ja.", sagte er, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, "Das war doch gar nicht so schlimm. Und jetzt teilen wir uns in drei Gruppen auf, und jeder von ihnen wird heute ganz viele Telefonate in dieser Form führen, wenn auch mit einer anderen Art zu stottern."

Dieser Ausspruch des Therapeuten klang dermaßen endgültig und bestimmt, dass Tim zuerst gar nicht daran dachte, dass er eigentlich keine Lust hatte, die Leute zum Auflegen zu bringen. Noch immer war er so beeindruckt von der Selbstsicherheit des Therapeuten, es kam ihm einfach noch nicht in den Sinn, dass er selbst nicht im geringsten so selbstsicher war wie sein Vorbild.

"Am besten machen wir das so, dass diejenigen, die am meisten Angst vor dem Telefonieren haben, mit mir zusammen eine Gruppe bilden. Die anderen gehen mit den Mitarbeiterinnen mit. Wer von ihnen hat wirklich richtig extreme Angst?"

Jochen Worrenfeld, Mark Weila und Tim meldeten sich zaghaft, und somit war diese erste Gruppe gebildet. Die drei gingen mit Herrn Rawe zusammen hoch in den zweiten Stock, in dem Herr Rawe ein kleines Arbeitszimmer hatte. Der Therapeut schloß die Tür auf, und als erstes bemerkte Tim, dass immer noch die gleiche Tischdecke auf dem Tisch lag, die dort schon vor einem halben Jahr bei dem Beratungsgespräch für Farbe in dem sonst unpersönlich eingerichtetem Zimmer gesorgt hatte. Auf dem Waschbecken in der linken Ecke des Zimmers standen mehrere Kaffeetassen, die der Therapeut dort anscheinend zu horten pflegte. Der nächste Blickfang für Tim war das Telefon auf dem Tisch, überall standen Telefone, wie konnte Herr Rawe diese ständige Bedrohung nur aushalten?.

Das Telefon stand da ganz scheinheilig in der Gegend herum, aber Tim kam es so vor, als grinste es ihn an. Komm doch her, Kleiner, dann erlebst du wieder, was versagen heißt. Und plötzlich fiel Tim wieder ein, dass das einfach nicht ging mit dem Telefonieren. Er konnte es nicht, er würde es niemals können, und der Tumor würde immer größer werden. Er würde sich wehren gegen diese Therapiemaßnahme, er würde mal wieder weglaufen. War es denn so verdammt schlimm, ein Feigling zu sein? War denn nicht jeder in einigen Lebenssituationen ein Feigling?

Es ging einfach nicht, er konnte nicht telefonieren. Nervös sah er sich zu seinen Leidensgenossen um, und auch sie wirkten nicht gerade überzeugt von dem, was sie gleich tun sollten. Tim erschien es so, als könnte er mit ihnen geistigen Kontakt aufnehmen. Lasst uns doch einfach wieder herausgehen. Lasst uns diesen wunderschönen Sommer genießen und unseren Sorgen entfliehen. Wollen wir gehen? Aber anscheinend hatte er doch keine Gedankenübertragung fertiggebracht, denn auf die Bitte des Therapeuten setzten sie sich hin, um das Telefon, dieses gemeine, hinterhältige Ding. Was sollte Tim denn jetzt tun? Er konnte doch nicht als einziger den Raum und somit auch die Therapie verlassen. Das ist doch ein ganz mieser Gruppenzwang hier, verdammt noch mal.

Ein oft zitierter Satz fiel ihm plötzlich ein: Wenn Jochen und Mark von einer Brücke springen, springst du auch hinterher oder was? Und es sah ganz so aus, als würde er hinterherspringen, wenn er sich auch an diesen Tisch setzte. Wohin würde er springen? In den Tod? Ins Verderben? In die Ewige Bekenntnis seines Versagerdaseins?

Doch schließlich beugte er sich doch diesem Gruppenzwang, denn in der Gruppe zu versagen, war noch schlimmer als am Telefon. Er wollte einfach nicht der Außenseiter der Gruppe sein. Wenn er bisher in seinem Leben auch immer ein Außenseiterrolle eingenommen hatte, heute wollte er das nicht.

Nicht jetzt und nicht hier.

Auch er setzte sich hin, aber wohl war ihm dabei bestimmt nicht. Ihm kam es vor, als sei er ein Einbeiniger, der fünf Minuten vor seinem ersten Profispiel bei Borussia Dortmund in der Umkleidekabine darüber nachdachte, wie die Hooligans in der Südtribüne wohl reagieren würden, wenn sie dem neuen Mittelstürmer dabei zusehen würden, wie er sich bei dem Versuch zu rennen aufs Maul legen würde.

"So.", sagte der Therapeut in einem spannenden Tonfall, "dann fangen wir mal an." Dabei holte er die Gelben Seiten, die in diesem Haus bestimmt 300mal zu finden waren, aus dem Regal, schlug irgendeine Seite auf und suchte wie vorhin eine passende Telefonnummer.

"Wer möchte anfangen?"

"Ich möchte anfangen.", sagte - oder flüsterte - Mark Weila schwer hörbar. Mark Weila war bestimmt der ärmste Mensch, den man sich überhaupt vorstellen konnte, und selbst Tims Sorgen waren gegen die seinigen nichts. Er konnte einem wirklich leid tun mit seiner Familie, seinem Stottern und seiner Seele, und Tim war sich sicher, dass Mark garantiert noch mehr Angst vor dem ersten Schritt nach vorne hatte als Tim.

Tim war sich sicher, dass Mark, wenn sich nicht grundlegend etwas ändern würde, eines Tages das tun würde, woran Tim vor der Therapie so oft gedacht hatte: Ende machen.

Der Therapeut drückte ihm das Telefon in die Hand, und Mark nahm es zitternd entgegen. Er traute sich nicht, irgendjemanden anzuschauen, sein bleiches Gesicht war auf den Tisch gerichtet.

"Herr Weila, sie wissen, was sie zu tun haben?", fragte Herr Rawe.

"Nein?"

"Sie wählen gleich die Nummer, die ich ihnen vorlesen werde, und dann werden sie möglichst lange an dem einen Satz stottern, den ich auch vorhin sagte."

"Wie, äh, wie, äh, wie, äh, war denn dieser Satz noch mal?"

"Das wissen sie doch bestimmt noch, oder nicht?"

"Nein.", log Mark.

"Also, der Satz hieß: ‘Wie lange haben sie heute geöffnet?"

"Ach so."

"Sind sie bereit?"

"Äh, ja."

"Also dann: 7-0-3-2-5-4-3."

Mark wählte jede Nummer, als sei sie ein weiterer Nagel, den er in seinen eigenen Sarg hämmerte.

Und plötzlich verdunkelte sich sein Gesichtsausdruck, als am anderen Ende jemand heranging. Wieder hatte Tim das Gefühl, als könne er Mark Gedanken lesen, die besagten, dass er es sich mit dem Telefonieren doch noch anders überlegt hatte. Und diesmal hatte Tim anscheinend tatsächlich richtig geraten, denn nichts, absolut nichts drang aus Mark Mund. Er riß seine Lippen auseinander, atmete wie ein Blasebalg, aber all das half ihm nicht weiter. Tim war sehr, sehr aufgeregt, und am liebsten hätte er stellvertretend für Mark auf den schwarzen Hebel gedrückt, auf den man sonst den Telefonhörer legt. Nach ungefähr einer Minute Schweigen hatte Marks ‘Gesprächspartner’ aufgelegt, und Mark war den Tränen nahe. Aber als sei die Welt gerade nicht unter sondern aufgegangen, fing der Therapeut auf einmal an, applaudierend auf den Tisch zu klopfen. Jochen stimmte mit ein, und was blieb dem armen, vom Gruppenzwang gestraften, Tim anders übrig, als auch zu gratulieren? Mark verstand natürlich die Welt nicht mehr, aber, so schien es wenigstens, er freute sich doch über den Applaus der anderen. Es war nicht mehr so schlimm für ihn, das der andere aufgelegt hatte, denn endlich waren Leute da, die ihm mal zu etwas gratulierten. Nie hatte sein Vater sich um ihn gekümmert und wenn, dann nur im negativen Sinne. Seine Mutter war ausgerissen und seine Stiefmutter eine intolerante Hexe. Freunde hatte er gar keine (außer seinem Computer und seinem Videorecorder), da war es doch eine Erfüllung für ihn, dass man ihn einmal für etwas mochte. Für einen kurzen Moment drang Farbe in Mark Vampirgesicht, und er zeigte zum ersten Mal seine gelben Zähne. Er war glücklich, das konnte man deutlich sehen.

"Herzlichen Glückwunsch, Herr Weila.", sagte der Therapeut. "Sie haben es geschafft, diese Situation länger auszuhalten als ihr Gesprächspartner und auch, wenn sie nichts gesagt haben, sie haben nicht gekniffen. Genau darauf kommt es an. Auf ein neues."

Mark telefonierte bestimmt noch fünf mal, aber langsam brachte er immer mehr Worte heraus. Und zum Schluss konnte er diesen Satz sagen, ohne dass jemand auflegte.

Jochen brauchte nicht so lange, um am Telefon klarzukommen, denn er hatte schließlich schon vorher einige Telefonate geführt. Diese hatten ihm zwar auch Angst eingejagt, aber er hatte schon mal einen Telefonhörer in der Hand gehalten. Im Gegensatz zu Mark. Auch Jochen wurde heftigst beglückwünscht.

Dann kam Tim an die Reihe. Er hatte gesehen, dass es funktionierte, selbst wenn es lange dauerte. Er musste jetzt einfach nachziehen, um abends, wenn die Heldentaten des Tages besprochen wurden, nicht im Abseits zu stehen. Also lief er mit seinem einen Bein auf den Rasen des Westfalenstadions, schmiß seine Krücke über den Zaun der Südtribüne und fing an zu rennen. Das heißt, er wollte rennen, aber rein biologisch gesehen ist es verdammt schwer, mit nur einem Bein zu rennen.

"Hallo?", sagte sein Gesprächspartner, und plötzlich fiel Tim die Situation mit Werners Frau damals ein. Wieder erschien es ihm, als hätte man ihm seine Stimmbänder herausgeschnitten.

"Wer ist denn da?" Tim fing an zu zittern, und hätte er sich nicht an die unausgesprochenen Regeln der Gruppe zu halten gehabt, hätte er vor Scham und Angst sofort aufgelegt. Aber das ging ja jetzt nicht. Und da das nicht ging, musste er da durch, und als ihm das klar wurde, wurde er plötzlich sehr mutig. Die reine Tatsache, dass er einfach gezwungen war zu reden, verhalf ihm zu unerwarteter Kraft und innerer Ruhe. Fast spielend sagte er nun: "Hier ist Tim Habermann, wie lange haben sie heute geöffnet?" Er bekam eine sehr unhöfliche Antwort, aber diese interessierte ihn nicht im geringsten. Er legte auf und verstand die Welt nicht mehr. Jahrelang hatte er sich geweigert, am Telefon zu stottern, und plötzlich, da man es von ihm verlangte, tat er es einfach. Er hatte sich noch nicht einmal geschämt. Was sollte er denn jetzt von sich selber halten?

Den ganzen Nachmittag telefonierten die drei noch, und es fing sogar an, ihnen Spaß zu machen. Verrückte Welt! Manchmal braucht man eben jemanden, der einem in den Hintern tritt,dachte Günther Rawe, dem dieser erste Schritt seiner Patienten immer am meisten Spaß machte.

Als Tim in der Nacht danach in seinem Bett lag, hatte er das stolze Gefühl, ein Held zu sein, obwohl er genau wusste, dass er diesen Schritt niemals ohne den Arschtritt des Therapeuten gewagt hätte. Aber er hatte es getan, und vielleicht – könnte ja sein – würde er sich das bald auch alleine zu Hause trauen.

 

 

 

Das erste Wochenende

 

 

Seine Stimmung war schon sehr komisch, als sein Zug an diesem Wochenende den Heimatbahnhof anlief. Es war ein Samstagmorgen, gegen halb zehn. Gegen sechs Uhr war Tim aufgestanden, und fast alle waren schon längst auf dem Weg zum Hauptbahnhof gewesen. Auch er war schnurstracks in die gleiche Richtung geeilt, denn er hatte so schnell wie möglich nach Hause gewollt.

Ein Ziel galt es an diesem Wochenende zu erreichen: seinen Leuten zu erklären, wieso Tim in der nächsten Zeit nicht in der Schule sein würde. Mit anderen Worten: dass Tim stotterte. Am Freitag war eine Liste erstellt worden, mit den Namen derjenigen, die wichtig in Tims Leben waren, und die unbedingt von seinem Sprechproblem erfahren sollten. Nach und nach sollte diese Liste dann abgehakt werden. Die stolze Anzahl von ungefähr zwanzig Leuten war auf Tims Liste vermerkt.

Natürlich war es das gleiche Prinzip wie bei der Beseitigung der Telefon-Phobie: ich tue das, was ich im nüchternen Zustand und bei klarem Kopf nie tun würde. Warum tue ich das? Weil die Angst der Weg ist, deswegen. Auch hier stellte sich für Tim wieder die Frage, was denn so schlimm daran war, seinen Leuten zu Hause zu zeigen, dass er stotterte. Er war allerdings noch nicht so weit, diese Frage eindeutig zu beantworten, er wusste nur, dass er Angst davor hatte.

Die Ich-Spreche-Flüssig - Maske und der Ich-kann-das-nicht - Tumor, das waren die beiden Hemmfaktoren in Tims Leben. Aber zu der Zeit kam es Tim noch immer so vor, als sei Tims Leben an sich der einzige Hemmfaktor für Tims Leben.

Er hatte am nächsten Montag einige gewichtige Ergebnisse vorzulegen, denn sonst würde der Therapeut ihm sagen, dass die Therapie so keinen Sinn hätte. Das letzte, was Tim riskieren wollte, war ein Rausschmiß aus dieser Therapie, die ihm ein neues Leben versprach. Deswegen musste er allen Leuten seine härtesten Stotterblocks vor die Nase setzen.

Da wären Jürgen, Kathi, Sonja, Anna, Frank, Niko, Lars, Justin, Volker, Dominik, und so weiter. Die meisten kannten ihn eben nur als einen Flüssigsprechenden. Und wenn sie ihn mal stotternd erlebt hatten, dann war das meistens in der Schule, und eigentlich alle legten das als Angst oder Respekt vor den Lehrern aus, nicht als wirkliche Behinderung.

Eigentlich hatte es in den letzten Jahren nur zwei wirkliche Freunde gegeben, in deren Gegenwart es Tim nie etwas ausgemacht hatte zu stottern. Der eine, Jens, war in einen anderen Freundeskreis abgedriftet, und die zwei hatten nur noch ab und zu Kontakt. Der andere, Tobias, hatte zwar damals auch nicht so richtig gewußt, wie er mit Tim und seinem Stottern hatte umgehen sollen, aber Verständnis hatte er immer gehabt, und die zwei waren ein gutes Gespann. Bei allen anderen konnte Tim nie an etwas anderes denken als daran, nicht ertappt zu werden.

Aber was wäre ihm denn passiert, wenn sie ihn beim Stottern erwischt hätten? Vielleicht hätten sie gelacht. Warum war dieser fast erwachsene Mensch nicht in der Lage, mit dem Lachen der anderen umzugehen? Es war wirklich immer dieselbe Frage, nämlich die Frage nach der Begründung für Tims Verhalten.

Man musste sich Tim nur ansehen: er war jung, hatte einen schlanken, gesunden Körper, genügend Energie, um regelmäßig Sport zu treiben, genügend Freunde, um nicht zu vereinsamen, und genügend Grips, um spielerisch sein Abitur zu schaffen. Aber all das sah er einfach nicht. Er sah nur den einzigen Fehler an seinem Körper und die Angst, die damit verbunden war. Also schloß er sich des öfteren zu Hause ein, ließ seinen Körper verkommen, indem er aus Angst vor einer Blamage nicht mehr zum Training ging, ließ seinen Freundeskreis verkommen, indem er immer sagte ‘ich habe heute keine Lust’, ließ seinen Grips verkommen, indem er in der Schule falsche Antworten gab, um nicht stottern zu müssen oder indem er es sich selbst verbot, sich zu weit in ein Thema hereinzudenken, um nicht auf Thesen oder Fragen zu stoßen, die er einfach hätte anbringen müssen. Die Qual war für ihn verdammt groß, aber dennoch nicht groß genug für die so oft angedachte Möglichkeit des Heldentodes.

 

Er hatte also an diesem Wochenende sehr viel zu tun, und das waren keine unnützen Matheaufaben, es handelte sich hier um die Verbesserung seiner Lebensqualität, um die Verbesserung seines gesamten Lebens. Und wo ging es am einfachsten und schnellsten, seinen Leuten von seiner neuen Identität zu berichten? Natürlich dort, wo all seine Leute zusammen waren, und das waren die allwöchentlichen Parties, die die Jugend von damals nunmal so feierte.

Und wie es der Zufall so wollte, feierte genau an diesem Tag ein Mädchen namens Anna ihren 18. Geburtstag. Sie wohnte etwas außerhalb in einem Bauernhaus, und Tim wusste, dass die ganze Gruppe abends mit dem Fahrrad dorthin fahren würde.

 

 

Aber erstmal stand er ja nun an dem Heimatbahnhof und wartete darauf, dass ein Elternteil ihn abholte. Er steckte sich eine Zigarette in den Mund und überlegte, was er ihnen erzählen sollte, wenn sie ihn fragen würden, was er in dieser Woche so erreicht hätte. Die Sache mit dem Telefon, das war doch etwas Normales für ‘normale’ Leute. Sollte er ihnen wirklich stolz berichten, dass er telefoniert hätte? Aber andererseits hatte er ja auch wirklich noch nichts anderes erreicht. Vielleicht waren sie ja auch stolz auf ihn, dass er diesen Schritt gewagt hatte.

Ein Auto fuhr vor, es war dieser graue Ford Fiesta, das Familienauto. Sein Vater saß hinter dem Steuer, und Tim wusste genau, dass sein Vater derjenige war, der sich am meisten eine sprachliche Verbesserung seines Sohnes wünschte. Als ein älter gewordener Stotterer kannte er genau die inneren Qualen im Leben eines Stotterers, auch wenn er sie mittlerweile kaum noch durchzustehen hatte und nur ganz selten darüber sprach. Der Wagen hielt, und Tim öffnete die Beifahrertür. Er trat die Kippe draußen aus und nahm auf dem Beifahrersitz platz. Dann schloß er die Tür und richtete seinen Blick nach links zu seinem Vater.

"Hallo, Junge.", sagte sein Vater, sichtlich zufrieden damit, seinen Sohn wiederzusehen.

Tim versuchte, das ‘Hallo’ zu erwidern, aber es dauerte eine ganze Zeit, bis es ihm endlich gelang.

"Wie geht es dir?"

Tim schaute aus der Frontscheibe heraus auf die Straße, die ihm nur allzu bekannt war. Es gab in dieser Stadt ungefähr fünf Straßen, auf denen man 50 km/h fahren durfte, alle anderen gehörten zu verkehrsberuhigten Zonen. Eine der schnelleren Straßen führte direkt zum Bahnhof und in die andere Richtung zu dem sechs Familien-Haus, in dem die Familie Habermann wohnte.

"Ganz gut.", brachte er nach einigen Sekunden heraus. Er wusste nicht, was sein Vater von ihm nach diesen ersten Tagen erwartete, und ob er überhaupt irgendetwas erwartete. Ein beklemmendes Gefühl nahm ihm alle Freude an der Rückkehr nach Hause. Er hatte an diesem Vormittag vergessen, dass er in der letzten Woche mehr Erfolge erzielt hatte als in all den verschwendeten Jahren seiner früheren Therapien.

Und das waren eine Menge Therapien gewesen: lange Jahre hatte er in irgendwelchen Logopädenpraxen versucht, mit Kaugummis im Mund zu reden oder Federn durch die Luft zu blasen, um die richtige Atmung zu lernen. Sechs Jahre lang hatte er einmal im Monat zwei Stunden lang einer Psychologin seine intimsten Geheimnisse verraten, hatte mit ihr Psychotests durchgeführt, Rollenspiele gespielt, all den ganzen Dreck mitgemacht, ohne auch nur einen Hauch von Besserung zu verspüren. Sogar bei Neurologen hatte er sich aufgehalten und auch die eine oder andere Pille "gegens Stottern" schlucken dürfen. Dann war er durch Zufall an Norbert Bautz geraten. Norbert, auch ein Logopäde, hatte mit ihm immer ganz lustige Computerspiele gespielt, um ihn in einer lockeren Situation zu beobachten. Aber viel wichtiger war gewesen, dass Norbert verheiratet gewesen war und seine Frau sehr viel mit Sprechbehinderten aller Art zu tun gehabt hatte. Diese Frau hatte auf Fortbildungen Kontakt zu Herrn Rawe, dem aktuellen Therapeuten, bekommen. Eines Tages hatte Norbert Tim von der Therapie erzählt und ihm den Befehl gegeben, in der nächsten Woche bei Herrn Rawe anzurufen. Und so war es gekommen, dass Tim hier gelandet war und Norbert sehr dankbar gewesen war, weil dieser der erste und einzige Logopäde gewesen war, der Tim offen gesagt hatte, dass er mit ihm überfordert war.

 

 

So fuhren sie durch die Gegend, ohne besonders viel miteinander zu reden. Zu Hause angekommen wurde Tim gleich fast übertrieben überschwenglich von seiner Mutter begrüßt, die sich so unglaublich um ihren Sohn sorgte.

Tim war nie einer derjenigen Heranwachsenden gewesen, die sich mit ihren Eltern anlegten. Wo wäre er in den Jahren der selbst verschuldeten Einsamkeit ohne seine Eltern gewesen? Er wäre voll und ganz den Meinungen der verschiedenen Logopäden ausgesetzt gewesen, was ihn vernichtet hätte. Familienstreitereien gab es bestimmt genug, aber Tim hätte es sich nicht leisten können, von zu Hause abzuhauen, wie es sein älterer Bruder gelegentlich getan hatte. Es war ihm auch gar nicht in den Sinn gekommen, denn es war warm in dem Nest, er wurde beschützt. Selbständigkeit war ein Fremdwort für ihn, und seine Eltern konnten es sich auch nicht so richtig vorstellen, dass ihr jüngster Sohn eines Tages einmal selbständig mit seinem eigenen Leben umgehen würde.

"Timmy!", rief seine Mutter und fiel ihm in die Arme. Es war ein gutes Gefühl für Tim, so herzlich begrüßt zu werden.

Und da saß sie: seine Katze! Auf einem ihrer Lieblingsschränke im Wohnungsflur, direkt neben dem Telefon. Dieses wunderschöne Tier, sein Jugendfreund, blickte ihm nun ungläubig und mit einem Grinsen im Gesicht entgegen. Hallo, Tim, ich dachte schon, du wärst jetzt ganz weg.

Tim löste sich schnell von seiner Mutter und begrüßte sein Haustier mit einer Träne der Wiedersehensfreude in seinem rechten Auge. Ein lautes Schnurren verriet ihm, dass auch seine Katze froh war, ihn wieder zu haben. Sie wusste noch nicht, dass Tim in der nächsten Zeit oft wegfahren würde.

"Setz’ dich." sagte seine Mutter und deutete auf seinen Küchenstuhl. Tim tat wie ihm geheißen, und seine Eltern setzten sich ebenfalls. Dann zündeten Mutter und Sohn sich zeitgleich eine Zigarette an. Er merkte, dass seine Eltern ihn erwartend ansahen. Sie wollten wissen, was er so erlebt hatte in der letzten Woche.

"Alles klar bei dir?", leitete seine Mutter das Gespräch ein.

"Ja.", antwortete Tim.

"Habt ihr schon viel gemacht?", fragte sein Vater.

"Wir…, wir haben telefoniert." Tim erwartete, dass seine Eltern diese Bemerkung überhören würden, was sie aber nicht taten.

"Wirklich? Das ist doch großartig!", rief seine Mutter erstaunt aus. Tim empfand das im Moment als nicht so großartig. Ihm kam es so unendlich banal vor, denn schließlich war er ja schon 17, und für einen 17jährigen sollte das Telefonieren schon Gewohnheit sein. Erneut sah er nicht das Gute an diesem Fortschritt sondern nur dessen Normalität.

"Ja, das ist wirklich großartig.", sagte er und versuchte, möglichst überzeugt zu klingen. Er wusste nicht, ob ihm das wirklich gelungen war.

Sowieso war er nicht besonders gut drauf. Er fühlte eine innere Leere, eine Art Gleichgültigkeit, wie man sie zum Beispiel hat, wenn man am Montag nach einem versoffenen Wochenende zur Arbeit muß. Der Chef ist einem egal, die Arbeit ist einem egal, man will nur möglichst schnell wieder nach Hause und ins Bett. Tim waren seine Eltern nicht egal, auch nicht die Unterhaltung mit ihnen, aber das Thema der Unterhaltung. Doch selbst hierbei hätte man schon einen Fortschritt sehen können, denn wann war Tim das Stottern jemals egal gewesen? Eigentlich nie.

"Wo ist Dirk?", fragte er ablenkend.

"Dein Bruder ist übers Wochenende leider nicht da. Er läßt dir aber seine besten Wünsche überbringen und dir sagen, dass er stolz auf dich ist."

Das wärmte Tims Herz. Dass gerade sein Bruder stolz auf ihn war, das war eine Sache, die für ihn wichtiger als alles andere war. Sein Bruder hatte es bestimmt auch nicht besonders einfach gehabt, auch ohne Stottern. Kein Heranwachsender hatte es besonders einfach. Alleine nur die Pubertät war ja schon etwas, womit man erstmal fertig werden musste. Auch als Normalsprechender. Dirk hätte bestimmt auch mal gerne für längere Zeit eine etwas größere Aufmerksamkeit seitens seiner Eltern genossen. Diese waren aber die ganzen Jahre so mit den Problemen ihres jüngsten Sohnes Tim beschäftigt gewesen, dass sie zwar auch Zeit und Ohren für den älteren gehabt hatten, aber doch eben nicht ganz so viel wie für Tim. Sie hatten sich ja nicht zweiteilen können.

Tim hatte immer ein schlechtes Gewissen gehabt, dafür eben, dass seine eigenen Probleme es nicht zugelassen hatten, die Wichtigkeit von Dirks Problemen zu steigern. Dirk war dann eben öfters mal ausgerissen, weil er es nicht mehr ausgehalten hatte. Hatte dann woanders gewohnt.

Aber dennoch hatte Dirk immer hinter seinem Bruder gestanden. Tim konnte sich noch genau daran erinnern, dass er in der fünften oder sechsten Klasse einmal einen "Kumpel" gehabt hatte, der in dieser Klassengemeinschaft eine große Rolle gespielt hatte. Er hatte Macht über die anderen gehabt und hatte sich einmal auch selbst bei Tim eingeladen. Tim hatte sich nicht getraut, ihn wieder nach Hause zu schicken, obwohl er diesen Kollegen nie hatte leiden können. Als Tim dann mal aufs Klo gegangen war, hatte dieser Kumpel – neugierig wie er war – sich durch Tims Zimmer durchgeforstet und einen Zettel gefunden, auf dem Tim seine "Hausaufgaben" für die damals angefangene Psychotherapie gemacht hatte. Er hatte ihn sich durchgelesen, hatte dann lauthals gelacht und gerufen:

"Tim, ich wusste doch schon immer, dass du nicht ganz normal bist!"

Sein Bruder hatte das mitbekommen, hatte Tims Kumpel dann wortlos gepackt und ihn vor die Tür gesetzt. Nachdem er dem Kumpel einen haßvollen Blick ins Gesicht geschleudert hatte, hatte er die Tür zugeschlagen und zu Tim ins Badezimmer gerufen:

"Den bist du los, Bruderherz!"

Tim war von dieser selbstlosen Geste sehr gerührt gewesen.

 

Dieser Bruder, der zwar – was die Aufmerksamkeit der Eltern anbelangte – immer das Nachsehen gehabt hatte, hatte diesen Eltern also gesagt, dass er stolz auf Tim wäre. Sie sollten es ihm ausrichten.

Tim lächelte. Er wusste, es konnte ihm noch so schlecht gehen, aber den Rückhalt seiner Familie, den hatte er.

 

Und dann klingelte mal wieder das Telefon und zwar genau in dem Moment, als seine Eltern ihm aufgrund seines Fortschrittes in der Therapie herzlich gratulierten. Schlagartig überfiel Tim dieses alte gräßliche Gefühl der Unfähigkeit. Sein mittlerweile stolz gewordener Gesichtsausdruck verdunkelte sich abrupt. Auch die Gesichter seiner Eltern veränderten sich. Tim kam es so vor, als prüften sie die Glaubwürdigkeit von seinen Erzählungen. Vielleicht taten sie das tatsächlich. In seinem Inneren waren äußerst bösartige Nagetiere am Werk, die Tims Synapsen anknabberten und ihn dazu brachten, innere Schmerzen zu empfinden und sich nicht bewegen zu können. Es klingelte mittlerweile zum dritten Mal. Tim wusste, dass nach dem vierten Klingelton der mittlerweile angeschaffte und von Tim lang ersehnte Anrufbeantworter seinen Job ausführen würde. Aber sollte er das zulassen? Seine Eltern warteten darauf, dass ihr Sohn ihnen seine Fortschritte beweisen würde, sollte er sie vergeblich warten lassen? Er vergrub seine Hände in seinen Hosenbeinen und leichte Panik kroch in seinem Schädel durch die Gegend wie eine Horde von Maden aus einem zu lange stehengelassenen Bio - Mülleimer. Ihm fiel ein Satz ein, den er letztens auf einem Werbezettel einer neuartigen Kampfkunst gelesen hatte: Der größte Kampf findet zwischen unseren Ohren statt. Alle saßen um ihn herum, selbst seine Katze prüfte ihn mit einem eigenartigen Blick. All das passierte zwischen dem dritten und dem vierten Klingelton.

Nun gut, bringen wir den Gesprächspartner mal zum Auflegen. - Das war doch gar nicht so schlimm, oder? - Wie lange haben Sie heute geöffnet?

Sollte Tim am nächsten Montag seinem Therapeuten erzählen, dass er sich mal wieder nicht getraut hatte, den Hörer aufzunehmen? Nein, das durfte er ihm nicht erzählen.

Das war doch gar nicht so schlimm, oder?

In den Gesichtern seiner Eltern erkannte er plötzlich, dass sie nicht mehr darauf warteten, dass ihr Sohn ans Telefon ging. Hatten sie ihn etwa aufgegeben? Ihm wurde klar, dass er einfach herangehen musste. Ansonsten hätte er wahrscheinlich für alle Zeiten sein Gesicht verloren. Eine starke Welle von Mut spülte seinen Kopf frei, und diese Welle trieb ihn, kurz vor dem vierten Klingelton, in Richtung Telefon, dessen Hörer er schnell an seinen Kopf hob, und dann rief er mit einer fast schon aggressiv klingenden Stimme seinen Namen hinein.

 

"Auch mal wieder im Land? Tach, Timmi, hier ist der Tobias."

"Tobi! Wie geht es dir?"

"Muß. Und dir?"

"Hat sich noch nicht ganz so viel verändert bei mir, aber das wird schon." Was ist das denn, 14 flüssige Wörter hintereinander?, dachte Tim.

"Ich vertraue dir, du packst das schon." Das zu hören war eine schöne Sache für Tim, denn er das zeigte ihm, dass nicht nur sein Eltern sondern auch seine alten Kollegen in seiner Heimatstadt ihn unterstützen würden.

"Was ist los mit heute Abend?", sagte Tobias. "Kommst mit zu Anna?"

"Hatte ich vor, ja. Wann wollt ihr denn los? Und vor allen Dingen, wie?"

"Gegen acht. Mit dem Fahrrad. Wir treffen uns bei Dominik."

"Alles klar, ich komme dann vorbei. Bis dann."

"Jau, tschüßken." Ein Klicken im Hörer. Tim sah sich den Hörer an und beobachtete, dass dieser stark vibrierte. Seine Hand zitterte nämlich mal wieder wie die eines 100jährigen bei dem Versuch, eine Wasserflasche aufzudrehen. Aber das störte Tim nicht mehr, denn er hatte den heimischen Telefonhörer in der Hand gehalten, ohne ihn gleich darauf wieder hinzuschmeißen und nach Mama zu schreien. Die Tatsache, dass dieser kurze Wortwechsel ungefähr zehn Minuten gedauert hatte, war eine etwas abschwächende Erkenntnis, aber auch das konnte seinen Stolz nicht mehr unterdrücken, als er sich zu seinen Eltern umdrehte. Diese saßen auf ihren Küchenstühlen und bekamen ihre Münder nicht mehr zu. Hatte ihr Sohn wirklich selbständig telefoniert? Mit dem Stottern? Sie konnten es nicht fassen.

"Jetzt muß ich mir erstmal eine rauchen.", sagte Tim und ließ sich - nach diesem kurzen Gespräch völlig ins Schwitzen geraten - in den Stuhl fallen. Seine Katze stellte sich auf die Hinterbeine und fing an zu klatschen, zumindest wäre das ein lustiges Bild gewesen.

 

Ein paar Stunden später. Den ganzen Tag schon hatte er an Kathi denken müssen. Er würde sie heute wiedersehen, das zweite Mädchen seiner schlaflosen Nächte. Kathi wusste noch nichts von Tims Gebrechen. Damals, vor einem Jahr, als Tim sich in sie verliebt hatte, war es daher um so schwieriger gewesen, ihr näherzukommen. Was, wenn sie auch, wie diese schon erwähnte heute gescheiterte Frau, die Tims ersten unanständigen Traum zu verantworten gehabt hatte, gesagt hätte, sie wollte mit Behinderten nichts zu tun haben? Er hätte das nicht überstanden, gerade in dieser schwierigen Zeit auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Also hatte er alles, was er ihr zu sagen hatte, flüssig sagen müssen, was natürlich äußerst nervenaufreibend gewesen war. Nächtelang hatte er darüber nachgedacht, mit welcher Wortwahl er ihr seine Liebe gestehen könnte, ohne in die Situation zu kommen, irgendwo hängenzubleiben. Dann, wenn sie seine Liebe erwidert hätte, hätte er ihr nach Wochen (oder so) gesagt, dass er stotterte. Das hätte sie dann bestimmt akzeptiert.

Er hatte ihr eines Tages in der Stammkneipe, in der Tobias ihm so oft das Bier hatte bestellen müssen, gesagt, dass er wahnsinnig verliebt in sie wäre. Daraufhin hatte sie ihm zu verstehen gegeben, dass sie keine Lust auf ihn hatte. Einfach so, kurz und bündig.

Aber wir können ja trotzdem Freunde bleiben.

Sie waren seitdem Freunde gewesen, trotzdem war er nie darüber hinweggekommen, dass sie ihn trotz seiner gelungen Tarnungsaktion nicht attraktiv fand. Was wäre passiert, wenn er gestottert hätte, wo sie ihn ohne den "Sprachfehler" schon nicht über die Grenze der Platonie hatte gehen lassen? Bestimmt hätte sie ihn mit einem mitleidigen Blick angesehen und ihm geraten, nach Hause zu gehen. Oder?

 

Tim hatte an diesem Wochenende das Ziel, all seinen Freunden von seinem Stottern zu erzählen, und natürlich musste auch Kathi davon erfahren, damit diese alte Sache endlich aus der Welt war. Er hoffte, dass der gute alte Tobias ihm dabei helfen würde, indem er Kathi sozusagen vorwarnte.

 

Ungefähr zehn Leute waren es, die mit dem Fahrrad in Richtung Annas Zuhause fuhren. Tim fühlte sich sehr befangen, und er wusste genau, dass diese heutige Party ganz bestimmt kein Inbegriff von Ausgelassenheit werden würde. Er hatte auch gar keine Lust mitzufahren, aber der Gedanke an Herrn Rawe saß ihm im Nacken. Er hatte das Gefühl, ihm etwas beweisen zu müssen. Allerdings war Herr Rawe ungefähr 200 Kilometer von hier entfernt, und seine Freunde nur zwei Meter, die Gefahr lag also deutlich näher als die Hilfe. Es war ein verdammt großer Gewissenskonflikt: Freunde oder Montag Morgen angeben?

"Wie war’s in der Woche?", fragte Kathi ihn.

Schluck!

"Tim?"

"Ja?"

"Wie war’s?" Sie sah ihn an, und Tim verstand immer noch sehr genau, was sie für ihn so attraktiv gemacht hatte. Er flüchtete vor dem direkten Blickkontakt.

"Ganz gut. Schöne Gegend da."

"Aha." Kathi merkte wohl, dass Tim im Moment darüber nicht reden wollte. Sie ging nicht weiter darauf ein, und Tim wurde bewusst, dass es so nicht weitergehen konnte.

Bei Anna angekommen nahm Tim als erstes seinen Freund Tobias beiseite und erklärte ihm den Plan:

"Tobi, tust du mir einen Gefallen?"

"Was denn?"

"Ich möchte unbedingt heute Abend mit ein paar Leuten über die Therapie reden und über mich und so. Bei den meisten kriege ich das so hin, aber nicht bei Kathi."

"Du meinst, ich soll sie auf dich vorbereiten?"

"Genau das. Ich habe Angst, ihr das so zu sagen."

"Aber du bist doch gar nicht mehr in sie verliebt?"

"Das nicht, aber ich… Ich weiß auch nicht. Kannst du nachher mal mit ihr reden und ihr sagen, dass ich auch noch mit ihr reden möchte?"

"Klar doch, aber jetzt entspann dich mal, und wir holen uns erstmal ein Bierchen."

Sie holten sich ein Bierchen, kurze Zeit später ein zweites, und es wurden noch viele Bierchen.

Man könnte sagen, dass Tim sich mit jedem Bierchen in der Schwierigkeitsskala hocharbeitete. Er unterhielt sich zuerst mit oberflächlichen Bekannten über sein Stottern, dann mit etwas vertrauteren Leuten, mit seinen Freunden… Und er schwitzte sich die Seele aus dem Leib. Aber Angstschweiß war das diesmal nicht, er schwitzte aufgrund der Anstrengung beim Reden. Sie ließ ihn schwindelig werden, schüttelte seinen ganzen Körper hin und her, ließ ihn sabbern, verdrehte ihm die Augen. Stundenlang praktizierte er diese Schocktherapie, für viele war es auch ein Schock, aber die meisten nahmen es ganz gut hin - mehr aber auch nicht. Viele interessierten sich nämlich auch gar nicht dafür, denn sie wollten feiern und keine Probleme wälzen. Und dann, gegen Mitternacht, sah Tim plötzlich aus seinen angeheiterten Augen, wie sich dieses liebliche Geschöpf namens Kathi, die Personifikation von Schönheit und Intelligenz in einem Körper, in seine Richtung bewegte. Auch sie war bereits leicht angeheitert.

"Tim, wollen wir mal reden?", sagte sie wissend.

"Meinetwegen."

 

Da standen sie dann sehr, sehr lange auf dem Annschen Bauernhof und redeten über Tims Leben als Stotterer. Der Mond leuchtete auf die beiden herunter wie ein Spotlight, unerbittlich gelenkt von einem extra dafür eingestellten Bühnenlichttechniker. Tim gestand ihr, dass er sie damals sehr geliebt habe, und dass er sich einfach nicht getraut hatte, mit ihr zu reden, vor allen Dingen nicht über sein Gebrechen.

Kathi machte große Augen, als sie hörte, dass er Angst vor ihrer Reaktion gehabt hatte. Sie konnte es nicht glauben. Tim sah nicht, wie sie auf sein Stottern reagierte, denn er konnte sie nicht ansehen. Aber er glaubte mitzubekommen, dass sie anfangs ergriffen von seiner Anstrengung gewesen war, hinterher aber mit der für Kathi typischen Gelassenheit dem Problem gegenüberstand. Ihrem Freund gegenüberstand.

Als sich die beiden nach dem Gespräch umarmten, war Tim klar, dass sich noch viel mehr in seinem Leben ändern würde. Er wusste nicht, wie weit es gehen würde, ein Stück weiter wäre ihm schon sehr recht gewesen.

Er hatte nun schon zwei Heldentaten vollbracht: das Telefon besiegt und all seinen heimischen Freunden und Bekannten von seinem Problem, dass er bis dahin versteckt hatte, erzählt. Welch eine Woche!

 

 

 

Erst die Psyche, dann das Vergnügen

 

 

Der Sonntag danach, 17:35 Uhr. Tim saß in der alten, noch von einem Dieselmotor angetriebenen Regionalbahn Richtung Dortmund. Von dort aus, das wusste er schon auswendig, würde er an Gleis 16 um 18:49 Uhr von einem Intercity abgeholt werden, der um 20:12 Uhr am Hauptbahnhof des Zielortes halten würde. Um 20:14 würde dann die Straßenbahn Richtung Klinik fahren, die um 20:24 ankommen würde. Anschließend waren es noch zehn Minuten Fußweg bis zu dem Gebäude, in dem Tim und die anderen untergebracht waren. Insgesamt also eine Anreise von zwei Stunden und neunundfünfzig Minuten, nicht gerade besonders kurz für Tims Geschmack.

Glücklich war er nicht darüber, dass er wieder an den Rhein fahren musste, nicht wegen des Rheines sondern deswegen, weil um kurz vor neun außer Magdalena (minderjährig), Jakob (minderjährig), Mark (volljährig, aber nur auf dem Papier), Paolo (minderjährig) und Sven (minderjährig) noch niemand da sein würde. Die anderen, die Netten (volljährig), würden erst gegen elf eintrudeln. Sven war noch da, ja. Aber konnte Sven einen Ersatz bieten für Kathi, Sonja, Tobias, Dominik, Jens? Sven war um neun Uhr abends die einzig vertraute Seele in einer fremden Stadt, während in Tims Heimatstadt zu jeder Zeit zig vertraute Seelen existierten.

Nun denn, jetzt saß er nunmal in dem langsam anrollenden Zug, der dann aber auch nicht mehr viel schneller wurde, da dieser schon fast zur Oldtimer Serie der Deutschen Bahn gehörte und nur noch für das dörfliche Kleinbürgertum eingesetzt wurde, das sowieso nie weiter als bis Dortmund reiste. Trotzdem war der Zug schon so schnell, dass Tim nicht mehr herausspringen konnte. Draußen rauschte noch der graue Familienwagen vorbei und ein letztes Winken der besorgten Eltern wurde von Tim und den anderen Fahrgästen schweigend entgegengenommen. Tim zündete sich erstmal eine Zigarette an.

Die wievielte Zigarette war das eigentlich schon? Und überhaupt: wie sollte das nur alles weitergehen?

Der Zug fuhr und fuhr.

Der nächste tat dasselbe - nur schneller.

Es war noch hell, und man konnte unterwegs wirklich schöne Gegenden erkennen: zum Beispiel Wuppertal mit seinem vielen Grün war schon ein tolles Städtchen, soweit man das von dem Abteil des wirklich wesentlich schnelleren Intercitys aus einschätzen konnte. Zwischendurch kam der Mann mit der blauen Mütze ins Abteil und wollte die Fahrkarten sehen. Was ist eigentlich so toll an diesen Mützen?, fragte Tim sich. Warum müssen die Jungs die immer tragen? Er zeigte dem Mützenmann seine Fahrkarte, der Mützenmann bedankte sich und schlurfte zum nächsten potentiellen Fahrkartenbesitzer: ein Bundeswehrsoldat, der wahrscheinlich gerade auf dem Weg zurück zur Kaserne war. Tim zündete sich die nächste Zigarette an. Der Zug fuhr weiter, als sei nichts geschehen.

In Köln ereignete sich dann etwas, dass sich wahrscheinlich immer in Köln ereignete: die komplette Zugmannschaft wurde ausgewechselt, und ein neuer Captain durfte den Chefsessel vorne im Zug für seinen Nachfolger warmhalten. Der Aus- und Einladevorgang der Bahnbeamten dauerte ungefähr 20 Minuten. Als der Zug dann endlich wieder anrollte, betrat ein neuer Mützenmann das Abteil, das Tim sich mittlerweile nur noch mit dem Bundeswehrsoldaten teilte.

"Darf ich bitte einmal ihre Fahrkarten sehen?", sagte der Mann.

Tim wollte ihn fragen, ob er demnächst - da er ja wusste, dass er jeden Sonntag den gleichen Zug nehmen würde - immer zwei mal kontrolliert werden würde, doch da fiel es ihm plötzlich wieder ein. Also blieb er ruhig, hielt seine Karte hin und steckte sich eine Zigarette an, um ja nicht in die Verlegenheit zu kommen, den Mund weiter als nötig aufzumachen. Es war noch lange nicht alles geklärt und zufriedenstellend.

Über dieses Ungeklärtsein und Unzufriedenstellendsein dachte Tim dann noch bis zum Zielbahnhof nach. Zugfahren war wirklich etwas Feines für Tim, da konnte man sehr gut nachdenken. Und eindösen, was er auch kurzzeitig tat. Dabei überkam ihn folgender Traum:

 

Es war Herbst in diesem Traum und still. Tim lag auf seinem Bett, er war traurig, wusste aber gar nicht genau warum. Es hatte mit irgendeiner Grundsatzfrage zu tun, etwas sehr essentielles bewegte ihn zu seiner tiefen Trauer. Ach ja, da lag der Zettel: es ging ums mündliche Abitur: Nicht bestanden. Tim hatte sich mal wieder zu wenig zu sagen getraut, was im mündlichen Abitur nicht besonders vorteilhaft war. Es waren einfach zu viele Antworten gewesen, die er ausgelassen hatte: "Herr Habermann, können sie bitte etwas zur Verwestlichung der dritten Welt sagen?", hatte ihn der Sowi-Lehrer gefragt.

Tim hätte ihm Geschichten erzählen können, beispielsweise dass man den Leuten in der dritten Welt Cola-Automaten vor die Tür stellte, mit denen sie gar nichts anfangen könnten sondern nur die Elitegruppen in ihren Bungalows, die von bewaffneten Menschenaffen bewacht würden. Er hätte ihm und den anderen Prüfern erzählen können von einer Arm-Reich Kluft in der 3. Welt, die durch den "Kulturimperialismus" zustande käme. Er hätte von Aggressionen berichten können, von Aufständen, Demonstrationen der Armen, die von den Reichen niedergeschlagen und verboten wurden, von Hungerlöhnen. Vom Kaffeeanbau usw. Aber er hatte gesagt: "Äh, Verwestlichung?" Aus Angst zu stottern hatte er die Prüfung nicht bestanden, und auch nicht die Mathematik-Prüfung im 3.Abiturfach – letztere aber eher aufgrund mathematischem Unverständnis.

Mit den Ergebnissen war er dann wohl nach Hause gekommen und lag nun hier in seinem Sumpf voller Schuldgefühle und eingetretener Prophezeiungen. Seine Eltern waren enttäuscht gewesen, waren jetzt ein bißchen spazieren; warum auch immer. Er war alleine und jetzt… und jetzt klingelte auch noch das Telefon. Oh, nein, da ging er nicht heran. Nicht heute. Jemand trat die Tür auf - BUUUM- und ein riesengroßes Zombiegesicht in Form eines Telefonhörers schwebte in den Raum. Der Telefonhörer hatte ein blutunterlaufenes Auge, eine Säufernase und ein Maul, das größer war als Tims Ohr. "Hey, Timmy, weisse werda dranis? Deine Freundin isda dranne! Die wollte mal kurz mit Dir reden und über Dich lachen, verstehsse? Heb’ doch ab, Timmy!"

Tim hob ab und eine Mädchenstimme schrie ihm ins Ohr:

"Ich will nichts mit Behinderten zu tun haben! Raus aus meinem Leben!"

Er ließ die Mädchenstimme aus der Hand fallen, doch die Stimme stand wieder auf. In einer Hand trug sie ein Messer. Sie krabbelte an ihm herauf und versuchte, ihm mit dem Messer die Stimmbänder durchzuschneiden.

"Geh doch wwwwwww...."

"Was wolltest du sagen?"

"Du sollst wwwwwww...."

"Weggehen? Ist es das, was du meinst, du behinderte Sau?"

Erschrocken stieß er die Mädchenstimme von sich und rannte durch die Wohnung, dicht gefolgt von dem grinsenden Telefonhörer. Er lief hinaus in den Hausflur, sprang jede Treppe hinunter ohne die Stufen zu nehmen, immer die Stimme im Nacken: "Du behinderte Sau!" Unten angekommen riß er die Haustür auf, sprintete über den Hof und stand plötzlich im Ju-Jutsu Übungsraum.

"Prüfling, wir wollen folgende Technik sehen: Handfegen nach Innen."

"O.k. Dann greif mich mal an mit einem Fffffffffffff.....ff..."

Sein Prüfungspartner schaute Tim ungläubig an.

"Womit soll ich Dich angreifen?" Alle fingen an zu lachen.

"Mit einem Ffffffffff....fffff....ff"

"Womit, du behinderte Sau?"

Tim vergaß, wo er war, und schlug seinem Partner mit der gleichen Technik ins Gesicht, mit der er angegriffen werden wollte: mit einem Fauststoß.

Allerdings traf der Fauststoß nicht das Gesicht das Prüfungspartners sondern die Schulter von Leopold Koch, mit dem Tim lange Zeit vorher im Kinderchor zusammen gesungen hatte. Der Chor war wohl auf einer Gruppenreise und Leopold hatte ihm soeben mitgeteilt, dass er gleich zu den Mädels ins Zimmer gehen würde. Tim hatte sich ihm angeschlossen, und beide hatten vor der Tür des Mädchenzimmers in der Jugendherberge gestanden. Leopold klopfte an und sagte: "Dddddarf iiiich rarararararareinkommen oder mumumumumuss ich draußen blablablablableiben?"

Das war für Tim zu viel gewesen und er hatte ausgeholt und zugehauen. Die Antwort bekam er nun aber zu spüren: mit einem Schlag in die Magengrube. Er lag auf dem Boden vor der Tür des Mädchenzimmers.

"Du darfst reinkommen, aber lass den Kleinen draußen, der hat unter normalen Menschen nichts zu suchen."

...

"Herr Habermann sagen sie bitte etwas zur Verwestlichung der 3. Welt!"

"Ich will nichts mit Behinderten zu tun haben."

"Womit soll ich Dich angreifen?"

"Sag mal was!"

"Meine Damen und Herren, in Kürze erreichen wir..."

Tim öffnete erschrocken seine Augen und blickte in eine Welt, die nicht so sehr viel anders als seine Traumwelt war.

"Das zahle ich euch heim!", erzählte er dem Zugabteil. Dabei spürte er das, was Kapitän Aahab damals schon gespürt hatte: den Wunsch, sich an demjenigen zu rächen, der ihn so zugerichtet hatte. Stotterer war Tim schon immer gewesen, daran hatte keiner Schuld. Aber seinen Geist in der Art und Weise zu vergewaltigen, dass Tim immer noch kein normales Leben führen konnte, das war eine Reaktion der Gesellschaft auf ein fehlerhaftes Individuum, das nicht geduldet werden durfte. Schließlich waren die Kinder von damals nicht gestorben, sie waren nur erwachsen geworden.

Natürlich lief der Zug später ein, als es der Plan vorsah, nämlich anstatt um 20:12 um 20:13 und 30 Sekunden, 30 Sekunden vor Abfahrt der Straßenbahn. Tim nahm seine Tasche in die rechte Hand und rannte, rannte, rannte - bis er von einer roten Ampel angehalten wurde, die ihn um zehn Sekunden von der um zehn Sekunden verspäteten Straßenbahn trennte. "Scheiße!", sagte er flüssig und bekam zustimmende Blicke von den Gescheiterten entgegengeworfen, die bei Tag wiederum mitleidige oder verächtliche Blicke von den Passanten entgegengeworfen bekamen. Und von wem bekamen letztere mitleidige Blicke entgegengeworfen? Von ihren Spiegeln, jeden Morgen.

 

Tim musste laufen, zuerst quer durch die Fußgängerzone, vorbei an mindestens fünf McDonald - Freßbuden, die eines Tages noch den letzten Pommes Gerd an der Vorstadtsecke vertreiben werden, anschließend über die Straße, die sich total von der Fußgängerzone unterschied; denn hier gaben sich Herr Aldi, Herr Plus, Herr Schlecker und Herr MiniMal jeden Morgen um 9:00 Uhr ihre Hände und schlossen Wetten ab, wer an diesem Tag das preiswerteste Sonderangebot vorzuweisen hätte. Billig einkaufen konnte man hier tatsächlich.

Die Tasche war schwer, also stellte Tim sie erstmal ab und zündete sich eine Zigarette an. Er setzte sich auf einen Stromkasten, ließ den Blick schweifen und fragte sich, was die Zukunft wohl für ihn bereit hielt. Das Kiosk gegenüber mit den Zeitungen, würde er hier vielleicht eines Tages arbeiten und den Gescheiterten ihre Schnapsflaschen verkaufen? Oder würde er als Chefredakteur bei einer dieser Zeitungen, die man hier kaufen konnte und mit denen die Gescheiterten sich nachts zudeckten, arbeiten und die Leute zu bedauern versuchen, die ihn um eine Mark anbettelten, während er diese gar nicht richtig wahrnahm sondern auf der Suche nach der nächsten packenden Story wäre? Oder würde er gar nicht arbeiten und eine reiche Frau heiraten? Oder würde er das tun, wovon alle träumen und einfach - aussteigen.

Bis zum Lebensende wild leben, in einer Holzhütte in den Bergen mit einem Jeep vor der Tür, mit dem man gelegentliche Einkäufe - wie Kippen, Bier, Batterien, Spiritus, Hundefutter usw. tätigen könnte? Würde er irgendwann mal eine nette Frau kennenlernen, die ihn trotz seines Stotterns mochte? Seine große Liebe, mit der er zusammen in die besagte Holzhütte ziehen könnte?

Die Antwort wusste noch nicht einmal der Wind.

 

Halten wir fest, was wir bisher über Tim wissen: Tim war erstens ein Stotterer, und zwar gehörte er zu der Art von Stotterern, die jeden kleinen Witz über das Stottern als Angriff auf ihre eigene Person nahmen. Daher hatte er erfolgreich jede Lebenssituation vermieden, in der auch nur irgendjemand einen kleinen Witz hätte machen können. Sprich: er war einfach zu Hause oder in seinem klitzekleinen Freundeskreis geblieben und hatte geduldig darauf gewartet, dass irgendwann mal etwas passieren könnte, was den Fluch des Stotterns von ihm nehmen würde. Er hatte gewartet und gewartet, das Stottern war immer schlimmer, die Therapeuten, oder wie sie verharmlost hießen: die Logopäden, immer inkompetenter geworden. Die Chancen auf ein besseres Leben hatte Tim sich durch sein schüchternes Wesen selbst verspielt. Das war so lange gut gegangen, bis er eines Tages von diesem Therapieansatz hier gehört hatte und sich wohl oder übel von seinem beschützenden Elternhaus hatte trennen müssen. Nun war der Therapeut, den er hier angetroffen hatte, absolut gar nicht inkompetent gewesen, und er hatte Tim voll in seinen bis dahin beschützten Arsch getreten. Auf einmal hatte Tim sich schämen müssen, wenn er auch nur einen negativen Gedanken gehabt hatte, Suizid und all diese Sachen waren hier schon lange nicht mehr angesagt. Es war das erste Wochenende, an dem er nicht mehr ausschließlich negative Gedanken mit sich herumschleppte, an dem er zwischendurch auch mal das Gefühl hatte, dass er das Leben in seinem Inneren doch noch nicht verloren hatte. Ja, er war dabei, sein geistiges Auge zu öffnen, er war dabei, Spaß am Reden zu bekommen.

 

 

 

Laufen lernen

 

 

Am Mittwochmorgen kam der Therapeut - frisch motiviert - mit folgender Ankündigung in den Gruppenraum:

"Morgen! So, jetzt geht’s los! Bisher war es ganz egal, wie sie reden, wichtig war nur, dass sie reden. Aber ab heute ist das nicht mehr egal."

"Werden wir jetzt geheilt?", fragte Kerstin Lierz spontan, was der Therapeut mit einem Blick erwiderte, der Tim verängstigte. Wie konnte man nur so böse gucken?

"Merken sie sich bitte eines: sie werden nicht geheilt, niemals! Sie können nur lernen, mit ihrem Stottern in einer Weise umzugehen, die es ihnen ermöglicht, ein halbwegs normales Leben zu führen. Aber auch das passiert nur, wenn sie sich alle Mühe geben. Ich kann ihnen nur einen Weg zeigen, den sie allerdings selbständig und wohl sehr lange gehen müssen."

 

Betretenes Schweigen herrschte in dem Raum, das man wohl mit dem Unglauben deuten konnte, dass es wirklich einen Therapeuten geben sollte, der einem keine Heilung versprach.

"Nun gut, wir gehen wie folgt vor: ich weise jeden einzelnen von ihnen in die Kunst des trickfreien Stotterns ein, danach geht der jeweilige Patient mit einer meiner Mitarbeiterinnen in sein Zimmer und übt diese Art zu stottern. Der Rest des Tages bis zum Abend wird dafür verwendet, das trickfreie Stottern mittels ihrer Diktiergeräte aufzunehmen, damit wir morgen früh den aktuellen Entwicklungsstand bewerten können. Morgen Nachmittag geht’s dann ans Telefon und am Freitag in die Stadt. Also verschieben sie bitte alles, was sie in dieser Woche noch in der Stadt klären müssen, auf Freitag. Zum Beispiel ihre Zugfahrkarte nach Hause oder dergleichen. Bis hierhin noch Fragen?"

Verlegenes und neugieriges Schweigen.

"Gut. Dann verabschieden sie sich nun von ihrer bisherigen Art zu stottern, und… Ich denke, wir gehen alphabetisch vor. Herr Dorn? Würden sie sich bitte in den nächsten fünf Minuten bereit halten? Frau Bittner baut nun die Videoanlage für die Aufnahmen ihrer Fortschritte auf, und dann geht’ los. O.k.?"

"Alles klar.", antwortete Sven gelassen.

Alle außer Sven verließen den Raum, drei von ihnen rannten direkt nach draußen auf die von der Sonne bereits erwärmte Terrasse, um ihre Aufregung mit einer gepflegten West zu unterdrücken. Kaum hatten die drei zu Ende geraucht und sich eine Tasse Kaffee eingeschenkt, stand Sven auch schon wieder neben ihnen.

"Du bist schon fertig?", fragte Claudia Schmidt erstaunt. Da sie schon einmal diese Therapie mitgemacht hatte, wusste sie genau, dass die ‘Identifikationssitzung’, wie sie genannt wurde, normalerweise viel länger dauerte als zehn Minuten.

"Ja.", antwortete Sven. "Ich habe halt nicht so viele Tricks auf Lager, die ich ablegen muß. Nur dieses nach Luft-Schnappen, und das fürs erste abzuschalten, ging recht schnell, wie ihr seht."

Dabei hatte Sven einen einzigen Stotterblock, aber man konnte bereits eine Veränderung bemerken: und zwar bei dem Wort ‘ging’. Bis vor zehn Minuten hätte er noch gesagt: "Schnapp-Schnapp-Schnapp-ging.", wobei das Schnapp nicht gesagt, sondern ausgeführt wurde. Jetzt hatte er aber gesagt: "Gi-gi-gi-ging.", also genau das, was sich ein Normalsprechender, falls es diesen überhaupt gibt, unter dem Begriff "Stottern" vorstellt.

Tim hatte oft folgende Aussage mitbekommen: "Du stotterst doch überhaupt nicht.", denn der Aussagende hatte nicht gewußt, dass es höchstwahrscheinlich hundert Arten oder mehr zu stottern gab. Eine der schwersten Aufgaben eines stark Stotternden war es, den Leuten glaubhaft zu machen, dass es sich wirklich um Stottern handelte und nicht um eine spastische Lähmung oder ähnliches.

Sven stotterte auf einmal dem Klischee entsprechend, und das Klischee hörte sich für Tim gar nicht mal so schlecht an. Begeistert von diesem schnellen Erfolg kam Herr Rawe gleich darauf in den Vorraum gerannt, um den nächsten Patienten in den Therapieraum zu bitten. Dieser nächste Patient hieß - getreu dem Alphabet - Tim Habermann.

Aufgeregt - eigentlich ist ‘aufgeregt’ kein Ausdruck für den Gemütszustand, den Tim bestimmt gerade erfunden hatte (denn sonst gäbe es ja einen Begriff dafür) - eilte Tim in den Raum, der ihm trotz der in ihm aufgestauten Hitze eine mögliche Hilfe aus seiner hoffnungslosen Stottererlage suggerierte.

"Setzen sie sich.", sagte Herr Rawe, der Tim - alleine schon wegen dieser Aufforderung - an einen Arzt erinnerte. Im gewissen Sinne war er das ja auch.

Tim tat wie ihm geheißen und wartete auf das, was ihm wohl in den nächsten Minuten passieren würde, ohne zu wissen, dass ihm nichts passieren würde sondern dass er für das zu Passierende verantwortlich war.

"Nun, Herr Habermann, dann wollen wir mal ihrer Zunge an den Kragen gehen, nicht?"

"Doch.", sagte Tim und lachte verlegen, in einer Art, in der jeder lacht, der eigentlich lieber weinen würde.

"Die Videokamera soll sie gar nicht stören. Wir kümmern uns einzig und allein um ihr Sprechverhalten. Sie wissen, was wir jetzt vorhaben?" Dabei deutete Herr Rawe demonstrativ auf die Videoanlage, auf die Tim natürlich nun erst recht aufmerksam wurde.

"Das trickfreie Stottern zu erlernen?"

"Genau. Was ist das trickfreie Stottern?"

Ein Achselzucken seitens Tim.

"Also, Herr Habermann, das trickfreie Stottern beinhaltet das Wort ‘trickfrei’, weil diese Art zu stottern ohne jegliche Tricks funktioniert. Und sie werden sehen, die Stotterblockaden dauern ohne Tricks nur einen Bruchteil von der Dauer ihrer aktuellen Blockaden. Was meinen sie, was verwenden sie für Tricks, um die Wörter herauszubringen?"

"Vielleicht, äh, äh, das, äh, Auslassen von Wörtern, das Rückprallen vor einem Stotterblock? Sowas?"

"Genauer gesagt weist ihr Stotterverhalten folgende Tricks auf: Symptomvermeidung höchsten Grades, Rückprall (wie sie sagten), das Vorschieben von Luft, was wie ein Pfeifen klingt, das ungenaue Einnehmen der richtigen Artikulationsposition - übrigens ein Wort, das sie in den nächsten Wochen des öfteren nerven wird - daraus resultierende Mitbewegungen aller Gliedmaßen, ihres Kopfes, der Augen, des Bauches und eine ungenaue Regelung der Atmung, was ihre neulich angedeuteten Schwindelgefühle erklären könnte. Anfangs haben diese Tricks eventuell noch geholfen, aber mit den Jahren (und sie stottern ja seit dem Beginn ihrer Sprachentwicklung, also seit über 10 Jahren) haben sie sich verselbständigt, und nun setzen sie sie unbewusst und ohne Erfolg ein. Dadurch erschweren sie sich selbst die Aufgabe, ein bestimmtes Wort zu sagen. Wenn sie diese Tricks nicht erlernt hätten, würden sie jetzt vielleicht gar nicht hier sitzen. Verstehen sie, was ich damit meine?"

"Ja.", bestätigte der beeindruckte Tim.

"Ich mache ihnen das einmal anhand eines Beispiels deutlich: sie fahren Fahrrad, nehme ich an. Wenn sie das tun, denken sie noch über die Bewegungen ihrer Muskulatur nach?"

"Nein."

"Warum nicht?"

"Weil sich der Vorgang automatisiert hat.", gab Tim innerhalb einer Minute - ohne zu überlegen - zum Besten.

"Stimmt. Was wäre aber gewesen, wenn sie seit zehn Jahren anstatt vorwärts zu treten rückwärts getreten hätten?"

"Warum hätte ich das tun sollen?"

"Weil die Pedale in der Vorwärtsbewegung geklemmt hätte und sie das Glück gehabt hätten, dass sie - während der Rückwärtsbewegung der Pedale - bergab gefahren wären und sich dadurch bewegt hätten."

"Aber meinen sie, ich wäre wirklich so doof gewesen zu glauben, die Bewegung resultiere aus der Rückwärtsbewegung der Pedale?"

"Jetzt machen sie mir doch nicht dieses schöne Beispiel kaputt!", meckerte Herr Rawe, der an diesem Tag seine berühmten Ernie & Bert - Strümpfe trug.

"Entschuldigung."

"Aber trotzdem, alleine die Vorstellung, dass ein Fahrrad mit Rücktrittbremse den Vorgang des Radfahrens bremst und nicht beschleunigt ist absolut damit zu vergleichen, dass ein minutenlanger Rückprall vor einem Wort, den man unbewusst - aus Angst, das Wort zu sagen - ausführt, den Sprechablauf nicht besonders verkürzt. Nehmen wir an, sie wollen sagen: ‘Mein Name ist Habermann’ und sagen aber: ‘Mein Name ist ähm, ist ähm...’, wie sie es bei unserem ersten Treffen getan haben, dann erklärt ihr Gegenüber - wenn er nicht eingeweiht ist - sie irgendwann für verrückt, und außerdem dauern zwei Minuten Rückprallen vor dem ‘Habermann’ immerhin eine Minute länger als ein einminütiges Hängenbleiben bei diesem Wort. Viel theoretischer Kram, nicht wahr?"

"Es geht, aber interessant.", preßte Tim ohne zu lügen heraus.

"Nun zur Praxis. Ich lege ihnen jetzt einen Text vor, sie lesen ihn und bei jedem Trick, den sie anwenden, machen sie einen Strich in diesen Notizblock hier.", wobei der Therapeut ihm einen unbenutzten Notizblock und einen Kugelschreiber entgegenhielt. Außerdem bekam Tim irgendeine Zeitschrift in die Hand gedrückt.

"Nun lesen sie mal!"

"Außerdem funktioniert unser Wwwwwwwwww..."

"Stop! Kann ich mal das Wort sehen?", rief der Therapeut.

Tim zeigte ihm das Wort, das ‘Wirtschaftssystem" hieß.

"Haben sie bemerkt? Sie haben sich schon vor dem Wort verkrampft. Außerdem haben sie die Stellung des ‘W’ gar nicht eingenommen, denn sonst wäre ein stimmhafter Laut einstanden. Stottern sie bitte noch einmal so wie gerade und achten sie auf die dabei eingenommene Artikulationsposition."

"Wwwwwww..."

"Jetzt sagen sie mal einfach ‘Weh’."

"Weh."

"Und jetzt ein stimmhaftes ‘W’."

"W."

"Und jetzt versuchen sie, ‘Wirtschaftssystem zu sagen’."

"Wwwwww..."

"Merken sie den Unterschied? Bei dem stimmhaften ‘W’ sind sie ganz ruhig. Ihre Augen sind geöffnet, ihr Beine und Arme entspannt. Wissen sie wieso?"

"Nein."

"Weil die Stellung beim stimmhaften ‘W’ ganz natürlich ist und ihre Stellung beim ‘Wirtschaftssystem’ nicht. Dabei sollte ihnen klar sein, dass das einfache ‘W’ die gleiche Lippenposition erfordert wie das ‘W’, an das ‘irtschaftssystem’ angehängt wird."

"Ja, das ist klar."

"Warum schieben sie dann Luft vor und tauchen ab, obwohl sie das stimmhafte ‘W’ doch - wie gesehen - erzeugen können?"

"Weiß ich nicht."

"Ich aber. Und zwar, weil sie nicht auf dem ‘W’ stottern sondern auf dem Übergang vom ‘W’ zum ‘I’. Sie finden diesen Übergang nicht, also was tun sie? Sie versuchen, dem Übergang durch einen falschen Übergang aus dem Weg zu gehen. Und hier finden wir schon einmal eine Merkregel: das erste Problem liegt in der falschen Anfangsartikulation eines Wortes. Können sie mir folgen?"

"Bisher noch."

"Gut. Dann sagen sie bitte noch einmal das stimmhafte ‘W’."

"’W’"

"Nochmal."

"’W’"

"Und jetzt dreimal hintereinander."

"’W’, ‘W’, ‘W’."

"Sehen sie, funktioniert doch gut. Sagt ihnen der Name ‘Schwalaut’ etwas?"

"Nein."

"Der Schwalaut ist der Laut, den sie produzieren, wenn sie das stimmhafte ‘W’ erzeugen und danach einfach den Mund ganz leicht öffnen. Können sie das mal tun?"

"Ja. ‘We’."

"Nochmal, bitte."

"We."

"Bitte jetzt öfter hintereinander."

"We-we-we-we."

"Genau. Jetzt etwas schneller, und dann versuchen sie mal, den Schwalaut ganz langsam in ein ‘I’ umzuwandeln."

"Wewewewewewewewewiwiwiwiwiwi..."

"Jetzt sind sie schon bis zum ‘I’ gekommen, jetzt müssen sie nur noch den Bogen zum ‘R’ kriegen und dann sind wir beim ‘Wirtschaftssystem’. Versuchen sie mal, in der Weise das ‘Wirtschaftssystem’ herauszubekommen. Und wenn sie aus der schnellen Silbenwiederholung herausgeraten, bleiben sie ruhig. Machen sie einen Strich in ihren Notizblock, schauen sie mir in die Augen, bleiben sie unverkrampft und versuche sie, zur Silbenwiederholung zurückzufinden. Bereit?"

"Ich glaube schon."

"Dann los."

"Wewewewewewewewewiwiwiwiwiwirtschaftssystem."

"Wissen sie, wie lange diese Blockade gedauert hat? 30 Sekunden! Im Vergleich zu einer Minute mit ihrer Art zu stottern wirklich ein Fortschritt, oder?"

"Das stimmt."

"Jetzt stottern sie bitte noch ein paar andere Worte mit ‘W’, die ihnen einfallen, zuerst in der falschen und dann in der richtigen Form."

Tim tat dies mit sehr großem Erfolg, doch damit war die Sitzung noch lange nicht beendet.

"Lesen sie bitte in dem Text weiter."

"Außerdem funktioniert unser Wewewewewewewiwiwirtschaftssystem, ddddd...", wobei eine Stotterblockade bei dem Wort ‘das’ auftrat.

"Stop! Denken sie dran, die richtige Stellung einnehmen!"

"D-d-d-d-d-d-d-d-de-de-de-de-de-de-de-da-da-da-das..."

"Sehr gut, so geht’s weiter, oder?"

Herr Rawe erklärte Tim, dass es verschiedene Lautklassen gäbe: die Lautklasse der Laute w, s (stimmhaft), r, l, m und n, die Klasse der Laute f, s (stimmlos) und sch, die sogenannten Explosivlaute d, t, b, p, g und k und schließlich alle Vokale. Die ersten beiden Klassen unterschieden sich aufgrund der Stimmgebung in der ersten und der Stimmlosigkeit in der zweiten Lautklasse. Daher würde der Unterschied bei der Bildung von ‘W’ und ‘L’ wesentlich weniger bedeuten als der Unterschied der Bildung von zwei gänzlich zu unterscheidenden Lauten wie ‘W’ und ‘A’.

"Verstehen sie das, Herr Habermann?"

"Irgendwie schon." Tim wusste nicht, ob er wirklich frei reden durfte oder nicht, denn hätte er dabei einen Stotterblock erfahren, hätte er diesen - aufgrund seiner noch bestehenden Unsicherheit - bestimmt in seiner alten Art zu stottern herausdrücken müssen. Und gerade diese wollte er ja an diesem Morgen ablegen.

"Stottern sie zum Beispiel mal die Worte ‘Sonne’, ‘Mond’, ‘Wind’ und ‘Regen’ mit der ‘neuen’ Art zu stottern."

Ohne Probleme meisterte Tim diese Aufgabe, so dass er sich selbst wunderte, wieso er nicht immer so gesprochen hatte.

"Und jetzt versuchen wir das mal mit den Vokalen, die, wie ich bei ihnen beobachten konnte, ihnen am schwersten fallen. Nehmen sie mal die Artikulationsposition eines ‘A’ ein."

Schon das bereitete Tim einige Schwierigkeiten, denn er vermied es für gewöhnlich, ein Vokalwort bewusst zu verwenden. Und wenn er bei einem Wort mit ‘A’ hängenblieb, artikulierte er niemals ein ‘A’ sondern irgendeinen Laut, den es, wie bereits erwähnt, nicht gab.

Aber dennoch, er schaffte es nach ein paar Sekunden.

"So, Herr Habermann, jetzt verharren sie in dieser Position. Gewöhnen sie sich an sie, schließlich müssen sie beide Freunde werden. Versuchen sie nun, den Druck, den das ‘A’ hinten im Hals auslöst, ganz niedrig zu halten. Denn nur so können sie die Stimmbänder öffnen und das ‘A’ herauslassen. Es geht natürlich auch durch Hecheln, Pusten, Würgen und mit der Zuhilfenahme der Arme, aber die Mühe können sie sich bald sparen."

Wie aufgetragen verkleinerte Tim den Druck der aufeinanderliegenden Stimmbänder.

"Jetzt öffnen sie die Stimmbänder und lassen sie sie vibrieren, so dass ein ‘A’ herauskommt."

Tim artikulierte das erste richtig gestotterte ‘A’ in seinem Leben.

"Wiederholen sie diesen Vorgang mehrmals schnell hintereinander."

Dies klappte nun doch nicht sofort so, wie es hätte klappen sollen. Ganz im Gegenteil: es dauerte noch anderthalb Stunden, bis Tim das erste Wort auf einem Vokal (Affe) korrekt zu Ende gestottert hatte, ohne dabei abzutauchen, seine Extremitäten anzuspannen oder irgendetwas anderes sinnloses zu unternehmen. Herr Rawe war sichtlich geschockt und verunsichert ob Tims fast unüberwindbaren Probleme, dieses Beispiel für die Klasse der Vokale in den Griff zu bekommen.

Aber durch einen eigenartigen Zufall klappte es doch auf einmal, und nach ungefähr zwei Stunden, anders ausgedrückt: nach vier VHS-C - Kassetten, die durch die angeblich unsichtbare Kamera gelaufen und von Frau Bittner, die die ganze Zeit als stille Zuschauerin dabei war, ausgewechselt worden waren, verließ Tim die ‘Identifikationsstunde’, um sich sehr erschöpft seiner verdienten Zigarette zuzuwenden. Dennoch konnte Tim sich nicht vorstellen, dass der restliche Tag kürzer werden würde als die vergangene Hälfte, denn Tim hatte das strikte Verbot erhalten, auch nur ein einziges Wort seiner ‘alten’ Stottersymptomatik zu überlassen. Jedes Wort sollte er von nun an ‘trickfrei’ herausbekommen, "...und wenn es Stunden dauert wie eben. Hauptsache, sie gewöhnen sich daran, so zu reden. Außerdem erwarte ich von ihnen morgen früh mindestens eine Kassettenseite, die sie im Laufe das Tages mit ihrem Diktiergerät aufnehmen werden. Auf den Aufnahmen sollten möglichst viele Stotterblockaden herauszuhören sein, die sie natürlich alle richtig auflösen. Zu diesem Zwecke haben sie heute noch genügend Wortlisten und Lesetexte, die sie üben werden. Meine Mitarbeiterinnen werden ihnen bis heute Abend dabei helfen. Versuchen sie’s!"

 

 

Tim zitterte. Er war nahe daran aufzugeben. Er konnte doch nicht für jedes Wort, das mit einem Vokal begann, eine Stunde oder mehr opfern, bis er die genaue Artikulationspostion dieses Vokals gefunden hätte.

Diese Sitzung der Eigenidentifikation war schwieriger gewesen als alle Wortmeldungen und Lesestunden in der Schule. Denn bisher hatte er innerhalb von zwei Minuten mit Hängen und Würgen alles herausbekommen können, was er hatte sagen wollen. Da war es mit seinem alten Stotterverhalten doch wesentlich schneller gegangen, auch wenn man bedachte, dass der gelungene Versuch, das Wort ‘richtig’ zu stottern, unendlich mehr Ruhe und Gelassenheit im gesamten Körper mit sich brachte. Tim hatte die Wahl: entweder könnte er weiterhin so verkrampft weiterreden wie bisher, oder er würde in Kauf nehmen müssen, dass er bis zur nächsten Sprechtechnik, die sie lernen würden, ewig lange an bestimmten Worten würde verharren müssen. Aber hatte er denn wirklich die Wahl? War er denn nicht vielmehr gezwungen, das trickfreie Stottern durchzuziehen, wenn er nicht unverrichteter Dinge nach Hause zurückkehren wollte? Ja, er wurde dazu gezwungen, schon deswegen, weil er in dieser Gruppe hier kein Außenseiter sein wollte. Und wenn hier jeder trickfrei stotterte, dann hatte Tim die verdammte Pflicht, auch trickfrei zu stottern, und wenn das bis zum Morgengrauen dauern würde.

Fakt war schlicht und ergreifend folgendes: Tims Zunge lernte neu zu laufen. Sie lief noch langsam, ja, aber sie lief und sie war aus dem tödlichen Treibsand herausgezogen worden. Sie würde sich in den nächsten Tagen oder Wochen von den Strapazen der letzten zehn Jahre erholen, und vielleicht würde sie dann an die Fähigkeiten der Zungen der Normalsprechenden herannahen. Aber Tim sah das natürlich noch nicht, Tim sah nur, dass da ein ganzes Stück Arbeit vor ihm lag. Aufgeben angesichts der weiten Strecke, was hätte das bei einem Radsportler oder einem Läufer zur Folge? Sie müssten sich beide einen neuen Beruf suchen. Und was müsste Tim sich suchen? Eine neue Art von Kommunikation?

Man gibt einfach nicht auf, wenn man weiß, dass man im Falle des Durchhaltens auf jeden Fall als Sieger ins Ziel kommt. Und Tim wusste das, aber Tim wünschte sich, aufgeben zu dürfen; er sah mal wieder nur die Strapazen.

 

 

 

Die kleine Fabel von der Rakete

 

 

Was rechtfertigt das Aufgeben eigentlich? Was muß passieren, damit man einen guten Grund hat, etwas aufzugeben? Nun, zuerst einmal muß man das Ziel aus den Augen verlieren. Was tut aber eine auf Wärme reagierende Abwehrrakete, wenn plötzlich die Wärme ausbleibt? Sie fliegt weiter, bis sie entweder auf ein unvorhergesehenes Hindernis stößt, oder bis sie erneut eine extreme Wärmequelle aufspürt. Keinesfalls aber bleibt sie in der Luft stehen, denn der springende Punkt ist: was soll sie da? Was soll eine Abwehrrakete alleine in der Luft, unverrichteter Dinge und ziellos? Erstmal fühlt sich die Rakete bestimmt überflüssig, und außerdem ergibt so eine Rakete, die einfach nur stehenbleibt ein lustiges Bild. Und welche Rakete möchte ein lustiges Bild ergeben? Die Rakete, nennen wir sie Benny II, hat also nur zwei Möglichkeiten: entweder zur Basis zurückzufliegen und so zu tun, als wäre nichts geschehen, oder die Möglichkeit weiterzusuchen. Benny II weiß ganz genau, wenn er (denn wir reden ja jetzt von einer männlichen Rakete) zurück zur Basis fliegt, wird er diese auf jeden Fall zerstören, denn wenn man als Rakete einmal losgeflogen ist, kann man nicht einfach so landen, ohne dabei Schaden anzurichten. Denn als Rakete muß man entschärft werden, wenn man friedlich bleiben möchte. Da man als Rakete aber auch Mitleid mit den Leuten in der Basis hat, bleibt unserem Benny II also nur die eine Wahl: weitersuchen, bis ein neues Ziel kommt, das man verfolgen kann. Das tut Benny auch, und dabei ist ihm die Zeit völlig egal, denn Raketen haben Zeit. Sie haben ihr Hobby, das Fliegen, mit ihrem Beruf, dem Fliegen, verbunden und fühlen sich dabei pudelwohl. Benny II sucht das Ziel, bis er plötzlich eine Fährte wittert: in so und so vielen Kilometern scheint ein mit Feuer betriebener Flugkörper auf einen Spielkameraden zu warten. Aber Benny II fliegt ja nicht mit Solarenergie, er benötigt Treibstoff. Ihm fällt ein, dass der Treibstoff nur für den Hinweg zu dem anderen Flugkörper reichen wird, der Rückweg wäre im Falle eines Versagens zu kurz. Was also soll Benny tun? Soll er versuchen, seinen Job zu erfüllen und dabei in Kauf nehmen, dass er dabei ins Meer stürzt und eines Tages einen ahnungslosen Fischer in die Luft sprengt, der eigentlich bald in Rente gehen wollte? Soll er warten, bis der Flugkörper nah genug ist und dabei riskieren, dass er sich immer weiter entfernt und möglicherweise unerreichbar wird? Oder soll er doch zurückfliegen? Dass es nur eine Antwort gibt, weiß der aufs Zuschlagen programmierte Benny II: Zuschlagen! Unser Benny fliegt also los, erreicht mit letzter Kraft noch sein Ziel und sprengt dieses und auch sich selbst in die Luft.

 

So weit zu Benny II. Was aber hat diese Geschichte mit Tim zu tun? Tim wusste ebenfalls nicht, ob er wieder zurückfliegen sollte oder den harten Weg nach vorne antreten sollte. Aber auch ihm war bewusst, dass er, wenn er jetzt nach Hause gehen würde, dem Tim gleichen würde, der er vielleicht in 40 Jahren sein würde: ein Raucher, der in der Nacht vom Lungenkrebs besucht werden würde. Herr Lungenkrebs würde sich auf seine Bettkante setzen, ihm erzählen, wenn Tim nicht am nächsten Morgen das Rauchen lassen würde, wäre es zu spät. Tim würde mit eisernem Willen aufhören zu rauchen, in drei Wochen wieder damit aufhören, mit dem Rauchen aufzuhören, weil ihm der Weg zu anstrengend wäre, und vielleicht würden ihn dann irgendwann zwischen einer Raucher-Nichtraucher-Phase der gute Herr Krebs besuchen und ihm sagen:

"Einmal zu viel aufgehört, mit dem Rauchen aufzuhören, Herr Habermann!"

Einmal zu viel aufgehört, mit dem Aufgeben aufzuhören.

Tim war jetzt nun einmal losgegangen, hatte schon die ersten Strapazen - das Telefonieren, das Reden mit seinen Freunden daheim, die Identifikationsstunde - hinter sich gebracht, konnte er jetzt überhaupt noch zurückgehen? Wenn er jetzt aufhören würde, wäre er wie Benny II, der lächerlicherweise in der Luft verharrte, ohne irgendetwas zu tun; denn Tim wusste jetzt, dass es einen Weg gab, den man theoretisch gehen konnte. Er konnte sich also gar nicht mehr an den Anfang begeben, nur noch an den Anfang des etwas schwierigeren Weges. Aber dort würde er nur verhungern, denn dort gab es keinen Herren Aldi oder Herren Plus.

Also gab es keinen anderen Weg für Tim als diesen.

 

 

 

Mein Name ist Zunge

 

 

Hallo, meine Name ist Zunge! Ich arbeite seit ungefähr 14 Jahren in einem Großkonzern. Firma Habermann. Wir produzieren Laute. Am Band. Seit 14 Jahren machen wir immer die gleiche Arbeit, immer in derselben Reihenfolge: Die Abteilung "Luftröhre" importiert Luft aus dem Ausland und schickt diese zu meiner Kollegin Lunge. Dort wird die Luft dann verarbeitet, versandfertig gemacht und wieder zurück zur Abteilung "Luftröhre" geleitet. Zusammen mit einer Menge Befehle aus der Chefetage, Abteilung "Gehirn", kommt sie dann bei uns an. Das heißt, zuerst gehen die Befehle an die Abteilung "Sprechwerkzeuge", wo einige hundert Mitarbeiter tätig sind. Dort werden sie aufgenommen, registriert, angepaßt und dann an uns weitergeleitet. Wir aus der Abteilung "Endproduktion" stellen schließlich den Laut her und leiten ihn an den Endabnehmer, das Gehör der anderen Firmen, weiter.

Alles muß stimmen. Wenn beispielsweise jemand aus der Abteilung "Muskeln" auch nur den geringsten Fehler macht, was glauben sie, was dann passiert? Das ganze System stürzt ab! Und wer muß das ausbügeln? Na, wir! Meistens sind es Kollege Lippen und ich, die den Fehler der anderen kompensieren müssen. Das bedeutet eine riesen Kraftanstrengung, die wir gar nicht alleine leisten können. Desöfteren benötigten wir Hilfe aus Tochterfirmen unseres Konzerns: Herr Bauch, Frau Arm, Herr Fuß, sie alle haben uns in der Vergangenheit geholfen, mittels Muskelkraft die Laute herauszudrücken, die eigentlich aufgrund unseres ausgeklügelten Systems ganz ohne Kraft vom Fließband rollen sollten. Dass dann die Arbeit liegen bleibt und viel weniger Laute produziert werden können, dürfte klar sein, oder?

Der Chefabteilung ist das aber nicht so ganz klar, denn der Chef hatte in den letzten Jahren sehr oft sehr schlechte Laune. Er hat sie natürlich an uns ausgelassen, hat gesagt, am liebsten würde er uns entlassen und die Firma komplett dichtmachen. Aber dann hat sich glücklicherweise immer die Gewerkschaft eingemischt und hat ein Schließen der Firma verhindert.

Der Fehler wurde jedenfalls chronisch, zu chronisch für meinen Geschmack. Irgendwo war ein Sündenbock, der das korrekte Zusammenarbeiten zwischen der Abteilung "Synapsen", der Abteilung "Lunge" und der Abteilung "Muskeln" oder auch "Sprechwerkzeuge" verhindert hatte. Wahrscheinlich ein Saboteur. Solche Leute müssten sie an die Wand stellen, denn schließlich sind wir es ja, die darunter leiden müssen!

Unser Konzern hat Fortbildungen gemacht, bei Firmen wie "Logopäd. & Co." oder auch "Psycholog. Inc." Viel Geld und viele Jahre hat unser Konzern in diese Firmen investiert, mit dem Ergebnis, dass der Saboteur nicht gefunden werden konnte.

Unsere Chefetage bekam immer schlechtere Laune, und auch wir hatten allmählich keine Lust mehr, diese Sklavenarbeit zu leisten. Uns verließ die Kraft, das können sie mir glauben!

Vor ein paar Wochen war es dann wieder richtig schlimm. Niemand, noch nicht einmal der Boß, hatte mehr Lust, zum Dienst anzutreten. Es musste unbedingt etwas getan werden, denn die Zeit drängte!

Durch Zufall bekamen wir dann Kontakt zum Firmenberater Rawe, dem wirklich daran gelegen war, den Übeltäter zu finden.

Heute hat er dann herausgefunden, dass nicht nur einer dafür verantwortlich ist, dass das Endprodukt nicht an den Mann gebracht werden kann, sondern dass das System an sich völlig fehlerhaft ist. Denn es sind immer andere Fehler, die in unserer Maschine auftreten. Mal ist es der Computer, mal ein kleines Rädchen, immer etwas anderes.

Der Firmenberater sagte uns: "Leider haben sie nur dieses eine System, wir können es also nicht auswechseln. Daher müssen wir es verändern."

Seit heute Mittag sind wir dabei, eine Systemumstellung durchzuführen. Das heißt, der Boß hat uns auf Anraten des Firmenberaters verboten, auch nur ein bißchen Muskelkraft mit einzusetzen. Die Familie Arm sowie Bein und Bauch hat der Boß fristlos entlassen, denn er meinte, wir bräuchten sie nicht mehr. Wir aus der Abteilung "Endproduktion" sagt er, sollten von nun an entspannter arbeiten. Das hätten wir uns verdient, sagt er. Wir sollten das Produkt erst fertigstellen, wenn sich Luft, Synapsen und diese Hundertschaft von Muskeln aus der Abteilung "Sprechwerkzeuge" geeinigt hätten. Weniger anstrengende Arbeit beim gleichen Lohn, das ist doch was, oder?

Aber sie können mir glauben, dass die Koordination der anderen Abteilungen nicht ganz so einfach funktioniert. Schließlich arbeiten dort eine Menge älterer Leute, die wie ich seit über 14 Jahren die gleiche Arbeit tun. Ich kann verstehen, dass es ihnen schwerfällt, sich an die neuen Anforderungen anzupassen.

Die logische Folge:

Streik!

Sie streiken einfach, die Sprechwerkzeuge und auch die Synapsen. Die einzige, die noch einwandfrei funktioniert, ist Frau Lunge. Die atmet weiter fleißig ein und aus. Die anderen jedoch wissen gar nicht mehr, was sie machen sollen.

Der Boß kriegt die Krise! Denn seine Befehlsüberbringer sind entweder krank oder schicken die Befehle in ganz andere Richtungen. Und wenn sie dann doch mal am richtigen Muskel ankommen, hat sich dieser Muskel entweder was gebrochen oder aber er ist zu faul, um aufzustehen und seine Arbeit zu machen.

Der Boß weiß überhaupt nicht mehr, was er machen soll, und Firmenberater Rawe hat längst Feierabend...

 

Genau das war die Situation von Tim, in der er sich einige Stunden nach dieser anstrengenden Sitzung befand. Sein ganzer Körper erlitt einen völligen Kontrollverlust. Nur die Muskeln, über die man auf keinen Fall nachdenken musste, da sie zum Leben notwendig sind – also die Atemmuskulatur und das Herz – arbeiteten noch. Ansonsten aber war Tim vollkommen irritiert.

Jede Bewegung viel ihm schwer. Er konnte kaum laufen, die Kippe kaum zum Mund führen. Er hatte mal ein linkshändigen Mädchen in seiner Klasse gehabt, das von seinen Eltern und den Lehrern gezwungen worden war, beim Schreiben von links auf rechts umzulernen. Das war unter solch einem Druck geschehen, dass das Gehirn darauf hatte reagieren müssen: das Mädchen hatte einen Sprachfehler bekommen.

Den "Sprachfehler" hatte Tim schon, das war kein Risiko mehr. Aber im Prinzip war es ja nichts anderes: seine Sprechwerkzeuge und alles, was damit zusammenhing, wurden nun gezwungen, das genaue Gegenteil von dem zu tun, an das sie gewöhnt waren. Die Lunge war beim Reden daran gewöhnt gewesen, möglichst viel Luft herauszupressen. Die Zunge war daran gewöhnt gewesen, sich selbst zu verbiegen und alle Kraft der Welt herbeizuholen. Genauso die Lippen, der Bauch, die Arme, die Beine...

Nun sollte die Lunge möglichst wenig Luft herauslassen und das möglichst gleichmäßig. Die Zunge und die Lippen sollten auf einmal ganz ruhig in derselben Position verharren und nur eine einzige Bewegung in gleichmäßigen Abständen wiederholen. Und schließlich sollten die Arme, die Beine und der Bauch sich aus dem Sprechablauf heraushalten. Alles auf einmal, alles gnadenlos, alles bei jedem Wort.

Damit kam die Firma Habermann nicht klar. Überhaupt nicht. Hätte Tim – um zu dem Beispiel des Mädchens zurückzukehren - nicht schon einen "Sprachfehler" gehabt, er hätte ihn nun bekommen. Aber wer sagte ihm denn, dass sein Gehirn sich nicht trotzdem anpassen und die daraus folgenden falschen Befehle nicht an eine andere Muskelgruppe schicken würde? Zum Beispiel an seine Beine? So dass sie demnächst nicht mehr so richtig geradeaus gehen könnten. Oder an seine Arme, so dass er nie wieder würde Gitarre spielen können?

Heute jedenfalls waren all diese Muskeln außer Funktion gesetzt, und hier war er dann doch wieder der Außenseiter. Denn allen anderen ging es mit der neuen Sprechweise sehr gut. Manuel Hartner redete mit Nicole gerade über Manuels Heimatstadt Hannover.

"Ha-ha-ha-ha-ha-hast du ma-ma-ma-ma-ma-ma-ma-ma-mal die Ka-ka-ka-ka-ka-ka-ka-chaostage in Hannover mi-mi-mi-mi-mi-mi-mi-mi-mi-miterlebt?", fragte Nicole Manuel völlig entspannt und locker.

"Na-na-na-na-na-na-na-na-na-na-na-na-na-nein, aber i-i-i-i-i-i-i-i-i-i-i-i-ich habe a-a-a-a-a-a-a-a-einen Onkel dort wo-wo-wo-wo-wo-wo-wohnen, und dem ha-ha-ha-ha-ha-ha-haben sie beim letzten Mal den Ga-ga-ga-ga-ga-ga-ga-garten auseinandergenommen. Sowas finde ich zi-zi-zi-zi-zi-zi-ziemlich doof, we-we-we-we-we-we-we-wenn die Punks in ihre Schla-la-la-la-la-lachten Leute mit reinziehen müssen, die wi-wi-wi-wi-wi-wi-wi-wirklich keinem was getan haben.". Eine Antwort aus Manuels Mund, die ihm noch am Morgen drei Minuten seines Lebens und zehn Liter Schweiß gekostet hätte.

"Ich meine, die Pa-pa-pa-pa-pa-punks kannste ja eh nicht ernst ne-ne-ne-ne-ne-ne-nehmen, oder? Haben Frust a-a-a-a-a-a-a-a-auf den Staat, weil sie keine Arbeit bekommen, aber su-su-su-su-su-suchen tun sie sich ja auch keine. A-a-a-a-a-a-a-a-a-a-außerdem meckern die ja immer über unser Sy-sy-sy-sy-sy-sy-sy-system, aber mal ehrlich: ge-ge-ge-ge-ge-ge-ge-ge-geht’s uns denn schlecht?"

Tim hätte sich gerne in das Gespräch mit eingemischt, hätte gesagt:

"Di-di-di-di-di-di-dir geht’s nicht schlecht, Ni-ni-ni-ni-ni-ni-nicole, weil du so wo-wo-wo-wo-wo-wohlbehütet aufgewachsen bi-bi-bi-bi-bi-bi-bist, aufgewachsen als Einzelkind! Aber guck‘ di-di-di-dich doch nur mal hier am Ha-ha-ha-ha-ha-ha-ha-hauptbahnhof um, wa-wa-wa-wa-wa-wa-was da für Leute sitzen. Meinst du, die wo-wo-wo-wo-wo-wo-wollen da alle sitzen? We-we-we-we-we-we-we-we-we-wenn dir auf der Straße jemand eine O-o-o-o-o-o-obdachlosenzeitschrift verka-ka-ka-ka-ka-ka-ka-ka-ka-kaufen will, bist du die erste, die die Na-na-na-na-na-na-na-na-na-na-na-nase rümpft, oder?"

Tim versuchte kurz, den Mund zu öffnen, um der Diskussion etwas ähnliches beizutragen, aber er schaffte es noch nicht einmal, seine Lippen auseinanderzubekommen. Er saß dort, zusammengekauert auf einem der Sessel im Vorraum, ließ sich die Sonne von draußen ins Gesicht prügeln und verzweifelte. Es war Nachmittag, der Therapietag war offiziell zu ende, aber noch lange nicht für Tim. Er musste noch Aufnahmen machen, mindestens drei Stück. Doch er traute sich nicht mehr zu reden. Denn bei jedem Versuch, einen Laut zu äußern, versagte sein ganzer Körper. Ein unendlich beklemmendes Gefühl.

Er hörte Sven durch den Flur laufen. Er unterhielt sich mit Frau Bittner.

"Tja, Frau Bi-bi-bi-bi-bi-bi-bittner, da staunen sie, nicht?"

"Worüber?"

"Da-da-da-da-da-da-dass ich na-na-na-na-na-na-na-nach zehn Minuten fertig war da drinnen."

Angeber!, dachte Tim.

"Angeber!", sagte Frau Bittner.

Es wäre schön gewesen, wenn Tim jetzt "A-a-a-a-a-a-a-angeber!" hätte sagen können, aber er bekam den Mund nicht auf. Er stellte sich vor, wie es jetzt am Telefon wäre. Wenn er die Auflage hätte – was ja noch passieren würde – mit "Ti-ti-ti-ti-ti-ti-ti-tim Habermann?" ans Telefon zu gehen. Er würde im Moment noch nicht einmal die Fähigkeit besitzen, seine Motorik so zu beherrschen, dass er den Telefonhörer abheben könnte.

Frau Bittner kam zu ihm herüber.

"Tim, alles klar?"

Tim öffnete leicht den Mund und schloß ihn dann sofort wieder. Er nickte nur.

"Versuch’s, Tim!"

"A-a-a-chchchchchchch..."

"Stop! Nicht abdriften! Bleib‘ auf dem ‚A‘, Tim!"

"A-a-a-chchchchchc..."

"Bleib‘ ruhig, das ‚A‘ ist wichtig, der Laut heißt nicht ‚CH‘!"

Tim konnte nicht mehr.

Das Atmen viel ihm schwer, weil er ans Atmen dachte.

Das Öffnen des Mundes viel ihm schwer, weil er daran dachte. Das Lenken des Blickes zu Frau Bittner viel ihm schwer, weil er daran dachte.

Wieviel konnte sein Gehirn eigentlich gleichzeitig bewusst denken?

Wir nutzen nur 10% unseres Potentials.

Einstein. Nie hatte er etwas von Einstein oder Einsteins Biographie gelesen, aber diesen einen Satz von ihm wusste er. Und auch ihn dachte er bewusst, und im nächsten Moment viel ihm selbst das Denken schwer...

"A-a-a-a-a-a-a-a-a-alles klar.", bekam er zufällig heraus.

Frau Bittner musste kurz schmunzeln, weil sie ja wusste, dass bei Tim nicht alles klar war.

"Mach mal erstmal eine Zigarettenpause, Tim.", sagte sie mütterlich. "Und dann setzt du dich in dein Zimmer und übst für dich ein paar Wörter, ok?"

"O-o-chchch..."

Tim ließ ab und nickte einfach nur. Diesmal kam er so davon.

Er ging auf die Terrasse, wo die Aggressivität der Sonne ihn dazu zwang, sein Augen zu schließen. Er suchte nach seinen Zigaretten, fand sie, steckte sich eine von ihnen in den Mund, zündete sie an und rauchte sie fast in einem Zug. Die Muskulatur des Rauchens war noch nicht außer Betrieb.

"Ha-ha-ha-ha-ha-ha-ha-hallo!", rief Sven und kam zu ihm nach draußen. Und auch Kerstin gesellte sich dazu.

"Ha-ha-ha-ha-ha-ha-hallo!", sagte auch sie.

Tim nickte beide an, trat die Kippe aus und ging schlechtgelaunt in sein Zimmer, wo er sich den nächsten Lesetext vornahm, um das trickfreie Stottern zu üben.

"Wa-wa-wa-wa-wa-wa-was ist denn mit dem los?", fragte Kerstin und sah Tim hinterher.

"De-de-de-de-de-der ist fertig.", antwortete Sven.

 

Und dann, am späten Abend, geschah etwas ganz Merkwürdiges. Tim schaltete mit seinen letzten motorischen Kräften das Licht von Zimmer 16 aus, legte sich ins Bett. Das war noch nicht merkwürdig, denn das geschah nun zum siebten oder achten Male. Er merkte zum siebten oder achten Male, dass es ziemlich hell im Zimmer war und dass der Vorhang immer noch geöffnet war. Auch das war noch nicht merkwürdig. Er stand ganz normal auf, zog den Vorhang ganz normal vor und bekam ganz normal von Sven den Spruch "Was machst du denn da jetzt?" entgegengeworfen.

Aber was dann kam, war merkwürdig, denn Tim sagte wie selbstverständlich:

"I-i-i-i-i-i-i-i-ich ziehe den Vo-vo-vo-vo-vo-vo-vo-vorhang zu, es ist so he-he-he-he-he-he-hell hier drin."

Sven hatte bis dahin mit dem Gesicht zur Rauhfaserwand gelegen, aber als er diesen Satz gehört hatte, saß er blitzschnell aufrecht in seinem Bett und schaute Tim mit aufgerissenem Mund an.

"Was war das denn jetzt?", sagte er.

"Ich wa-wa-wa-wa-wa-wa-wa-wa-weiß nicht, irgendwie klappt es jetzt.", antwortete Tim, völlig von sich überrascht.

"Du bi-bi-bi-bi-bi-bist mir ‚nen Vogel. Den ganzen Tag schleppst du dich durch die Wörter und jetzt haust du mir hier die Silben um die Ohren!", sagte Sven, streckte ihm dann die Hand in den Raum.

"Herzlichen Glückwunsch, mein Freund!", gab er feierlich von sich.

Tim nahm die Hand entgegen. Er sagt nichts mehr, legte sich ins Bett und sah sich die Decke an.

Als Sven fast eingeschlafen war, weckte ihn eine leise Stimme:

"Vielleicht macht das Reden ja doch eines Tages mal Spaß.", philosophierte Tim verträumt.

"Hm? Äh, ja, aber erst morgen, ok?", sagte Sven halb im Schlaf.

Sven hatte Recht. Morgen.

 

 

 

Ein paar Wochen danach

 

 

Spaß am Reden, oh ja. Es waren vier Wochen vergangen, der Sommer ruhte sich gerade auf seiner Amplitude aus, ein derber Marathonlauf ohne Dopingmittel lag hinter Tim und den anderen.

Zungen, die gerade gebogen worden waren bzw. denen gezeigt worden war, wo sie eigentlich beim Reden hinmüssten, Tumore, die fürs erste herausgenommen worden waren, Freundschaften und Feindschaften, die geschlossen, Ängste, die überwunden worden waren.

Firmen, deren Mitarbeiter endlich wieder zufrieden waren.

Es lag vieles hinter den Patienten, viel mehr als in vier normalen Alltagswochen. Tim war, ohne es zu merken, einen großen Schritt weiter in die Richtung gekommen, in die er immer schon hingewollt hatte: er hatte immer den Wunsch verspürt, seine Meinung zu verbreiten, jedem zu erzählen, was falsch läuft in der Welt, zu provozieren, so gut es ging. Und - welch ein Wunder, ein verdientes Wunder - das durfte er jetzt! Denn er hatte sich zweierlei Dinge erarbeitet: er konnte ausnahmslos flüssig reden, und selbst, wenn es wiederkäme, so hatte er gelernt, dazu zu stehen: er fühlte sich nahezu geheilt.

Tim und die anderen hatten nach dem trickfreien Stottern noch andere wundersame Sprechtechniken gelernt, mit denen sie spielerisch reden konnten, ohne auch nur einmal länger als eine Sekunde ungewollt hängenzubleiben. Er konnte endlich reden und musste die Augen nicht mehr zukneifen, musste die Silben nicht mehr auskotzen, sich nicht selber die Finger brechen, bei dem Versuch, die Worte mit Hilfe der Finger herauszubekommen. Er konnte reden und er konnte seine Inhalte der Welt verkünden, selbst wenn die Inhalte nicht immer auf hochprozentig intellektuellem Niveau zu suchen waren. Wo die nächste Pommesbude sei, das war der Inhalt einer Frage, die er zu Übungszwecken auf der Straße öfter stellte; wahrlich nicht besonders anspruchsvoll, aber immerhin eine Frage, die er sonst nie gestellt hatte. Außerdem war in solch einer Mc Donald - Hochburg die Frage nach einer stinknormalen Pommesbude schon ein gewagtes Unterfangen. Und sehr viele Passanten waren damit auch vollkommen überfordert. Überfordert einerseits wegen der Frage an sich, andererseits deswegen, weil Tim jetzt extra und vor allen selbstbewusst stotterte. Früher hatten die Leute ihn deswegen ausgelacht, hatten ihn beschimpft, auch einmal verprügelt, hatten ihm schlechte Zensuren gegeben, hatten ihn für unfähig erklärt - und Tim hatte noch nicht einmal dagegen anzukämpfen vermocht. Aber jetzt, er konnte es selber noch nicht richtig glauben, jetzt war er plötzlich fähig dazu, sich zu rächen. Er entwickelte in dieser Zeit eine extreme Sündenbockmentalität. Jeder Mensch, den er traf oder neu kennenlernte, wurde erst einmal auf eine sehr harte Probe gestellt: Tim stotterte absichtlich länger als er es je getan hatte, und wenn seinem Gegenüber auch nur ein Lächeln über die Lippen huschte, sprach Tim auf einmal flüssig weiter und beschimpfte sein aktuelles Opfer als "intolerant", machte sie an, weil sie falsch reagiert hatten.

Verstört gingen die armen Leute dann weiter und hatten ein schlechtes Gewissen, das vielleicht noch nicht einmal angebracht war, denn man konnte es nicht leugnen: Tims damaliges Stottern rief im ersten Moment einen Ansatz von Belustigung hervor, für die, die keine Ahnung davon hatten, und man konnte es denen noch nicht einmal verübeln. Ein Außerirdischer, der sich mittels Telepathie fortpflanzt, schmunzelt auch über die eigenartige Weise der Menschen, den Fortbestand ihrer Rasse zu sichern; richtig lustig findet dieser Außerirdische das aber nicht, denn er kennt ja - als Forscher - die ernste Absicht, die dahinter steckt.

Aber Tim war zu sehr in seiner Rachephase untergegangen, als dass er jetzt noch in der Lage gewesen wäre, seine Gegenüber objektiv einzuschätzen. Er haßte sie alle, und er konnte es ihnen endlich sagen. Jede Bäckersfrau in jeder Bäckerei in der Fußgängerzone, jeder Straßenarbeiter, jede Oma, die orientierungslos und ängstlich durch die Straßen schlurfte, sie alle waren dran. Umwelttraining nannte sich das, und es war in der Anfangszeit Tims Lieblingsbeschäftigung, dicht gefolgt vom Telefontraining. Das schöne war, dass das Ansprechen von Leuten in der Fußgängerzone eine Pflicht war, so dass Tim seinen Rachefeldzug ungestört und ohne Pause durchziehen konnte. Seine Mannschaft begleitete ihn ständig. Seine Mannschaft, das waren Sven, Kerstin, Manuel und Jochen. Eigenartigerweise hatte jeder von ihnen dieselbe Vorstellung über die Mannschaft im Kopf, allerdings mit ihnen selbst als Anführer. Auf jeden Fall vertrat diese Mannschaft die gleiche gewaltige innere Entschlossenheit - die sie verband - , nämlich die wahren Gescheiterten auf ihr Scheitern hinzuweisen, die Fußgängerzone aufzumischen, sie fertigzumachen, auch wenn sie es nicht verdient hätten, denn eigentlich war es tatsächlich die Minderheit, die negativ auf Tim als Minderheit reagierte. Die meisten waren sehr verständnisvoll und eigentlich hätten Tim und die anderen einsehen müssen, dass sie sich hier etwas einbildeten. Aber verständlicherweise mussten sie zuerst einmal ihre Wut, die sich in den letzten Jahren aufgestaut hatte, loswerden. Und Tim hatte eine wahrlich immense Wut im Bauch, die da drinnen ganz klar das Sagen hatte. Er hatte immer schon gefühlt, dass er anders war als andere, nicht nur wegen seines Stotterns. Aus Selbsthaß hatte er bisher die anderen Menschen gehaßt.

Aber jetzt gab es keinen Selbsthaß mehr.

Es gab keine Depressionen mehr, nur noch Aggressionen.

Es gab keine Versagenserlebnisse und kein Kneifen mehr.

Es gab keine Angst mehr, in der Schule etwas zu verpassen und somit wohlmöglich das Abitur nicht zu schaffen.

Jetzt waren sie alle zusammen mitten in dieser Schlacht, und sie würden sie gewinnen.

 

Verglichen mit seiner anfänglichen Gestalt war Tim um einiges massiver geworden: er wog bestimmt zehn Kilo mehr als vorher, sein Bauch machte Svens Konkurrenz, aber als Ausgleich dafür lief Tim nicht mehr mit dem Kopf nach unten herum. Was sollte sein Kopf auch da? Sein Kopf hatte sich auf die normale Position eingependelt, auch war Tims Gesicht keineswegs mehr blaß. Seine Sorgenfalten auf der Stirn waren zu Lachgrübchen im Gesicht geworden. Er schloß beim Reden nicht mehr die Augen. Es gab ja keinen Grund mehr dazu - hatte es ihn jemals gegeben? Endlich konnte man seine entschlossenen, kriegerisch dunklen Augen erkennen.

Den Therapeuten, der ihn seinerzeit in den Arsch getreten hatte, sah er nicht mehr so sehr als großen Meister an sondern eher als Geschäftspartner. Es war eine gut funktionierende Geschäftsbeziehung - Herr Rawe war der Großmarkt, Tim der Abnehmer. Herr Rawe gab regelmäßig neue Techniken preis, die Tim auf der Stelle richtig anwandte. Als Beweis dafür brachte er dem Therapeuten regelmäßig eine Kassette mit den Aufnahmen des neuesten Umwelttrainings mit, die sie sich beide anhörten und zufrieden zu den Akten legten.

Währenddessen hatten sich drei Klassen von Patienten entwickelt: die eine, die den Therapeuten fürchtete und wegen ihm so tat, als hätte sie alles im Griff. Dazu gehörten Mark Weila, Magdalena Hartzig und Jakob Schlotze. Abwechselnd wurden diese drei Problemfälle sowohl im Mitarbeiterraum als auch morgens um neun in der Gruppe ausdiskutiert. Mit ihnen und auch über sie wurde diskutiert, und immer wieder kam man zu demselben Schluss, dass nämlich die nicht vorhandene Eigeninitiative dieser drei des Rätsels Lösung wäre. Die Folge: man konnte nichts zu deren Heilung beitragen, außer immer wieder an ihre damalige Motivation, in diese Stadt zu kommen, zu erinnern. Sie wurden bald in Ruhe gelassen, und besonders Schlotze und Weila begnügten sich bald mit dem altvertrauten Fernsehbild, was die Wurzel der Begleiterscheinungen des Stotterns (Isolation, Passivismus, Ängstlichkeit, Stillstand) nur noch stärkte.

Die zweite Gruppe von Patienten, das waren diejenigen, die die Systematik Angebot-Nachfrage längst kapiert hatten. Sie fürchteten den Therapeuten nicht, aber sie konnten seine Autorität auch nicht übersehen. Hierbei handelte es sich um Jochen Worrenfeld, Manuel Hartner, Paolo Maccello, Nicole Polker, Thomas Wunderssen und schließlich auch Tim Habermann. Diesen sechs Leuten war es mittlerweile klar, dass nur sie sich aus ihrem mehr oder minder großem Loch heraushelfen konnten, was sie erfolgreich getan hatten und immer noch taten. Hier und da hatte jemand von ihnen einige Schwierigkeiten mit irgendeiner neuen Sprechtechnik, aber nach einer Sondersitzung mit dem Therapeuten lief es wieder.

Sven Dorn, Kerstin Lierz und Claudia Schmidt bildeten die dritte Gruppe, die Günther Rawe am liebsten gesteinigt hätte. Sie hatten diese Therapie nie so dringend gebraucht. Svens Stottern war schon immer kaum hörbar gewesen und die wenigen Stotterblocks im Beruf würde er schon durch halbherzige Anwendung der bisher erlernten Techniken verdecken können. Mehr wollte er nicht. Kerstin Lierz sah gut aus, hatte Geld und ein Auto, einen Freund und bei einer Trennung hohe Chancen auf den nächsten, sie hatte Ausstrahlung, konnte tanzen und singen, hatte Zukunftsaussichten. Das Stottern war für sie kaum mit Emotionen belegt, es störte sie nur einfach. Aber unbedingt abhängig von der Therapie war auch sie von Anfang an nie gewesen. Claudia Schmidt war eine Frau, die man sich auch auf einer Harley Davidson hätte vorstellen können. Sie war durchsetzungsfähig, schlug ihrem Gegenüber ihre Blocks in die Fresse und erschlug ihn beinahe damit. Was ihre Akzeptanz zum Stottern anbelangte, war sie sogar ihrem Therapeuten überlegen. Dieses Dreigespann war während der ganzen Therapie der Grund für Herrn Rawe allmorgendliche schlechte Laune, die er nur schwer verstecken konnte. Das Problem war eben, dass er seine Arbeit aus Überzeugung und nicht wegen des Geldes ausführte. Er glaubte an das Therapiekonzept und daran, dass alle armen Stotterer das Recht auf Gleichberechtigung in der Gesellschaft und ein sorgenfreies Leben haben konnten, wenn sie sich genügend anstrengten. Dass da aber drei Leute vor ihm saßen, die zwar Stotterer aber keine armen Stotterer waren, und die auch entsprechend lebten und mit einer für den Therapeuten unbefriedigenden Einstellung an die Therapie herangingen, das zersägte ihm die Nervenstränge, und hätte seine Frau ihn nicht auf Diät gesetzt, er wäre schokoladensüchtig geworden. Denn Schokolade gab Nerven wie Drahtseile, wo auch immer Herr Rawe diese Weisheit herhatte.

Während einer morgendlichen Sitzung im Therapieraum ergab sich eine spontane Meinungsverschiedenheit zwischen ihm und Kerstin aus der besagten dritten Gruppe. Das alte Bild wie vor Wochen: zwölf Patienten, zwei Mitarbeiterinnen (diesmal Frau Föhring und Frau Bittner), der Therapeut und auch die gute alte, ewig gut gelaunte Gabi, saßen in einem Stuhlkreis beieinander, während die Sonne durchs Fenster schien und die Putzfrau des Hauses an der Glastür des Therapieraumes darauf wartete, dass sie hier endlich wischen durfte.

"Ach, Frau Lierz. Bevor ich’s vergesse.", sagte der Therapeut, bevor er es vergaß. "Frau Bittner hat mir erzählt, dass sie gestern beim Umwelttraining nicht gerade besonders fleißig gewesen sind."

"Wie meinen sie das?", fragte Kerstin Lierz.

Hätte Herr Rawe ein Monokel besessen, hätte er es in diesem Moment garantiert benutzt. Denn er warf einen überzogen prüfenden Blick auf den Aktenordner auf seinem Schoß, der lustigerweise mit einem flächendeckenden Bild von "ALF" beidseitig beklebt war.

"Was haben wir denn hier? Mal sehen… Zu halbherzig angewendete Techniken, zu wenig Aufnahmen insgesamt, zu kurze Fragen. Glauben sie, es lohnt sich bei dem Grad ihrer Weiterentwicklung in dieser Therapie, solch kurze und unkomplizierte Aufnahmen zu machen?"

"Was hätten sie denn erwartet?", entgegnete Kerstin Lierz.

"Erwartet habe ich nichts. Ich mache diese Sitzung hier ja nicht für mich sondern für sie. Sie sind es doch, die unzufrieden sein müsste mit der fünfmaligen Aufnahme des Satzes ‘Wo geht es denn hier zum Hauptbahnhof?’. Machen sie doch mal etwas Realitätsnäheres!"

"Zum Beispiel?"

"Lassen sie sich doch mal etwas einfallen. Sie haben doch schließlich Abitur."

Die Sonne schien durchs Fenster, wie am ersten Tag. Nur dass es nicht so war wie am ersten Tag. Die Fronten waren klar verteilt, die Gewinner und Verlierer dieser kleinen Gesellschaft waren herausgestellt. Aber woran wurde Gewinnen und Verlieren gemessen? Tim zum Beispiel hatte an dem gestrigen Tag mit Kerstin zusammen Umwelttraining gemacht. Und er hatte fast genau die gleichen Aufnahmen mitgebracht, wenn auch mit ein bißchen mehr Dehnung am Wortanfang. Aber im Prinzip war es das gleiche, und beim "Checken" der Aufnahmen hatte Herr Rawe ihn gestern noch gelobt. Warum also wurde Kerstin jetzt zur größeren Arbeitsmoral aufgefordert und Tim gestern nicht? Tim hatte ein sehr mieses Gefühl dabei, er konnte nicht einfach nur dasitzen und dem Gespräch zuhören.

"Darf ich dazu mal etwas sagen?", sagte er flüssig, so als hätte er niemals gestottert.

"Was denn, Herr Habermann?", fragte der Therapeut, ihm gegenüber aufmerksam und keineswegs gereizt.

"Man hat ja auch schon alle Läden, alle Reisebüros und so weiter durch. Ich meine, man braucht schon mehr als Kreativität, um drei mal wöchentlich vernünftige, anspruchsvolle Aufnahmen auf das Band zu bekommen. Außerdem, Herr Rawe, was ist denn mit Mark Weila und Co.?" Dabei sah Tim Mark Weila mit einem sehr scharfen Blick an.

"Was ist denn mit Mark Weila?", wiederholte der Therapeut.

"Was ist denn mit mir?", wiederholte der auf einmal noch blasser gewordene Mark Weila.

"Was bitte tut Mark Weila, um in seiner Therapie vorwärts zu kommen? Meinen sie, Musikvideos anzusehen steigert die Effektivität der Therapie?"

"Nein. Aber was hat das jetzt mit Frau Lierz zu tun?"

"Aus welchem Grund machen sie ihr das Feuer unterm Hintern, das er da längst verdient hätte?" Er zeigte auf Mark. Mark zeigte fragend auf sich selber, als hätte er seinen Namen nicht verstanden.

"Ich glaube,", mischte Frau Föhring, die gute Seele des Hauses, sich in das Gespräch ein, "dass wir das besser in einer stilleren Stunde besprechen und nun zur Tagesordnung übergehen sollten. Was meinen sie, Herr Rawe?"

"Sehr gute Idee.", stellte Herr Rawe sichtlich erleichtert fest.

"Kommen wir also nun zur Tagesordnung. Heute werden wir Telefon..."

Heute werden wir Telefontraining machen. Ja, ja. Aber ist das denn nicht egal? Sind die zwei Augen, in die ich da hineinsehe, nicht viel wichtiger? Wie wundervoll sie sich ihrem Gesicht anpassen! Und sie sehen nicht an mir vorbei, sie sehen mich an! Was wollen die nur von mir? Schließlich hat sie doch einen Freund, da darf sie mich doch nicht so ansehen!

Hat er mich gerade verteidigt? Er, der bei Herrn Rawe so beliebt ist? Netter Kerl. Aber ich darf ja nicht...

 

Um das mal zu erklären: es handelte es sich hier um die Gedankengänge zweier Menschen, die sich auf einmal als sehr seelenverwandt begriffen, beziehungsweise bei denen man vom "ersten Blick" hätte reden können, wenn es der erste Blick gewesen wäre. Es war bestimmt schon der tausendste Blick, den Tim und Kerstin ausgetauscht hatten. Und jetzt auf einmal hatte Tim nach einem Jahr Ruhepause das Gefühl, sich verliebt zu haben. Es war sehr schnell gegangen: an diesem Morgen um 10:43 Uhr hätte Tim es noch locker verkraftet, von Kerstin und den anderen getrennt zu werden. Sie waren ihm nicht mehr ganz egal gewesen, aber seine heimischen Freunde waren ihm noch wichtiger gewesen. Um 10:45 Uhr allerdings war als erschwerendes Argument hinzu gekommen, dass Tim tatsächlich in die Abgründe von Kerstin Lierz braunen Augen gefallen war.

Auch das noch!, dachte Tim. Erst die jahrelange Stottererkarriere und jetzt die Hormone eines Jungen, der durch die mit dem Stottern verbundenen Probleme seine Pubertät ein wenig hatte verschieben müssen.

 

Sven Dorn lag in seinem Bett. Er dachte über die neue Grafikkarte für seinen Rechner nach, welche er am Wochenende einbauen würde. Er lag in seinem Bett und dachte - während Tim noch auf dem Klo die letzte Etappe seiner heutigen Verdauung zu Ende brachte - verträumt daran, welche Spiele er mit der neuen Schaltzentrale in Zukunft spielen könnte. Ihm schossen Zahlen durch den Kopf, er sah Bilder in so genialen Auflösungen vor sich, dass ihm jetzt schon schwindelig wurde. Er konnte es kaum noch abwarten, bis er endlich unter seinem Schreibtisch knien würde und die letzte Schraube an der Rechnerverkleidung wieder eindrehen würde.

"Manche Leute behaupten, es gäbe nur rechtsdrehende Schrauben.", hatte einer seiner Lehrer mal gesagt. "Das stimmt nicht, es gibt auch linksdrehende Schrauben." Dabei hatte er vor Weisheit gesabbert wie ein Bernhardiner. Ganz stolz war er gewesen, aber Beispiele hatte er auch nicht nennen können. Sven selbst hatte noch keine einzige linksdrehende Schraube gesehen, und er hatte schon viele Schrauben gesehen. Tim hatte ihm neulich von seinem Philosophielehrer in der Schule erzählt, der in der ersten Stunde gesagt hätte, dass irgendein großer Philosoph mal gesagt hätte, dass die Aufgabe der Philosophie darin bestünde, zu beweisen, dass es neben weißen Schwänen auch schwarze Schwäne gäbe. So ähnlich war das ja auch mit den Schrauben.

Diesen Gedankengang unterbrach jemand namens Tim, der nach einer zehnminütigen Sitzung wieder zurück ins Zimmer kam. Er machte wortlos die Türe auf, wieder zu, setzte sich auf die Bettkante seines Bettes, legte sein Kinn auf seine Handflächen und grübelte.

Sven ließ ab von seinen Schrauben und fragte Tim:

"Was geht denn bei dir? Lief’s nichts so mit der Verdauung?"

"Doch, doch."

"So eine kurze Antwort hast du seit der Trickfreiwoche nicht mehr gegeben. Was ist denn los?"

"Ach, nichts."

"Du vermeidest jetzt aber nicht, oder?"

"Nein, keine Sorge, ich bin immer noch flüssig. Das ist es ja."

"Was? Du bist traurig, dass du nicht mehr stotterst?"

"Nein, aber ich glaube nicht so ganz daran."

"Du stotterst nicht mehr, das kann ich dir bestätigen."

"Das meine ich nicht, ich meine, wir sind kaum einen Monat hier und - sieh mich doch nur an! Ich bin doch ganz anders geworden."

"Ja. Und?"

"Veränderungen der Persönlichkeit, Sven, und auch des Sprechverhaltens sind doch ein Prozeß, oder nicht?"

"Hmm."

"Bei mir war das aber nur ein Prozeß von einem Monat. Das kann doch nicht sein, dass die Dinge, die mich vor zwei Monaten fast umgebracht hätten, übertrieben gesagt über Nacht vorbei sind. Dass sich mein Leben auf einmal so ändert, als hätte es nie ein schlechteres gegeben. Als hätte es meine Kindheit, in der ich gehänselt, abgestempelt, in meiner Entwicklung gestört wurde, nie gegeben. Als hätte ich mir den ganzen, nervenzehrenden Scheiß nur eingebildet."

"Du denkst zu viel, Tim."

Tim konnte ein bis zwei Tränen nicht verhindern.

"Aber Sven, stell dir doch nur vor, der Erfolg verschwindet genauso schnell, wie er gekommen ist. Stell dir vor, am 27.11. verabschieden wir uns, ich fahre nach Dortmund und kann mein Stottern nicht mehr kontrollieren. Was soll ich denn dann machen?"

"Ich sag doch, du denkst zu viel. Du hast doch so viel gearbeitet, dass es dir jetzt gut geht."

"Das ist es ja, nach den Strapazen mit dem ‚Trickfrei‘ habe ich doch nichts mehr getan."

"Du erwartest zu viel von dir, Tim."

"Aber was ist, wenn das gar nicht mein Verdienst war, dass ich plötzlich reden kann sondern der Verdienst der Umstände: Schonraum, gute Freunde und überhaupt die gute Zeit hier?

"Mann, jetzt hör doch auf damit, ey! Du bist mir vielleicht ne Pflaume! Akzeptiere doch deinen Erfolg, und was viel wichtiger ist: kümmere dich lieber um deine Frau! Dann kommst du auch mal auf andere Gedanken."

"Welche Frau?"

"Na, Kerstin, so wie du die heute angesehen hast, mußt du dich doch schon verdammt auf morgen früh freuen. Oder?"

"Ich freue mich nie auf den Morgen."

"Ja, aber auf den Morgen mit Kerstin doch bestimmt?"

"Ja, stimmt ja, ich bin verschossen, aber ich weiß nicht, ob das förderlich für die Therapie ist."

"Hömma, die Therapie läuft doch gut, und ich glaube, als richtiger Mann schafft man die Therapie noch besser."

"Woher weißt du, dass ich kein richtiger Mann bin?"

"Ich glaube, wenn du eine Freundin hättest, wüsste ich das einfach. Auch, wenn du schon eine gehabt hättest, hättest du mir das bestimmt schon erzählt."

"Aber zum Beispiel gibt es ja auch noch die Möglichkeit eines One-Night-Stands oder so."

"Ich weiß nicht wieso, aber ich traue dir sowas nicht zu."

"Stimmt ja, ich bin ‘ne Jungfrau. Was ist mit dir?"

"Da gibt’s so’n Mädel in Hagen. Paskalia heißt sie. Griechin, verdammt hübsch."

"Schon angesprochen?"

"Wie denn von hier aus?"

"Also auch unerfahren, ja?"

"Jau."

"Zieh’ dir das ‘rein, Alter: Stotterer, Jungfrau, was kommt als nächstes?"

"Vielleicht taub oder blind.", überlegte Sven.

"Oder querschnittsgelähmt."

"Impotent."

"Zwitter."

"Schwul."

"Die Krätze oder Exeme, Schuppen ohne Ende, Alkoholiker, arbeitslos."

"Hey, das ist doch das optimale Gegenstück vom Arier!", sagte Sven, "Ein impotenter Stotterer, der sich zu Männern hingezogen fühlt, die allesamt potthäßlich sind, weil er sie aufgrund seiner Blindheit nicht sehen kann. Außerdem kann er nicht verstehen, wieso diese Männer nur eine Nacht mit ihm zusammenbleiben: die Haut seines Geschlechtsteils ist total schuppig, so dass sich jeder ekelt, der mit ihm Geschlechtsverkehr hat."

 

So alberten die beiden noch die halbe Nacht herum, und gegen drei schliefen beide mit dem Versprechen im Hinterkopf ein, dass sie sich gegeben hatten: "Ich versuche, Kerstin zu erobern, wenn du das bei Paskalia tust."

 

 

 

Gerd Eggers

 

 

Er hatte heute eine Menge zu tun: erstmal musste er im Büro die neuen Mietverträge vorbereiten. Danach hatte er sich mit einigen Interessenten zu Wohnungsbesichtigungen verabredet. Das war schon eine schöne Sache, wenn man die nötigen Beziehungen hatte. Es war Herrn Gerd Eggers gelungen, als Projektmanager einer großen Appartmentanlage im Ruhrgebiet eingestellt zu werden. Er kümmerte sich darum, dass der Hausmeister gut arbeitete, dass die Kunden zufrieden waren, dass neue Kunden hinzukamen. Den ganzen Tag saß er in seinem Büro und kümmerte sich um die Verwaltung dieser Anlage. Was ihn ein wenig störte war, dass jenes Büro sich im Keller befand und dass deswegen kein Blick nach draußen zu erhaschen war. Deswegen freute er sich stets, wenn er Interessenten oder Interessentinnen - ganz besonders die letzteren - eine leerstehende Wohnung zeigen durfte. Denn dann hatte er erstens Gelegenheit, an die frische Luft zu kommen, zweitens konnte er den Interessentinnen auf den Po gucken, wenn sie vor ihm herliefen, und drittens konnte er Geschäfte machen. Und auf dieses "drittens" kam es schließlich an.

Seine Frau war in dieser Woche nach Stuttgart gereist, da es ihrem Vater wohl momentan nicht so gut ging. Was der Mann genau hatte, dass wusste Gerd Eggers nicht, aber im Prinzip war ihm das auch egal. Er hatte nie ein besonders gutes Verhältnis zu seinem Schwiegervater gehabt, er war eben der Vater seiner Frau, was ihn aber nicht gleich zu einem Verbündeten machen musste. Die Mutter war ganz in Ordnung, sie war mit ihren 65 Jahren schon etwas senil aber noch nicht sehr. Sie paßte nicht so gut zu ihrem Ehemann, der eher konservativ veranlagt war. Sie war eigentlich relativ flott, was ihre Tochter ihr sehr gut abgeguckt hatte, wenn man mal davon absah, dass sie es nicht mochte, wenn Gerd von seinen neuen Interessentinnen berichtete. Die Frau war nun in Stuttgart, und Gerd musste Objektmanager, Hausmann und Hundeaufpasser spielen. Außerdem war blöderweise am Auto etwas kaputt, das er an diesem Tag zur Werkstatt bringen musste. Die linke Tür war auf einmal nicht mehr zugegangen, so dass Gerd den Wagen in der letzten Nacht so nahe an seiner Hauswand parken musste, dass niemand in ihn hineingelangen konnte.

Er hatte also wirklich viel zu tun, und in Anbetracht dessen war er heute auch nicht in der Stimmung, den Interessentinnen auf den Po zu glotzen.

"Sag mal, Ralph?", schrie er hinüber in das Hausmeisterbüro, das direkt gegenüber lag.

"Hä?"

"Hömma, Ralph? Wat is denn mit Samstach eigentlich?"

"Wat war da denn nochmal?"

"Da wollten wa doch alle Fußball gucken."

"Ach ja, meinsse die schaffen den Aufstieg?"

"Ne, glaub ich nich, aber wär geil, wenn die wenigstens die Bayern einmal umhauen könnten. Am Samstag bei mir, ja? Meine Frau is bei ihrem Papa, der is wohl nich so gut drauf momentan. Ich hol ‘ne Kiste Bier, so gegen drei, ja?"

"Alles klar. Ich sag den anderen Bescheid, woll?"

 

Fußball war schon eine schöne Sache, da konnte man regelmäßig das Tier herauslassen und musste sich noch nicht einmal dafür schämen. Sonst musste man ja immer irgendwelche gesellschaftlichen Normen befolgen, zum Beispiel, dass man höchstens unbemerkt auf den Po der Interessentinnen glotzen durfte, oder dass man einer alten Frau die Tür aufhält, obwohl man doch schnellstens verschwinden müsste. Aber am Wochenende - beim Bier und Fußball - da gab es keine gesellschaftlichen Normen, da gab es nur noch das, wozu man eigentlich lebte, nämlich um seinen Spaß zu haben.

 

Gerd Eggers war am 18.10.1950 geboren worden und zwar von seiner Mutter. Diese hatte Mechthild geheißen und war mittlerweile leider schon tot. Mechthild Eggers, geborene Salema, hatte 1948 ihren Mann Jakob kennengelernt, der 1949 zur Zeugung des ersten Kindes Klaus und 1950 zu der des zweiten Kindes, bekanntermaßen Gerd, in der Lage gewesen war. Beide Kinder waren katholisch erzogen worden, zwar nicht streng, aber schon so, dass die beiden auch heute noch den inneren Drang verspürten, am Sonntag in die Kirche zu gehen.

Jakob Eggers war Kaufmann gewesen, ein Kaufmann im Außendienst, sprich, er war den ganzen Tag in ganz Deutschland unterwegs gewesen, hatte hier und da Geschäfte abgeschlossen und so weiter. Was das genau für Geschäfte gewesen waren, hatten die Kinder nicht gewußt. Es war eben damals schon so gewesen, dass die Kinder nicht ganz genau wussten, was die Eltern so trieben und umgekehrt. Man wusste zwar die Berufsbezeichnung, aber man kannte verständlicherweise nicht alle Erfahrungen des beruflichen Alltags des anderen. Musste man ja auch nicht.

Die Mutter war Hausfrau gewesen, hatte aber nebenbei die Haare ihrer Nachbarn geschnitten, um ein wenig Geld für sich selber zu haben.

Alles in allem war das Aufwachsen in diesem Elternhaus recht langweilig gewesen: gut behütet, nahezu sorglos, nicht zu autoritär aber auch nicht zu lasch. Der um ein Jahr ältere Bruder hatte die größten elterlichen Barrieren durch wochenlanges Herumgezanke stets überwunden, so dass der kleinere Sprößling einfach nur hatte abwarten müssen, bis große Tabus in der Familie erst zu kleineren Tabus geworden und dann im Nichts verschwunden waren. Ein tolles Leben, aber trotzdem langweilig.

Dann war eine der bekanntesten Jahreszahlen der Nachkriegsgeneration in Gerds Erfahrungshorizont gekommen: 1968. Für Gerd hatte das nichts bedeutet. Er war bestimmt der einzige Mensch gewesen, der keiner Band beigetreten war und er hatte auch keine langen Haare gehabt. Denn er hatte wie gesagt nie kämpfen müssen, musste also auch kein Zeichen gegen seine Eltern setzen. Trotzdem war er natürlich mit den Hippies zusammengewesen, denn sie hatten ihm ja nichts getan und nur weil seine alten Kumpels sich die Haare hatten lang wachsen lassen, hatte er sie ja nicht verstoßen müssen. Er hatte mit ihnen abgehangen, hatte in dieser Zeit auch seine Unschuld in einem Blumenkind verloren und sie – die Unschuld - niemals mehr wiedergefunden. Selbst die Musik war ihm nicht zuwider gewesen, aber so richtig begeistert hatte er sich dafür nie. 1968 war vergangen, 1969 auch, 1970… Dann hatte er 1975 seine Frau kennengelernt, möglichst schnell geheiratet und festgestellt, dass er seinem Vater in einer Beziehung nicht das Wasser hatte reichen können: in der Zeugung eines Kindes. Nicht dass er überhaupt nicht fähig gewesen wäre, mit seiner Angetrauten ein wenig Spaß zu haben, aber die Samenzellen waren nicht schnell genug gewesen, um bis zur entscheidenden Stelle vorzudringen. Die beiden waren also kinderlos geblieben und hatten sich stattdessen einen Hund angeschafft, der für Gerd wesentlich angenehmer als ein von seiner Frau so erwünschtes Kind gewesen war. Denn Hunde stellten keine Fragen, die man nicht beantworten konnte.

Der Hund - oder eigentlich die Hündin - hatte eines Tages geworfen, weil er sich mit einem Streuner angefreundet hatte, der Gerd demnach ebenfalls diesbezüglich ein Vorbild hatte sein können. Drei der sechs Hundebabys waren - ohne das Einverständnis der Mutter - weggegeben worden, drei hatten es geschafft, bei der Mutter zu bleiben.

Nun waren es also vier Hunde, die in dem Haus der Eggers Kinderersatz spielen durften. Diese warteten momentan auf Gerd Eggers Heimkehr, da sie natürlich Hunger hatten und Auslauf brauchten. Gerd Eggers ging gerne mit ihnen raus, denn dann hatte er Zeit zum Denken. Darüber nachzudenken, ob das wirklich alles für ihn gewesen war. Er fühlte eine Leere in seiner Seele, die nicht von ungefähr war: es war alles glattgelaufen in seinem bisherigen Lebenslauf, zu glatt. Er hatte nicht kämpfen müssen, daher waren die Muskeln, die man sonst zum Kämpfen brauchte, eines Tages eingegangen. Und dieser Muskelschwund jagte Gerd auf einmal Angst ein. Er wusste oft nicht, ob er dem Leben an sich gewachsen war und fragte sich, ob er diese Muskeln nicht mal trainieren sollte, indem er- einfach… ging. Ja, er könnte gehen, seinen Job an den Nagel hängen und einen neuen anfangen. Oder sich auch mal ein wenig als Lebenskünstler versuchen. Irgendwas, nur um sich selbst zu beweisen, dass man es noch drauf hatte.

Darüber dachte er bei den Spaziergängen mit den Hunden nach. Gerd hatte hier eben Gelegenheit, in Gedanken eine Seite an sich auszuleben, die ihm eigentlich nicht gefiel. Eben diese Nachdenkerseite. Eigentlich war er nämlich eher der Mensch, der stets in die Offensive ging: er wusste ja, dass er gewinnen würde; denn ohne Kampf konnte man nicht verlieren. Man musste den Feind besiegen, bevor er zur ernsten Bedrohung wurde, das wusste Gerd und praktizierte es auch ständig. Mit anderen Worten hieß das: sich im Verkehr stets die Vorfahrt nehmen, den InteressentInnen die Wohnungsverträge vorlegen, bevor sie sich überhaupt sicher waren, ob sie einziehen wollten oder nicht; seiner Frau zeigen, wer der Boß war, wenn auch nicht so offensichtlich; und vor allen Dingen überall, wo es Streit geben könnte, die Ellenbogen präventiv einsetzen. Gerd war somit abgesichert, musste immer noch nicht kämpfen. Doch wie gesagt hatte Gerd eine perverse, noch unterdrückte Lust dazu, den Feind wenigstens einmal erst dann zu besiegen, wenn er eine Bedrohung war. Es war nicht schwer, in die Offensive zu gehen, wenn es keine Defensive gab: die Eltern, die damals schon vom großen Bruder weichgeklopft worden waren, hatten keine Abwehr mehr besessen. Die InteressentInnen, die zumeist noch nie eine eigene Wohnung besessen hatten, waren argumentativ absolut überfordert, konnten also auch schnell überlaufen werden: "Ich beneide sie ja um den Ausblick den sie haben werden", hatte er gestern noch gesagt, wobei er auf den Mülltonnensammelplatz gedeutet hatte, "ich hingegen habe mein Büro im Keller und somit gar keinen Ausblick...".

Nein, sowas war nicht schwer. Schwer wäre es zum Beispiel, mit einer eigenen Partei an die Spitze der Macht zu gelangen oder dafür zu sorgen, dass Gerd Eggers als einziger im ganzen Ruhrgebiet Wohnungen vermieten durfte. Aber das waren alles Spinnereien. Fakt war, dass es Gerd sehr gut ging, und dass er es nicht verstehen konnte, wenn sich andere Leute darüber beschwerten, dass es ihnen nicht gut ging. Er vertrat die alte Auffassung, die viel mit der großen Handwerkskunst des Schmiedes zu tun hatte, ohne daran zu denken, dass er selber nie seines eigenen Glückes Schmied gewesen war.

Gerd Eggers hatte an diesem Morgen wütend auf seinen Wecker gehauen, der ihn einfach nie in Ruhe lassen konnte. Es war sieben Uhr gewesen, eigentlich gar nicht so früh, aber er wäre eben gerne später aufgestanden. Er blieb gerne etwas länger wach, da er die Nacht äußerst interessant fand. Manchmal ging er noch nachts alleine spazieren, einfach so, ohne Ziel und Richtung. Und wenn er dann so um ein Uhr seine Zähne putzen ging und sich überlegte, dass er nur noch sechs Stunden Zeit zum Schlafen hatte, wurde er immer so sauer darüber, dass es noch lange dauerte, bis er einschlief. Die effektive Schlafzeit belief sich also nur auf ungefähr fünf Stunden und das jede Nacht. Da durfte man schon mal müde sein, wenn man um sieben Uhr aufstehen musste. Auch wenn der Job, den er auszuführen hatte, an sich recht lasch war und nur wenig Konzentration erforderte.

Er war aufgestanden, hatte sich unter die Dusche geschleppt, geduscht, sich rasiert, seine Arbeitskleidung angezogen, war an den Küchenschrank gegangen und hatte eine Packung Kellogg’s Frosties herausgeholt. Er aß diese Dinger bestimmt schon seit Jahrhunderten oder länger jeden Morgen, das Zeug war ja auch schließlich gesund. Er hatte seinen Teller damit gefüllt, bestimmt einen halben Liter Milch darüber gegossen und gefrühstückt. Zehn Minuten später war er damit fertig gewesen und hatte sich eine Kippe angezündet. Gerd hatte darüber nachgedacht, dass die Tabakindustrie neben der Brötchen- und Zeitungsindustrie die einzige Institution war, die noch vor Sonnenaufgang ein Vermögen verdiente. Aber es war wohl auch die Tabakindustrie, die ohnehin - auch nach Sonnenaufgang - das meiste Geld verdiente. Es war Gerd jedoch egal, wer momentan von seiner ersten Zigarette profitierte, die Hauptsache war, dass er sie rauchen durfte.

Nach dieser ersten Zigarette hatte er die Hunde gerufen, sie angeschnallt und war mit ihnen in die kalte Morgenluft hinaus gegangen. Die Hunde hatten sich gefreut, endlich ihre Notdurft verrichten zu dürfen. Als sie das getan hatten, war Gerd Eggers mit ihnen zurück ins Haus gegangen, hatte sich herzlich von ihnen verabschiedet und war wieder hinausgegangen. Dann hatte er sich in sein Auto gesetzt, dass die ganze Nacht darauf gewartet hatte, repariert zu werden. Er war losgefahren, in Richtung Renault-Werkstatt. Unterwegs waren ihm noch einige rote Ampeln, rote Bremslichter, vorschriftsmäßige Fahrer, alte Omas, die den Zebrastreifen ernst nahmen und so weiter auf den Zwirn gegangen, so dass er miesgelaunt die Werkstatt betreten hatte.

Er hatte den Wagen abgeliefert, hatte beim Rausgehen noch den Spruch "Um fünf, Herr Eggers!" entgegengenommen.

Dann war er zum ersten Mal in seinem Berufsleben mit dem Bus zur Arbeit gefahren. Ein Bus, in dem so einige Schulkinder herumgetollt hatten. Gerd hatte die Welt nicht mehr verstanden. Er hatte sich unbemerkt in den Schritt gefaßt und sich gedacht: Danke, Alter, dass du mich vor dieser Kinderplage verschont hast!

Der Bus hatte ihn dann direkt vor seinem eigenen Reich herausgelassen. Es ist meine Anlage, eigentlich sollte ich demnächst mal das Halten von Kindern verbieten!, hatte er sich gedacht und hatte dann erhaben wie ein Luxusdampfer den Eingang seines Reichs betreten.

Es war hier noch niemand unterwegs gewesen, was wohl daran gelagen haben könnte, dass ein großer Teil der Mieter in die soziale Schicht der Studenten fiel. Es konnte Gerd Eggers nur recht gewesen sein, dass so früh noch niemand etwas von ihm gewollt hatte.

Er hatte den Schlüssel von seinem Büro gesucht, ihn gefunden, damit die Bürotür aufgeschlossen, drinnen die Kaffeemaschine angestellt und seine Füße auf den dafür vorgesehenen Schreibtisch gelegt, um ein wenig zu entspannen.

 

So verharrte er nun schon seit einer Viertelstunde, als es plötzlich an der Tür klopfte. Mit einer schwungvollen Bewegung seiner Beine verließ er seinen Schreibtisch, öffnete die Tür und suchte nach der Person, die geklopft hatte. Das lag daran, dass die Person eine Rollstuhlfahrerin war. Das erkannt Herr Eggers dann auch gleich und versuchte, seine Überraschung zu verbergen.

"Guten Morgen, ich bin die Frau Czech.", rief sie ihm entgegen und streckte ihm die Hand hin.

"Ähm, Eggers.", erwiderte er verwirrt.

"Ich bin hier wegen der Wohnung, die bei Ihnen frei geworden ist."

"Ja, richtig, wir hatten gestern telefoniert, stimmt’s?"

"Genau."

Wie erkläre ich ihr denn jetzt, dass die Wohnung im fünften Stock ist und es keinen Fahrstuhl gibt?

"Kommen sie doch herein!"

Sie fuhr in ihrem Stuhl an ihm vorbei und steuerte zielstrebig ins Büro, als sei sie schon einmal dort gewesen.

"Es gibt allerdings", sagte er während er die Tür schloß und dem Hausmeister zuzwinkerte, "noch ein Problem bei der Sache, das sie sich vielleicht bei der Zimmernummer 514, die ich ihnen ja nannte, hätten denken können."

"Und das wäre?"

"Dass sich die Wohnung im ersten Stock befindet."

"Und? Gibt es keinen Fahrstuhl?", fragte Frau Czech optimistisch gestimmt.

"Nein, gibt es nicht."

"Gibt es nicht.", wiederholte Frau Czech ein wenig enttäuscht.

"Aber wie gesagt, daran hätten sie wirklich auch schon vorher denken können."

"Vorher denken können? Sagen sie mal, das ist doch wohl nicht ihr Ernst, oder? In jedem mehrstöckigen Haus gibt es einen Fahrstuhl!"

"Trotzdem, sie hätten mir sagen sollen, dass sie gehbehindert sind, damit hätten sie mir und ihnen selbst ‘ne Menge Zeit gespart."

"Das glaube ich ja wohl nicht, dass sie sowas wirklich ernsthaft behaupten können!"

Beide waren nun schlagartig stark genervt und bald entstand daraus ein heftiger Streit, bei dem etwas passierte, was bei heftigen Streits immer passiert: Gerd Eggers ließ seine Überzeugung heraus, dass sowieso schon viel zu viel Geld für behindertenfreundliche öffentliche Einrichtungen ausgegeben würde und dass er dieses Geld nicht investieren würde. Nicht für nur eine Person. Daraufhin verließ Frau Czech stinksauer das Büro und die beiden sahen sich zum letzten Mal in ihrem Leben.

 

 

 

Einstweiliger Abschied

 

 

Der Fernseher lief: irgendeine Soap auf RTL oder SAT.1 oder auf einem dieser anderen Sender, die schon längst alles gezeigt hatten, was es im Fernsehen zu sehen gab. Es war der letzte Tag vor der vierwöchigen Sommerpause, in der die Klinik auf Vordermann gebracht werden sollte. Es hatte an diesem Abend ein Festessen gegeben, bei dem restlos alle anwesend gewesen waren: die vier Mitarbeiterinnen Frau Bittner, Frau Kronies, Frau Föhring und Frau Lindauer; die Praktikantin Gabi, die längst nur noch "Tante Hyller" genannt wurde und der "Chef", der Therapeut. Alle waren gekommen, um die vier Wochen Freizeit und Abstand voneinander zu begrüßen. Es hatte Racklet gegeben - Frau Kronies und Frau Lindauer hatten ihre Racklet-Teller von zu Hause mitgebracht - und die Stimmung war wirklich gut gewesen. Paolo Maccello hatte sein Kofferradio aus dem Zimmer geholt und ein wenig Ghetto-Musik aufgelegt, was besonders Herrn Rawe nicht ganz so besonders gefallen hatte.

Das Essen hatte bestimmt insgesamt zwei Stunden gedauert, während derer einige sehr gute - - kontrollierte - Unterhaltungen stattgefunden hatten, was Herrn Rawe schon besser gefallen hatte. Es war sogar erlaubt gewesen, eine Flasche Wein miteinander zu trinken, obwohl ja ansonsten in der gesamten Klinik absolutes Alkoholverbot herrschte.

Herr Rawe war dann irgendwann aufgestanden, hatte seinen Mopedhelm genommen, einmal auf den Tisch geklopft und gesagt: "Nun gut, ich werde dann mal nach Hause fahren. Meine Frau wartet. Viel Glück in der nächsten Zeit, sie kennen ja ihre Telefontermine, die wir ausgemacht haben. Und denken sie daran: es gilt auch zu Hause folgendes: es ist nicht das Ziel, nicht zu stottern; das Ziel ist es, mit dem Stottern gut umzugehen, es zu kontrollieren; vermeiden sie nicht das Stottern, wenn die erlernte Sprechkontrolle nicht mehr greifen sollte! O.k.?"

Zustimmendes, aber dennoch unmotiviertes Gemurmel seitens der Kursteilnehmer.

"Dann bis demnächst und einen schönen Abend noch."

 

Mittlerweile hatten sich sowohl Frau Bittner, Frau Lindauer als auch Frau Kronies verabschiedet und nur noch Frau Föhring ging im Büro ihrer Lektüre nach, während die Gruppe mit vollen Mägen vor der Glotze saß und diese besagte Soap verfolgte. Die Gruppe saß wie folgt nebeneinander: Mark, Magdalena, Jakob, Claudia, Nicole, Paolo, Sven, Manuel, Jochen, Thomas, Tim und Kerstin. So saßen sie bis die Sendung zu Ende war und die meisten verließen auch in dieser Reihenfolge den Raum ("Gute Nacht."): Mark, Magdalena, Jakob, Claudia, Nicole, Paolo - die nächsten drei blieben sitzen, Thomas zog sich zurück, Tim und Kerstin blieben ebenfalls auf ihren Stühlen kleben. Sie waren also noch zu fünft im Raum, komischerweise waren sie schon seit Wochen die letzten, die aufblieben und das, obwohl Sven und Tim eigentlich zu den ersten gehören sollten, die ins Bett zu gehen hatten.

"Also die Frau Föhring", sagte Kerstin, "würde ich echt gerne mit nach Hause nehmen."

"Frag’ sie doch mal nachher, ob sie mitkommt", erwiderte Sven.

"Ja, ich glaube, das ist gar keine schlechte Idee."

"Die sind doch hier alle recht nett.", warf Tim ein und bekam zustimmende Blicke von Jochen und Manuel entgegengeworfen.

In der Tat konnte die Gruppe sich kaum eine bessere Therapiemannschaft vorstellen, denn die vier Mitarbeiterinnen ergänzten sich gegenseitig sehr gut: die weise Frau Kronies hatte immer ein offenes Ohr für die "Problemfälle" der Gruppe, Frau Lindauer und Frau Föhring setzten sich für die Interessen der Gruppenteilnehmer bei dem Therapeuten ein, während Frau Bittner sich für die Interessen des Therapeuten einsetzte. Zusammen waren sie ein richtig gutes Team, und man konnte sich keine besseren Kontaktpersonen vorstellen. Herr Rawe selber war eine einzigartige Kompetenz auf dem Gebiet des Stotterns, die wirklich jeden Teilnehmer der Gruppe verblüffte. Er war eben ein Vorbild. Und Tante Hyller schließlich - die eigentlich nur vorübergehend zur Mannschaft gehörte - sorgte durch ihre Offenheit und Einsatzbereitschaft stets für gute Stimmung. Mit anderen Worten: die sechs hatten die Gruppe dermaßen motiviert, dass restlos alle - selbst Magdalena und Mark - dort angelangt waren, wovon sie eigentlich irgendwann - frühestens aber am Ende der Therapie - sich erstmals zu träumen erlauben wollten. Eigentlich alle waren verdammt glücklich über diese positive Entwicklung, abgesehen von Jochen Worrenfeld, bei dem die Häufigkeit seiner Stotterblockaden bisher verhindert hatte, dass er die erlernten Techniken so einsetzen konnte, dass sie zu einer hohen Redeflüssigkeit hätte führen können. Aber Herr Worrenfeld schien dennoch recht zufrieden zu sein, denn immerhin funktionierten diese Techniken ab und zu mal und außerdem hatte Herr Worrenfeld bereits vernommen, dass im nächsten Stadium der Therapie eine neue Technik folgen würde, von der er sich sehr viel versprach: es ging hier um das zeitliche Dehnen ganzer Sinnabschnitte und die Erzeugung eines kontinuierlichen Stimmflusses, mit dem Effekt einer sehr hoehen Flüssigkeit, auch bei "Kettenstotterern", wie sich Tim, Manuel und Jochen des öfteren gegenseitig nannten.

Aber jetzt kamen ja zuerst einmal die Ferien, die die Gruppe sich erstens verdient hatte und in denen sich zweitens zeigen würde, inwieweit die Techniken tatsächlich helfen würden; sprich: es ging hier um den Alltag. Die ganze Gruppe fuhr zwar jedes Wochenende nach Hause, wo sie den Therapieerfolg umsetzen sollte, allerdings handelte es sich nur um zwei Tage, aber keiner wusste, wie die Zunge sich nach mehreren Wochen Eigentherapie entwickelt haben würde. Demnach waren alle sehr gespannt auf die Zeit zu Hause, fast alle: der gute Paolo und auch der gute Sven nahmen das alles sehr gelassen, und Claudia Schmidt wusste ja sowieso schon aus ihrer ersten Therapie, wie die Zeit verlaufen würde.

"Hömma, was haben wir da eigentlich gerade im Fernsehen gesehen?", fragte Tim, der das wirklich nicht so genau wusste, denn er hatte seinen Blick auf die einzige Frau in der Runde gerichtet: Kerstin Lierz, die wahrlich das war, was die alte Floskel "andere Mütter haben auch schöne Töchter" aussagte, nämlich dass Kerstin Lierz Mutter eine schöne Tochter hatte. Allerdings war es auch zu vermuten, dass man als Mann nach mehreren enttäuschenden Versuchen, genau diese schöne Tochter zu erobern, diesen Satz zu hören bekommen könnte, und dass er dann die Aussage hätte, dass man sich doch lieber ein anderes Mädchen aussuchen sollte. Kurz: Kerstin Lierz war für Tim eine Traumfrau. Das hatte er ihr zwar noch nicht gesagt, aber er hoffte insgeheim, dass Kerstin dies zu ihm sagen würde, allerdings dann in der männlichen Version: "Tim, Du bist mein Traummann!" Sollte er den ersten Schritt gehen oder sollte er es Kerstin überlassen?

 

"Das war ‘Gute Zeiten, schlechte Zeiten’, kennst du das nicht?", antwortete Sven Dorn.

"Woher meinst du soll ich das kennen?"

"Aus dem Fernsehen?", meldete sich Manuel Hartner zu Wort.

"Bist du doof, Tim!", rief Jochen von der hinteren linken Ecke herüber.

"Echt!", bestätigte Kerstin.

"Meinst Du das wirklich, Kerstin?", fragte Tim, während er beim Anblick dieser Frau versteinert dasaß wie die Kids, die durch das Licht von Kings "ES" handlungsunfähig gemacht werden..

Aber sie war natürlich noch handlungsfähig.

"Nein, das glaube ich nicht.", sagte sie mit einer gespielt ernsten Stimme.

"Schön!", sagten Tims Augen und sein neuerdings schnell laufendes Sprechorgan gleichzeitig. Tim kostete diesen Anblick lange aus - wie sie da auf diesem unbequemen Therapiestuhl saß, ihre langen Haare halb über das Gesicht geworfen, ihre Brüste aufreizend unter dem T-Shirt; und in der Mitte ihres Gesichts, sozusagen dass Zentrum ihrer Schönheit: die grünbraunen Augen, die einfach wunderbar in ihr Gesicht paßten.

"Was kommt denn jetsse?", schüttelte Manuel Hartner Tim aus seinen Sommernachtsträumen. Der hatte bestimmt gemerkt, dass Tim dabei war, sich in Kerstins Augen zu ertränken. Noch halb benommen und wirklich dankbar für diese Rettung sagte Tim:

"Danke, mein Freund!"

"Wofür?", fragte Manuel zurück.

"Dass du mich daran erinnert hast, dass jetzt Balko im Fernsehen läuft."

"Balko? Ist das nicht dieser Ruhrgebietsinspektor?"

"Ja genau, der hängt immer in Dortmund an einer Pommesbude rum, an der ich mir auch mal vorm Fußballspiel Fritten geholt habe."

"Fußball? Du? Das traue ich dir ja gar nicht zu.", sagte Kerstin.

"Ach, ab und zu kann man mal ins Stadion gehen und ein lustiges Liedchen trällern, finde ich."

"Na, ja, wenn du meinst..."

"Ich meine."

"Du gehst da doch nur hin, weil du saufen willst.", erwiderte Jochen.

"Apropos saufen!", fiel Tim ein, "sollen wir nicht was trinken?"

"Was denn?"

"Ich habe für heute Abend zwei Flaschen Wein eingekauft, vom Besten. Die könnten wir uns doch zur Feier des Tages genehmigen, oder?"

Jochen nickte zustimmend, Manuel war auch nicht abgeneigt, Sven war militanter Antialkoholiker und Kerstin machte sich direkt fertig, um ein paar Gläser zu holen.

Aus dem Flur hörte man noch: "Frau Föhring, gibt es Weingläser in dieser Anstalt?"

"Ich glaube schon, guck mal in der Vorratskammer nach."

"Haben Sie den Schlüssel?"

"Moment, ich komme..."

 

Tim sah zuerst Kerstin, dann der Tür hinterher, die sich langsam schloß. Er dachte darüber nach, was überhaupt los war. War es denn schon so lange her, dass seine Eltern ihren wehrlosen Sohn hier abgesetzt hatten? Dass er Kerstin Lierz kennengelernt hatte? Und Sven, Manuel, Jochen...? War es schon so lange her, dass er mit bleichem Gesicht vor der laufenden Videokamera gesessen hatte und über die Rückenschmerzen geheult hatte, die er als "Spätfolgen des Stotterns" bezeichnet hatte? Die Zeit bis zur Sommerpause war so schnell vergangen. Es waren zwar nur sieben Wochen gewesen, die sie hier verbracht hatten, aber Tim kam es nun so vor, als hätte es sich lediglich um eine Woche gehandelt. Die zweite Phase, das wusste er bereits, würde zehn Wochen dauern, ein wenig länger, aber nicht lang genug. Mittlerweile fühlte Tim sich hier dermaßen pudelwohl, dass er gar nicht mehr nach Hause fahren wollte. Er hatte hier seine Freunde, seinen Tagesablauf ohne Angst und vielleicht auch seine Liebe. Denn er hatte das Gefühl, dass er in Kerstin Lierz seine erste große Liebe gefunden hatte. Er mochte sie sehr gerne leiden und sie ihn offenkundig auch. Ob sie ihn liebte, wusste er nicht - sie hatte ja schließlich noch ihren Freund. Aber er wusste, dass er sie liebte. Er fühlte sich extrem zu ihr hingezogen und wenn sie ihn ansah war es so, als wäre er kein Individuum mehr. Ja, fast so, wie damals, als er noch stark gestottert hatte. Während er sich damals darüber geärgert hatte, dass ihm die Verkäuferin alle Wörter aus dem Mund genommen hatte und ihm somit verboten hatte, sich mündlich auszudrücken, hätte er sich heute darüber gefreut, wenn Kerstin Lierz sein Leben in die Hand genommen hätte, oder zumindest sein Herz.

Aber jetzt sollte es ja ins Dorf zurückgehen, in die Provinz, in dem - abgesehen von seinen Freunden, denen er dankbar für ihre Toleranz war - diese Idioten auf ihn warteten, die gar keine Ahnung hatten, was es hieß, ein so intensives Leben zu führen wie er es hier tat. Er wollte nicht zu diesen Unwissenden zurück, er wäre wirklich am liebsten mit den Leuten hier für immer zusammengezogen.

Kerstin kam zurück. Sie hatte vier Weingläser, ein normales Trinkglas und einen Tetra Pak mit Orangensaft in der Hand.

"Das ist für dich.", sagte sie zu Sven und gab ihm das normale Glas in die Hand. Den Orangensaft stellte sie auf den Boden. Im Hintergrund war Balko gerade angefangen.

"Hast du den Wein noch nicht geholt?"

"Au, ja!" Tim stand auf und an seinem verklebten T-Shirt wurde ihm auf einmal wieder bewusst, dass es noch immer Hochsommer war. Irgendwann hatte er sich so an die brütende Hitze während der Therapie gewöhnt, dass er sie kaum noch wahrgenommen hatte. Mag sein, dass dies auch an seiner momentanen Gemütsverfassung gelegen hatte.

"Will Frau Föhring auch einen Wein?", warf Manuel Hartner ein, während Tim in Zimmer 16 verschwunden war, um den Wein zu organisieren.

"Nein.", antwortete Kerstin. "Die fährt gleich nach Hause."

Tim kam wieder mit zwei Flaschen Chardonnay, und es zeigte sich mal wieder, dass es eine gute Entscheidung von Mutter Natur gewesen war, dem Menschen zwei Hände zu geben; denn nur mit einer Hand hätte Tim nie im Leben beide Flaschen tragen und dann auch noch die Tür öffnen können.

"Kann den jemand aufmachen, beziehungsweise hat jemand einen Korkenzieher?"

"Kannst du denn gar nichts selber?", entgegnete Manuel.

"Ich hole einen aus der Küchenschublade.", gab Tim klein bei.

Balko bekam gerade was auf die Nase, während draußen die angefangene Sommernacht ihre Fühler ausstreckte.

 

Wenig später hatten dann alle - ausgenommen von Sven Dorn - ihren wohlverdienten Wein in der Hand, genossen ihn und Balkos Platzwunde am Kopf.

"Wann fängt die Therapie wieder an?" Kerstin wollte das wissen.

"Irgendwann im September." Das wusste Tim.

"Oh Mann, schon so früh?"

"Wieso, freust du dich nicht, mich so bald wiederzusehen?"

"Ach Tim, ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, aber man muß die Vor- und Nachteile abwägen, verstehst du das?"

Tim war der Rest des Satzes egal, er hatte nur bis ‘nichts Schöneres vorstellen’ zugehört, und war dann abgedriftet in eine Hoffnungs-Illusion-Welt. Hatte sie das denn wirklich gesagt, hatte sie denn wirklich ihn damit gemeint.

"Tim?" Kerstin.

"Tim?" Manuel.

"Ti-im?" Kerstin.

Tim schreckte auf.

"Jau!!! Ich habe gerade ein wenig geträumt."

"Wovon denn?", wollte Jochen wissen, der heute Abend etwas schweigsam war.

"Von den letzten sieben Wochen. Woher kommen eigentlich diese ganzen Erfolge, die wir gemacht haben?" Dabei runzelte Tim die Stirn, fast so wie noch vor kurzem, als er dies bei nahezu jedem zweiten Wort getan hatte.

"Von dir, du Heini!", nahm er aus Svens Mund wahr; er nahm aber nicht war, dass das ‘du Heini’ nicht aus Svens sondern aus Balkos Mund kam, der sich gerade für seine Platzwunde revanchierte.

"Das glaube ich nicht. Gut, ich habe viel getan und so, aber ich kann den Erfolg nicht glauben. Es ist so, als ob - nein." Er senkte den Kopf.

"Was denn?" Alle Augen waren auf Tim gerichtet, dessen Körper zum ersten Mal in diesen vier Wochen eine leicht demütige Vorwärtskrümmung aufwies.

"Ich habe das Gefühl, dass ich diesen Erfolg nicht haben darf, ihn - - nicht verdient habe. Versteht ihr? Ich meine, jahrelang sind da diese Menschen um mich herum, die mich mehr ertragen als akzeptieren und die mir andauernd die schönsten Steine, die sie unterwegs gefunden haben, in meinen Weg gelegt haben; all die schlaflosen Nächte voller Suizidgedanken und dem Gefühl, dass meine Gedanken lauter sind als das Ticken meiner verdammten Zeitschaltuhr, die jeden Morgen meinen Radiorekorder angeschmissen hat, der mich endlich aus meinem nächtlichen in den täglichen Albtraum geholt hat; 15 Jahre Therapiezeit ohne Verschnaufpause, immer wieder neue, erfolglose Versuche; und auf einmal kommt da so ein Herr Rawe vorbei und lädt mich zu einer Gruppentherapie ein. Auf einmal bin ich kein Außenseiter mehr, auf einmal kann ich reden wie ich will und alles, womit ich mich bisher identifizieren musste, ist auf einmal nicht mehr wichtig. Denn ich bin ja jetzt jemand, der mit seinen Sprechtechniken äußerst flüssig redend und auch sonst normal wirkt. Ich habe das Gefühl, dass das nicht echt ist, dass das nicht ich bin. Ich meine, vielleicht muß ich mich beeilen, alles zu sagen, bevor - - bevor es wieder losgeht..."

Betretenes Schweigen schrie durch den Raum. Man konnte die Schreie der Verzweiflung aus der Erinnerung von Tim und auch einem Teil der Zuhörer vernehmen; denn sie hatten dieselben Erinnerungen, die bis vor sieben Wochen noch keine Erinnerungen gewesen waren: die Identifikation als Antiheld, mehr oder weniger ausgeprägt. Aber alle kannten zumindest die Hilflosigkeit des Redeaktes, die sie alle in die Richtung des Wahnsinns getrieben hatte.

Kerstin war es, die zuerst eine Antwort gab:

"Tim, hör mal. Wie heißt dieser Sänger nochmal, von dem du alle Texte auswendig kennst und dir ständig die Interviews anhörst?"

"Äh, Andi Frenke?"

"Mag sein, dass der so heißt. Würdest du sagen, dass das dein Vorbild ist?"

"Ja."

"Auch, was seine Ausdrucksweise angeht? Ich meine, der quasselt wie ein Wasserfall, das hast du doch bestimmt immer bewundert."

"Ja."

"Meinst du, der hat jemals darüber nachgedacht, dass er eines Tages vielleicht mal nicht mehr alles sagen kann, was er sagen will? Meinst du, der denkt darüber nach, dass er mal seine Klappe nicht mehr so weit aufreißen kann wie er will?"

"Nein, der bestimmt nicht."

"Warum tust du das denn? Was ich ausdrücken möchte ist: du hörst den ganzen Tag diese komische Musik, bei der es eigentlich in allen Texten darum geht, dass das Heute zählt und das Morgen egal ist; es geht darum, dass man alles genießen soll, und dass man sich nicht schon während einer Party über den Kater beschweren soll, den man am nächsten Morgen haben wird, und dass man verdammt noch mal zupacken soll, wenn man etwas erreichen will… Du hast Vorbilder, denen du gar nicht näher kommen willst. Denn all deine Vorbilder haben ihre Selbstzweifel aus ihrer Seele geschrien, für immer. Und was machst du: du, der du musikalisch, körperlich und neuerdings auch sprechmotorisch absolut fit bist, erzählst uns, dass du das alles nicht verdient hast? Und wenn das so sein sollte, es gibt so viele Leute, die ihr Glück eigentlich nicht verdient hätten, aber sie haben es nun mal und sie nehmen es auch mit. Denn soll ich dir mal erzählen, was auf jeden Fall passieren wird? In spätestens 60 Jahren wirst du alt sein, vielleicht kommst du ins Altenheim. Da bleibst du dann noch fünf Jahre, wirst einsam und krank sterben und dann liegst du in der Kiste und die Maden machen sich an deinen einst so ausgeleierten Stimmbändern zu schaffen. Es ist egal, wie du diese vorherbestimmte Endstation erreichst, eigentlich. Aber geiler wäre das doch, wenn du noch sechzig Jahre lang in Einklang mit dir selbst leben würdest, oder nicht? Und außerdem willst du doch bestimmt mit deiner Frau zusammen das Alter erreichen und bis dahin nicht alleine bleiben? Aber weißt du, was die Frauen sagen, wenn du ihnen sagst, du hättest nichts von alledem, was du bist, verdient? Die raten dir, was an deiner Selbstdarstellung zu tun und suchen sich derweil nach jemandem um, der von sich überzeugt ist. Mensch, Alter, nimm die ganze Therapie als Neuanfang und vergiß die Zeit vorher! Nimm dein Glück hin und tu was dafür, dass es noch größer wird! Du bist nicht anders als die Leute, die du vergötterst!"

Während Sven, Manuel und Jochen verblüfft über diese plötzliche Meinungsaustauscherei auf ihren Stühlen sitzend über ihre eigenen Ängste nachdachten und Kerstin tief Luft holte, um sich von ihrer vorangegangenen Rede zu erholen, bekam Tim aus den berühmten Augenwinkeln heraus mit, dass Balko mal wieder am Pommes-Stand verweilte.

Tim empfand diese Rede als sehr zwiespältig: er glaubte dem Argumentationsgang, auf der anderen Seite fühlte er irgendwo tief in sich drinnen, dass es einen Haken an seinem Therapieerfolg gab. Ganz genau konnte er den Haken nicht identifizieren, aber er wusste, dass dieser Haken die Lösung für all seine Probleme war.

Was ihn jedoch noch mehr beschäftigte, war die Tatsache, dass er bis vor kurzem noch verzückt an Kerstin Lierz gedacht hatte und plötzlich wieder von seinem angeblichen Versagerdasein zu erzählen begonnen hatte. Was sollte das? Er, der lange nicht mehr der verschüchterte, kindliche Junge war, für den ihn zu Hause immer noch alle hielten, er, der mittlerweile stark war, mutig war, optimistisch war, flüssig war, verliebt war, sollte sich insgeheim nach seiner früheren, verachtungswürdigen Existenz zurücksehnen? Nach der Existenz, die eigentlich gar keine Daseinsberechtigung hatte? Warum sollte er so etwas tun? Aber nach dem, was er soeben gesagt hatte, wünschte er sich wohl tatsächlich seine alte Existenz zurück. Er wusste es nicht genau, er wusste nur genau, dass er von Kerstin Lierz und von ihrer Rede und von ihrem Körper und von ihren Augen und von ihrer Stimme und von Kerstin Lierz so sehr beeindruckt und überzeugt war, dass alles, was sie in diesem Moment gesagt hätte, auch Tims Meinung gewesen wäre. Sie hätte ihm erzählen können, dass auch sie der Meinung wäre, dass Tim das alles nicht verdient hätte. Tim hätte es ihr geglaubt, während er Mark Weila für eine solche Aussage wahrscheinlich ausgelacht hätte.

Er vertraute ihrer unterstützenden Zusprache, ohne den alten Trick bemerkt zu haben. Der alte Trick bestand darin, dass Kerstin Lierz doch eigentlich dieselben Ängste und Selbstzweifel besaß, sie sich also selber diese Rede gehalten hatte. Vielleicht hatte sie Tim gar nicht damit gemeint, vielleicht aber auch doch. Sie allein wusste das.

 

So saßen sie dann dort auf ihren unbequemen Stühlen, tranken ihren Abschiedsfeierwein, betrachteten das absolute Finale bei Balko und fragten sich, wie das wohl alles weitergehen sollte.

"Hör’ mal Tim.", mischte sich endlich Jochen Worrenfeld in das Schweigen ein, "Ich kann dir sagen, du wirst in den nächsten 15 oder 16 Jahren noch merken, dass diese Gedanken gar nicht nötig sind. Ich bin halt ein bißchen älter als du, und ich weiß, dass alles vorwärts geht. Guck’ mal, dieser Kripobeamte da im Fernsehen, der kriegt ständig eins auf die Schnauze. Meinst du, der hört auf deswegen? Nee, der ist Beamter auf Lebenszeit, und es ist sein verdammter Job, was auf die Schnauze zu kriegen. Ich zum Beispiel. Was meinst du, was man mir für verbeulte Autos vorgesetzt hat? Die habe ich alle wieder ausgewuchtet, alles fast wie neu. Komm mal her, ich zeig dir mal was."

Jochen nahm die Fernsehzeitung und einen Kugelschreiber in die Hand und malte eine vertikale Linie; Tim tat wie ihm geheißen und verließ seinen warmgesessenen Stuhl, um sich Jochen zu nähern. Währenddessen versah Jochen Worrenfeld die besagte Linie mit den Zahlen 10, 0 und -10, jeweils oben, in der Mitte und unten an dieser Linie. Auf Höhe der Null zeichnete er eine horizontale Linie, an deren Ende er das Wort "Ziel" schrieb.

"Also Tim, am Anfang der Therapie warst du hier." Er deutete mit dem Kugelschreiber auf den Anfang der Linie, allerdings auf Höhe der ‘-10’.

"Mittlerweile bist du hier." Er zeigte auf die Mitte der - um es mathematisch auszudrücken - "x-Achse", bei y = 10.

"Ich bin hier." y = -5.

"Mag sein, dass du noch mal abrutschst, vielleicht auch in den Minusbereich, und ich eventuell in den Plusbereich hochstarte. Es können alle möglichen Aufs und Abs in den nächsten Jahren in unser beider Leben entstehen, aber eines ist sicher: eines Tages sind wir beide hier: am Ziel. Und guck’ mal, welche Linie genau konstant durch die Kurven, die ich gemalt habe, verläuft: die normale Linie, die goldene Mitte. Im Schnitt ist es nämlich immer die Mitte, die wir alle durchlaufen. Auch die, die mehr Glück haben, wie du im Moment. Diejenigen, die es nicht bis zum Ziel schaffen, dass sind die, die denken, sie seien nur im Keller. Aber das stimmt nicht, sie verstehen es nur nicht. Verstehst du, was ich meine?"

"Nicht ganz.", gab Tim zu.

"Ja, das ist doch ganz einfach: ich meine, dass es wichtig ist, zum Ziel zu kommen, aber nicht wie. Du mußt dir dein Ziel stecken, zum Beispiel, dass du irgendwann über deinem Stottern stehst, wie es zum Beispiel Sven jetzt schon tut. Oder, Sven?" Er sah Sven an, der bisher wenig zum Thema hatte sagen können, also nur zugehört hatte.

"Siehst du, Tim.", fuhr Jochen Worrenfeld fort, "Sven hat das Ziel, eine Gleichgültigkeit zum Thema Stottern zu bekommen, fast erreicht. Jetzt hat er ein neues. Du hast dein Ziel ‘Abitur’ fast erreicht, obwohl es zwischendurch, gerade auch auf mündlicher Ebene, harte Tiefs gab, aber du bist fast am Ziel. Und du kommst auch an das Ziel, dass du diesen Versagergedanken los wirst, und wenn das noch fünfzig Jahre dauert. Alter, du bist stark, und vor allen Dingen sind wir alle zusammen stärker als alle da draußen." Dabei schaute er weise in die Sommernacht.

Tim wusste nichts zu sagen, Kerstin und Manuel Hartner - der die ganze Zeit seinen Gedanken nachgegangen war - auch nicht, nur Sven hatte noch einen Einfall:

"Will jemand ‘nen Keks mit Schokoladenfüllung?"

 

Der Fernsehabend dauerte noch zwei Stunden. Als alle ins Bett gingen, blieben Kerstin und Tim noch kurz vor der Zimmertür 16 stehen, um sich schöne Ferien zu wünschen; denn Kerstin wollte so früh wie möglich nach Hause zu ihrem Freund, und so würden sie sich morgens nicht mehr sehen.

"Mach’ dir nicht so viele Gedanken, Tim."

"Tu ich sowieso, aber ihr habt mir heute Abend gute Denkanstöße gegeben."

"Das hoffe ich."

"Schöne Ferien.", sagte Tim, während er Kerstin Lierz in seine Arme schloß.

"Die wünsche ich dir auch."

Sie wandten sich ab voneinander. Als Tim schon fast zu seinem Zimmerkollegen - der sich schon davor von Kerstin verabschiedet hatte - geflüchtet war, bemerkte Kerstin noch nebenbei:

"Gute Nacht, mein Schatz. Ich hab’ dich lieb."

Das machte Tim fertig. Er knallte die Zimmertür zu, als hätte er das nicht gehört, legte sich ins Bett, machte mit Sven noch eine Uhrzeit aus, zu der sie beide aufstehen wollten -9:00 Uhr- und fing an, von diesem letzten Satz aus Kerstin Lierz Munde zu träumen. Er träumte; er hatte in den letzten Wochen schließlich genügend Eindrücke gesammelt , um noch eine Million Jahre davon zu träumen. Aber vor allen Dingen träumte er von Augen, von lieben, lieben, tiefen, offenen Augen…

 

 

 

Der Abend in der Disko

 

 

An dem Freitag nach Tims Heimkehr in die Ferien fuhr er mit seinen Freunden in eine Diskothek im Ruhrgebiet. Er freute sich sehr auf diesen Abend, denn endlich konnte er in der Disko seine Cola selber bestellen, ohne einen seiner Kumpels zu fragen. Es erfüllte ihn mit stolz, so selbständig zu sein. Es würde bestimmt ein schöner Abend werden.

Tobias, sein bester Freund in der Heimat, hatte während Tims Therapie seine Führerscheinprüfung bestanden und war somit einer der ersten aus seinem Freundeskreis, der die Gelegenheit hatte, mit dem Auto zur besagten Diskothek zu fahren. Das erleichterte die Sache natürlich, denn mit dem Zug war man mindestens doppelt so lange unterwegs. Nicht zu vergessen, dass Züge ab 23:00 Uhr nicht mehr das kleine Heimatdorf der fünf ansteuerten. Sie fuhren zu fünft in dem Wagen Tobis Bruder: Tobi Brander, Dominik Liska, Kathi Sandner, Sonja Nies und natürlich Tim. Sieben Jahre waren die Jungs schon befreundet, die beiden Mädchen kannte Tim erst seit zwei Jahren - und die beiden hatten nie etwas bemerkt. Aber jetzt wussten es ja alle, jetzt konnte Tim sich endlich frei entfalten; und das hatte er heute Abend auch vor: er würde in die Disko gehen, sich umschauen als gehörte ihm der Laden, sich auf die Tanzfläche stellen, stundenlang "abrocken" und zwischendurch mit lockerer Zunge eine Cola bestellen - oder mal sehen, vielleicht würde er heute auch mal ein oder zwei Biere trinken.

 

"Schön, dass du mal wieder etwas länger bei mir bist.", sagte Kathi. Dabei sah sie ihn an und sah ihm an, dass er momentan mit seinen Gedanken überall anders aber auf keinen Fall in diesem Auto war.

"Finde ich auch. Euch endlich mal wieder in der Woche zu sehen, das ist schon toll. Ein bißchen schade finde ich, dass Kerstin nicht hier ist."

"In die bist du richtig verschossen, oder?", rief Sonja neugierig vom Beifahrersitz nach hinten.

"Verschossen… ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Ich freue mich eben immer, wenn ich sie sehe."

"Ja, ja, freut sich dein kleiner Freund dann auch?" Dass Kathi immer so direkt sein musste!

"Äh… Sag’ mal, Tobi, warum hast du eigentlich nicht gesagt, dass du demnächst Führerscheinprüfung hast?"

"Stell’ dir vor, ich hätte das allen erzählt und wäre dann durchgefallen. Nein, dann lieber überraschen.", antwortete Tobias, als er auf der B236 - die vorgeschriebenen 120 Stundenkilometer nicht überschreitend - den Blinker nach links genau zwei Mal aufblinken ließ, um einen LKW zu überholen.

"Ach so.", meldete Tim zurück.

"Aber Tim, lenk’ doch nicht vom Thema ab, freut sich jetzt dein kleiner Freund oder nicht?", beharrte Kathi.

"Jetzt nicht."

"Ich meinte ja auch nicht wirklich jetzt, sondern wenn du dich freust, Kerstin wiederzusehen."

"Damals wolltest du auch nicht wissen, ob sich mein kleiner Freund bei dir gefreut hat."

Das stellte Kathi erstmal ruhig, denn sie erinnerte sich nicht all zu gerne an die Liebesgeschichte zwischen Tim und ihr, die ja eigentlich nur in Tims Phantasie stattgefunden hatte. Und sie hatte die Ahnung, dass auch diese aktuelle Geschichte nicht mehr war als Tims Wunschdenken. Aber sie wollte Tim mit ihrer Vorahnung in Ruhe lassen, da er zur Zeit auf einem absolut aufsteigendem Ast war. Sie gönnte ihm diesen Ast und hoffte, dass er hoch und dick genug war.

Es folgte eine längere Gesprächspause, in der Tim auffiel, wie nett seine beiden platonischen Freundinnen im Sommer aussahen - braungebrannt wie sie waren. Auch Dominik neben ihm schien das zu bemerken, denn demonstrativ starrte er in eine ganz andere Richtung, wo nur die graue Leitplanke der Bundesstraße zu sehen war. Welch ein Ersatz!

Aber Tim genoß den Anblick der beiden, ohne dass sein kleiner Freund dies auch tat. Es war einfach toll, die Ehre zu haben, neben zwei sommerlich gekleideten, blutjungen Frauen in einem so kleinen Auto sitzen zu dürfen.

 

Nach einer Dreiviertelstunde vorschriftsmäßiger Fahrt parkte Tobi den Wagen auf dem diskoeigenen Parkplatz, auf dem komischerweise noch genau eine Lücke existierte, in die er zum Glück noch nicht einmal rückwärts einparken musste. Vergnügt und sich laut unterhaltend liefen sie alle zum Eingang und stellten sich eine halbe Stunde in die Schlange, während Tim fünf oder sechs Zigaretten rauchte. Zwischendurch atmete er ein paar Male für kurze Zeit die pure, nikotinfreie Luft ein und freute sich über die frische, klare Sommerluft an diesem wundervollen, nach mehr schmeckendem Abend.

Irgendwann kamen sie dann hinein, bestellten sich erstmal ein Bier. Und wer stand dort an der Theke?

 

Leopold Koch, ein alter Sangesbruder aus dem Kinderchor. Genau der Sangesbruder, von dem Tim neulich noch diesen schrecklichen Traum hatte.

"Ha-ha-ha-hallo T-t-t-t-tim, w-w-w-w-w-w-w-wie g-g-g-g-geht’s?" Leopold Koch war schon immer ein großes Arschloch gewesen, aber er selbst schien es nie bemerkt zu haben. Tim hatte fünf Jahre seiner Jugend mit diesem Dorftrottel verbracht; fünf schwere Jahre. Leopold Koch war immer stärker, mutiger, reicher, schneller im Sprechen, schöner und selbstbewusster gewesen als Tim. Schnell hatte er damals erkannt, dass es Tim fertigmachte, dass ihn jeder wegen seines Stotterns hänselte, aber er es einfach nicht vermocht hatte, Gegenwehr zu leisten. Leopold hatte das ausgenutzt, er hatte Tim zu seinem Prügelknaben, vor den Gleichaltrigen und den Mädchen, die damals ganz allmählich interessant geworden waren, lächerlich gemacht, bis Tim nach der Chorprobe geknickt nach Hause gegangen war. Leopold Koch war einer der Gründe dafür gewesen, wieso die Therapie in Bonn überhaupt notwendig geworden war. Er hatte mitgeholfen, einen jungen Stotterer zu einem sich alt und hilfsbedürftig fühlenden Behinderten zu verwandeln. Dafür war Tim ihm stets sehr dankbar gewesen. Er hatte ihn dafür wahnsinnig geliebt.

Leo Koch stand nun vor ihm und begrüßte Tim stotternd, während irgendein gut klingendes Rocklied seine Stimme fast übertönte.

 

"Wie war die Frage?", antwortete Tim.

"Wwwwie gggggeht’s Dddddir, wollte ich wissen?", stotterte Leo nahezu perfekt.

"Sehr gut.", antwortet Tim betont flüssig. Tim stand nun über diesem Arsch, vor allen Dingen auf intellektueller Ebene. Er nahm sich still vor, ihm das heute Abend zu zeigen.

"Wie viele Jahre haben wir uns nicht gesehen, hm? Vier? Fünf?"

"Nicht lange genug, fürchte ich."

"Was sagst du? Ach, ist ja auch egal, wenn du das wiederholen würdest, müsstest du sowieso stottern. Also lassen wir’s lieber, oder?"

"Ich sagte, wir haben uns nicht lange genug nicht gesehen, verstehst du?"

Leopold machte eine zählende Handbewegung.

"Mein Gott, das waren jetzt zwölf Wörter am Stück, die du nicht gestottert hast. Alle Achtung."

Währenddessen näherte sich eine junge Frau, die Leopold von hinten umklammerte und neugierig den Fremden beobachtete.

"Kennst du Manuela noch? Die hat damals im Chor immer die Solostücke gesungen, weißt du noch?"

"Hallo.", sagte Tim kurz, sah sie aber nicht an. Er haßte die Erinnerung an die alte Zeiten, Zeiten, die er spätestens am ersten Tag der Therapie hinter sich gebracht hatte.

"Ist das nicht ein Wunder, Tim hat gerade zwölf Wörter nacheinander nicht gestottert?", wandte er sich an seine Freundin und dann wieder an Tim: "Sei doch nicht so unfreundlich zu meiner Freundin, Kleiner!"

"Sehe ich etwa so aus,", setzte Tim ein, dem wieder einfiel, dass der heutige Abend SEIN Abend war, "als sei ich immer noch der kleine Tim, der ich damals war? Sehe ich nicht vielleicht sogar so aus, als sei ich jetzt der große Tim, der sich von keinem Leopold Koch der Welt mehr fertigmachen läßt und auch nicht von seiner komischen Freundin?"

"Wir haben uns wirklich lange nicht gesehen, Tim, du bist ein ganz schönes Großmaul geworden. Ich würde an deiner Stelle aufpassen, was ich sage!"

"Ja, ja.", erwiderte Tim, winkte einmal und ging dann gemächlich zu seinen vier Freunden zurück.

"Wer war das?", fragte Sonja ihn.

"Ach, so ein alter Bekannter. Lasst uns Tanzen gehen, dafür sind wir ja hier, oder?"

Alle fünf gingen gemeinsam auf die Tanzfläche, wo gerade "This is just a punkrock song" der Ami-Band Bad Religion die Menge zum Toben brachte.

 

 

Etwa eine Dreiviertelstunde später gönnten sie sich eine kleine Pause und setzten sich an einen der Tische, die der Tanzfläche am nächsten standen.

"Ich muß mal eben mein Bier wegbringen.", sagte Tim.

"Viel Erfolg.", antwortete Kathi.

Tim drehte sich um und latschte davon, immer den Pfeilen folgend, auf denen "WC" stand.

"Nabend!", sagte er zu der Frau, die vergeblich auf ein neues 50 Pfennig-Stück wartete. Die Frau sah ihn schlechtgelaunt an.

Was ein mieser Job!, dachte Tim noch, als er am Pissoir stehend seine Hose öffnete. Er entleerte seine Blase, schloß seine Hose wieder, wollte sich gerade umdrehen und den Raum verlassen – als er plötzlich eine Hand an seinem Hinterkopf spürte. Die Hand drückte seinen Kopf gegen die Wand vor ihm. Tims Nase wurde einmal kurz gegen die Fliesen gehauen, so dass sie direkt anfing zu bluten. Als nächstes bekam er ein Knie in seine Niere gestoßen und musste sich krümmen. Aber merkwürdigerweise tat es ihm gar nicht weh, er erlebte das alles wie in einem tiefen Traum. Er kam noch nicht einmal darauf, wer ihn da verprügelte. Natürlich war es Leo Koch, der sich in seiner Ehre gekränkt fühlte. Und das sagte er Tim dann auch, als dieser auf dem Boden lag.

"Was glaubst du denn eigentlich, wer du bist, mich vor meiner Freundin so bloßzustellen? Häh?"

"Ich ... was?", Tim sah hoch, aber die Deckenbeleuchtung blendete ihn, so dass er nichts sehen konnte. Er konnte nur fühlen, dass er gerade wieder ein Schuh in seinem Magen hatte.

Es tat immer noch nicht weh.

Dann kam dieser andere Mann, schimpfte irgendetwas, half zuerst Tim auf und führte dann Leopold mit einem Polizeigriff nach draußen. Die Tür knallte zu, nachdem der Mann Tim befohlen hatte, im Toillettenraum zu warten, bis der Arzt käme. Tim tat dies auch, denn mit einer blutenden Nase wollte er sowieso nicht mehr tanzen. Also feuchtete er eines von diesen Papierhandtüchern an und versuchte, das Blut aus seinem Gesicht zu entfernen. Langsam spürte er die Schmerzen und außerdem wurde ihm anhand seines Spiegelbildes klar, dass er schon einmal besser ausgesehen hatte.

Als Tobias hereinkam - ebenfalls um sich seines Blasendrucks zu entledigen - fiel er fast in Ohnmacht, als er seinen besten Freund sah, der sich mit einer Hand die rechte Niere und mit der anderen das Tuch ins Gesicht hielt.

"Was ist denn mit dir passiert? Ach du Scheiße! Lass’ mal sehen! Oha, das sieht ja nicht so toll aus!"

"Nee, das ist auch nicht toll! Da ist mindestens eine Rippe gebrochen!" Eigenartigerweise war Tim sehr ruhig, ruhiger als man eigentlich sein sollte, wenn man gerade auf brutalste, hinterhältigste und feigste Art und Weise verprügelt worden ist.

Da standen sie nun, die beiden Freunde, die schon so viel miteinander erlebt hatten.

"Warte hier, ich rufe einen Arzt!", sagte Tobias und wollte gerade gehen, als Tim ihn darüber informierte, dass der Arzt schon unterwegs sei.

"Ach so. Tja, dann müssen wir halt warten."

"Ja, das müssen wir wohl.", echote Tim, während er sich ein neues Tuch an die Nase hielt. Mittlerweile lagen schon vier Tücher vollgeblutet im Mülleimer.

"Sei mir nicht böse,", sagte Tobi, "aber jetzt muß ich erstmal das erledigen, weshalb ich hier überhaupt reingekommen bin." Dies tat er dann auch. Währenddessen öffnete sich die Tür und ein halbwegs besoffener Diskothekgänger stolperte herein.

"Wat hass du denn gemacht, Alta?", lallte er und meinte Tim.

"Ich habe gerade was aufs Maul bekommen!", näselte Tim, in der naiven Erwartung, auf Mitleid zu stoßen.

"Soll ich auch mal?", fragte der Besoffene und in dem Moment wusste Tim, dass das doch nicht so richtig SEIN Abend war.

 

 

 

Schule

 

 

 

Der Mathematiklehrer

 

Tim Habermann ist einer von meinen Schülern, von denen ich sagen würde, dass sie es sehr schwer haben werden. Es ist ja nicht nur dieses Defizit, dieses Handicap, was Tim Habermann so mit sich herumschleppt. Wenn es nur dieses Handicap wäre, dann wurde der Junge mir wirklich sehr leid tun. Er tut mir leid, aber nicht sehr. Denn ich finde, er ruht sich zu sehr auf seinem Handicap aus. Er scheint irgendwann mitbekommen zu haben, dass seine Lehrer aus Kulanzgründen darauf verzichten, ihn im Unterricht aufzurufen. Anstatt dies aber durch besondere Vorbereitung zu kompensieren, zieht er es lieber vor, gar nichts zu tun. Und da hört mein Verständnis auf. Es stört mich ja schon bei den anderen Schülern, dass sie sich Mittwoch abends lieber ein Fußballspiel ansehen als sich auf die Mathematikstunde am Donnerstag vorzubereiten. Andererseits können die anderen Schüler durch mündliche Beiträge dieses Fehlverhalten wieder ausgleichen. Aber Tim Habermann ist erstens nicht in der Lage, mündlich etwas vorzubringen., und zweitens beweist er immer wieder, dass er dazu auch noch keine Lust hat. Wie er das tut? Dadurch dass er es unterläßt, seine Hausaufgaben abzugeben, obwohl gerade er sie erledigen sollte. Und dadurch dass er uninteressiert in der Gegend herumguckt; ja neulich habe ich ihn sogar dabei erwischt, wie er sich mit einem seiner Freunde während der Stunde unterhalten hat. Das kann ich nicht verstehen, warum unterhält er sich dann nicht mit mir? Tim ist und bleibt mir ein Rätsel.

Auf einmal war er dann verschwunden, einfach so, wochenlang. Irgendwann habe ich dann einen Kollegen gefragt, ob er vielleicht wisse, wo unser Schüler sich herumtreibt. Er antwortete mir, dass er wohl eine stationäre Sprachtherapie angefangen hätte und wohl in einigen Wochen erst wieder in den Unterricht käme.

Sollen sie ihm mal das richtige Sprechen beibringen, aber dann werde ihn nicht mehr so schonen wie bisher. Wir sind hier schließlich auf einem Gymnasium, da muß man einfach etwas leisten. Und dann auch noch in der Oberstufe. Bringschuld…

 

 

Die Deutschlehrerin

 

Ich habe gehört, dass Tim Habermann jetzt doch den Deutsch-Leistungskurs gewählt hat. Es ist seine Entscheidung, aber es ist keine gute. Es gelingt Tim Habermann einfach nicht, sich mit der Materie auseinanderzusetzen. Er zeigt kein Interesse an dem Unterricht, ja, er liest noch nicht einmal die Bücher. Ich war zwar nur ein halbes Jahr lang seine Lehrerin, aber dieses halbe Jahr hat mir gereicht, wirklich. Nicht ein Mal habe ich seine Stimme im Unterricht gehört, außer im Flüsterton mit seinem Tischnachbarn. Er quatscht während des Unterrichts mit seinen Freunden, findet alles andere interessanter als meine Stunden. In den Klausuren ist er nicht fähig dazu, sich klar und deutlich auszudrücken, faselt manchmal nur wirres Zeug. Um ihm zu helfen, die Oberstufe zu bestehen, habe ich ihm in Deutsch die Note "Ausreichend" gegeben. Aber als ich von seiner Mutter erfuhr, dass er den Deutsch-Leistungskurs belegen will, blieb mir für eine Sekunde der Atem stecken. Jeder andere wäre geeigneter, diesen Weg zu gehen. Ich wünsche ihm und meinem Kollegen viel Glück. Die beiden werden es brauchen können.

 

 

Der Deutsch-Leistungskurs-Lehrer

 

Der Name "Leistungskurs" ist mir ja zutiefst zuwider, das klingt so nach Bundeswehr. Auch die ist mir zuwider. Aber was soll aus unserem Schulsystem auch anders herauskommen als dieser Name? So ein Leistungskurs ist ja nichts anderes als ein intensiveres Beschäftigen mit einem Thema. Statt zwei Stunden eben sechs Stunden in der Woche.

Mir soll‘s egal sein.

Zu Tim Habermann ist zu sagen, dass er zwar im Unterricht nicht viel sagt, dass er aber voller Ideen zu sein scheint. Das lese ich in den Klausuren. Am liebsten würde ich ihm für seine Ideen eine "Eins" geben, aber das kann ich nicht tun. Denn die Kollegin hat ja Recht, wenn sie sagt, dass er für eine "Eins" fachlich einfach nicht kompetent genug ist. Aber sie hat nicht Recht, wenn sie sagt, dass Tim im Deutsch-Leistungskurs keine Chance hätte. Wenn er einmal den Unterrichtsstoff lernen würde, dann könnte er dies sehr gut mit seinen eigenen Ideen verbinden, und dann könnte man auch über 15 Punkte reden. Außerdem müsste er lernen, seine Ideen auch korrekt zu formulieren und auch mit guten Argumenten zu bekräftigen. Ansonsten sehe ich in Tim Habermann einen überdurchschnittlich interessierten Schüler, der sich gerne von der Wissenschaft abwendet und sich lieber in eine Traumwelt begibt. Er findet schon seinen Weg.

 

 

Der Englischlehrer

 

Ich unterrichte Herrn Habermann nicht mehr, aber ich kenne ihn seit der fünften Klasse, also seit, Momentchen, sieben Jahren und ein paar Wochen. Damals, als wir uns kennenlernten, war er ein sehr interessierter Schüler, der in den Arbeiten nie etwas anderes als "Gut" oder besser erreichte. Ich hatte das Gefühl, dass er wirklich etwas lernen wollte. Wir hatten ein gutes Verhältnis zueinander. Auch zu anderen Lehrern war das anfangs so.

Dann, in der achten Klasse, hörte ich von seinem neuen Englischlehrer, dass Tim nur noch mangelhafte Arbeiten ablieferte. Auch schien er sich nicht mehr für die englische Sprache zu interessieren, was ich nicht glauben konnte. Ich traf ihn irgendwann im Lehrerzimmer. Er wirkte nicht mehr so lebendig wie vorher, eher traurig und eingeschüchtert.

Die Meinung anderer Lehrer, dass Tim Habermann ein fauler und unfähiger Schüler sei, konnte und kann ich nicht teilen. Ich glaube, dass er ganz einfach nicht damit leben kann, dass er aufgrund seines stärker gewordenen Stotterns nicht mehr in der Lage ist, seine Gedanken mitzuteilen. Er würde ja gerne, und daher empfindet er es als niederschmetternd, dass man von ihm verlangt, sein sprachliches Defizit zu kompensieren. Diese Kompensation würde von ihm verlangen, dass er sich noch mehr von seinen Mitschülern unterscheidet, als er es sowieso schon tut. Nämlich indem er ihnen sagen müsste (und zwar auf Dauer): "Fahrt heute alleine ins Kino, ich muß dafür sorgen, dass ich die Schule schaffe." Er müsste so viel kompensieren, dass er sehr schnell zum Einzelgänger würde. Daher läßt er es bleiben, mit der Konsequenz, dass er schlechte Noten einkassiert. Viele Kollegen können ihn nicht verstehen. Ich schon. Ich kann verstehen, dass er keine Lust hat, sich ständig für einen Fehler zu entschuldigen, den er nicht begangen hat.

 

 

 

Es würde jetzt alles anders werden. Tim würde die Lehrer schon dazu bringen, dass sie in Zukunft weder Mitleid mit ihm haben noch großzügig unverdiente Noten verteilen würden und sich dann noch als die großen Gönner aufspielen würden. Er wollte es den Lehrern zeigen und auch den Schülern. Allen, die sich jemals über ihn gestellt hatten. Versucht hatten, ihn zu bewerten. Es gab jetzt nichts mehr, nichts, dass Tims Gleichwertigkeit zu den anderen noch hätte verhindern können. Tim war jetzt ein junger, starker, wilder, offensiver, flüssigsprechender, vielseitig begabter Mann, der nur darauf wartete, dass noch jemand versuchen würde, ihn kleinzukriegen.

Seine Rippen waren nicht gebrochen, nur leicht angeknackst. Und auch sein Nasenknochen hatte eigenartigerweise gehalten. Vielleicht weil Leopold doch nicht ganz so überzeugt von seiner Prügelatacke gewesen war. So hatte Tims Aufenthalt im Krankenhaus auch nicht besonders lange gedauert. Er konnte recht früh dorthin, wo er bis vor einem halben Jahr nur mit Herzklopfen hingegangen war: in die Schule. Auch jetzt hatte er Herzklopfen, aber das hatte nichts mit dem zu tun, was es früher einmal war. Heute war es Herzklopfen, das Tim freudig verriet, dass er -- lebte. Dass er lebte und viel lebendiger war als manch anderer "Normalo". Er konnte das Leben in sich wieder spüren. Die Freude, die er empfand, wenn er den Mund öffnete und mit einem weichen Stimmeinsatz einen Wortschwall auf seine Zuhörer losließ, war unermeßlich groß.

Nun stand er auf dem Schulhof, um ihn herum Mitschüler, die so taten, als wäre dies kein besonderer Tag. Für sie war es ja auch keiner. Aber für Tim. Er suchte seine Kollegen. Er stellte sich vor, wie ihn die ganzen alten Leute mit Fragen überhäufen würden. Wie wißbegierig sie sich auf ihn stürzen und ihn verhören würden.

"Wie läuft die Therapie?"

"Wann bist du jetzt endgültig wieder da?"

"Was machst du denn so den ganzen Tag dort?"

"Bringt es denn auch Erfolge?"

Da standen sie: an der Raucherecke, wie immer. Sogar die Nichtraucher standen an der Raucherecke. Er ging auf sie zu, erwartete eine nette Begrüßung.

"Hi!", sagte er in die Runde, die aus ungefähr 10 Leuten bestand.

Tobias und Kathi, die Tim ja öfter sahen, grüßten kurz zurück. Ansonsten dauerte es sehr lange, bis sich einer bequemte zu sagen:

"Auch mal wieder im Land?"

Mehr nicht, keine Fragerei über Tim und über die Therapie. Keiner wollte etwas wissen, alle taten so, als wäre Tim nie weg gewesen. Gut, manche hatte er ja auch an den Wochenenden gesehen, aber nicht alle. Er hatte gedacht, dass die meisten sich für seine Fortschritte interessieren würden, aber dem war wohl nicht so. Er war geschockt und traurig darüber und bekam in dem Moment, als er die Tatsache realisierte, dass er nicht vermißt worden war, einen Amboß gegen seine Brust geschmissen. Ihm fiel es im ersten Moment schwer zu atmen und er fühlte sich zurückversetzt in die Zeit, die ja noch gar nicht so lange zurücklag. Die letzten zwei Monate erschienen auf einmal so eigenartig kurz für Tim. Was sollte er jetzt tun? Sollte er sie damit konfrontieren, dass er wieder da war? Sollte er ihnen unaufgefordert von der Therapie erzählen? Sollte er sie verstoßen und gar nicht mehr versuchen, mit ihnen ein Gespräch anzufangen? Aber für wen machte er dann diese Therapie? Dass er sie nur für sich und für niemanden anders machte, war ihm immer noch nicht richtig klar. Er wusste es zwar, aber er fühlte es nicht. Er fühlte immer noch die Übermacht seiner Gegenüber, die auf ihn einwirkte.

"Hört mal!", sagte er unvermittelt und überrascht über sich selber in die Runde.

"Was gibt’s, Tim?", fragte jemand anders. Irgendjemand von denen, die man nach der Schule zwanzig Jahre nicht sieht, weil man froh ist, sie nicht zu sehen. Nach besagten zwanzig Jahren kommen sie auf einen zu und fragen:

"Was machst du denn jetzt so?"

Aber wirklich wissen wollen sie es nicht. Nur weil der Anstand sie dazu verleitet, nach dem Leben des anderen zu fragen, tun sie es. Wenn Tante Trudchen an der Brötchentheke die gute alte Hilde wiedertrifft und sie Hilde fragt: "Wie geht’s?", sagt Hilde dann: "Ach weißt du, ich hab total Depressionen und ich glaube ich werde mir morgen das Leben nehmen"?

Nein, Hilde sagt: "Mir geht’s gut. Ich meine, ich hab’s ein bißchen mit dem Kreuz. Man wird ja auch nicht jünger, aber ich sag immer: kommt Zeit, kommt Rat." Ja, das sagt die gute alte Hilde und setzt dabei ein Lächeln auf, das selbst Rambo erweichen könnte. Und wenn Hilde dann nach Hause geht und sich das Leben nimmt, dann weiß keiner, warum. Der Hilde ging’s doch so gut, heißt es dann.

 

"Nichts Wichtiges.", sagte Tim, "Ich wollte nur mal fragen: ich habe vorhin den Herrn Schöffels mit der Frau Gunter Hand in Hand gehend gesehen. Habe ich mich da verguckt oder sind die beiden wirklich zusammen?"

"Kriegst du denn gar nichts mit, was hier abläuft?", war die Antwort vom zukünftigen zwanzigjährigen Bekannten.

"Wieso?"

"Die sind doch verheiratet, die beiden. Mußt dich auch mal ein bißchen für deine Heimatstadt interessieren."

"Mach ich. Guck mal, jetzt bin ich wieder hier. Und gehe euch noch drei Wochen auf den Geist."

Nicken und Schweigen, Rauchen und Schweigen. Tim fühlte sich wie ein Eindringling, so als hätte die Gruppe sich gedacht: endlich ist der weg!

Er steckte sich auch eine Zigarette an und latschte hinüber zu seinem Kumpel Tobi und zu Kathi.

"Und? Was machen wir am nächsten Wochenende?"

"Du meinst, wenn du dir nicht wieder die Rippen brechen lässt?", sagte Tobi.

"Die waren gar nicht gebrochen."

Tim war sichtlich erfreut, dass wenigstens zwei seiner wahren Freunde noch da waren. Sauer war er dennoch. Er hatte sich sehr gefreut auf das Wiedersehen mit den alten Leuten, musste nun aber einsehen, dass er den alten Leuten egal war. Natürlich von Tobi und so weiter abgesehen, das war ja klar. Wenn auch die ihn nicht begrüßt hätten, hätte er sich wahrscheinlich gefragt, ob er in der richtigen Welt lebte.

Der Schulgong ertönte mit dieser wunderschönen viertönigen Melodie, die Tim sogar von dem Balkon seiner elterlichen Wohnung aus hören konnte. Er fragte sich immer, was das wohl für Töne waren, die er da hörte.

Der Ameisenhaufen auf dem Schulhof bewegte sich schlagartig in Richtung Eingang. Richtig unheimlich sah das aus, wie Zombis, die einen Maigang machten. Irgendwo hörte man:

"Boah, Scheiße, wir ham ja jetts beie Müller!"

oder:

"Ey, lass uns noch eine rauchen, bevor wir in der nächsten Stunde verschmachten!"

oder:

"Du Streber, du hast wirklich deine Hausaufgaben gemacht?"

 

Die üblichen Ausrufe eben, die man auf einem Schulhof so hört.

 

Sozialwissenschaften hieß das Fach, in dem Tim seinen Schulaufenthalt begann. Er setzte sich in die erste Reihe, jetzt musste er sich ja nicht mehr hinten hinsetzen; denn er wollte ja jetzt nicht mehr übersehen werden. Er wollte ja jetzt mitmachen im Unterricht und es allen zeigen. Ihnen zeigen, was er auf dem Kasten hatte.

Aber was, wenn es sie nicht interessierte, ob er etwas wusste oder nicht? Was, wenn er sowieso schon einen festen Ruf auf der Schule hatte: den Ruf des schüchternen, erfolglosen, unbegabten Stotterers, der sich nicht ausdrücken konnte?

Er lief Gefahr, schon wieder in diese Selbstzweifel, die er doch bekämpfen wollte, hinabzudriften. Der Amboß machte sich erneut bemerkbar und Tim bekam Kopfschmerzen. Würde er für sie ewig der Versager bleiben, auch wenn er jetzt sprechen konnte? War das sein unabwendbares Schicksal?

Nein, das durfte es nicht sein! Er konnte und wollte das nicht mehr akzeptieren! Was nun geschah, war wie in einem Traum. Der Sozialwissenschaften-Lehrer kam herein - schlecht gelaunt wie immer - sah in die Runde und wollte gerade mit seinem Vortrag anfangen.

"Ihr wißt ja, dass man auf dem Schulhof nicht rauchen darf...", hatte er schon im Kopf.

Als er diesen Einleitungssatz sagen wollte, sprang Tim auf, über den Tisch, stellte sich vor den Kurs und sagte: "Jungs, Mädels, ich habe etwas loszuwerden." Und zu dem Lehrer: "Entschuldigung, wenn ich ihren Unterricht störe, aber ich muß wirklich etwas loswerden. Und da dieser Kurs einigermaßen groß ist, möchte ich das gerne hier tun. Kann ich ihnen zehn Minuten vom Unterricht klauen?" Dies alles sagte er mit einer unheimlich großen Kontrolle, die ihm fast schon Angst machte. Früher wäre er bei diesen Wörtern mindestens zehnmal dermaßen hängengeblieben, dass er für einen solchen einleitenden Satz bestimmt drei Minuten gebraucht hätte. Gebraucht hätte, wenn was? Wenn er sich getraut hätte, auch nur ein Wort vor der Klasse zu sagen.

"Das passt zwar nicht in meinen Zeitplan, Herr Habermann, aber wenn sie wollen. Ich bin ja froh, wenn sie überhaupt etwas sagen. Ihre Klausuren sind ja recht zufriedenstellend, aber..."

"Genau darum soll es hier gehen.", sagte Tim und wandte sich zuerst an seinen Lehrer und dann an den Kurs. Er wusste es gar nicht, aber er machte einen sehr entschlossenen Eindruck. Er wirkte in dem Moment wie ein Rebell, der vor seinen Leuten die letzte Motivationsrede zu halten gedenkt.

"So, lieber Kurs, ich muß euch etwas von mir erzählen. Ich habe vorhin versucht, mit ein paar von euch Kontakt aufzunehmen. Das hat nicht geklappt, was zwei Gründe haben kann: entweder ihr interessiert euch nicht für mich - was sehr schade wäre - oder ihr traut euch nicht recht, mich zu fragen, was nun los ist mit mir. Also nochmal für alle: ich mache momentan eine stationäre Sprachtherapie mit, obwohl das Wort an sich schon Quatsch ist. Denn meine Sprache - lieber Kurs - ist es ja nicht, die versagt. Ich beherrsche die deutsche Sprache genauso gut oder schlecht wie ihr. Es ist die Motorik meines Sprechens, die bisher recht eigensinnig gehandelt hat. Also müsste es ‘Sprechtherapie’ heißen. Aber egal. Diese Therapie hat am 11. Juni angefangen und geht bis zum 27. November. Zwischendurch bin ich mal am Wochenende hier und auch einmal - nämlich jetzt - für noch drei Wochen, da der Therapieerfolg sich im Langzeittest erst herausstellen wird. Am Rande: eigentlich wollte ich für vier Wochen hier sein, aber ich wurde vor einer Woche ziemlich verhauen und lag nun die ganze Zeit im Bett. So kann’s gehen...

Momentan bin ich sehr zufrieden mit dem, was sich da so in der Therapie tut. Mein Sprechen hat sich deutlich verbessert, ich kann praktisch alles sagen, was ich sagen will. Wenn es mal nicht so sein sollte, habe ich aber ebenfalls gelernt, dazu zu stehen. Versteht ihr? Ich lasse mich nicht mehr von meinem Sprechen einschränken, ich bin dabei, meinen Geist freizumachen für alles, was ihm in die Quere kommt. Früher ging das nicht, früher hatte ich stets Scheuklappen vor den Augen. Bloß den geraden Weg gehen, denn alles, was davon abweicht, könnte bedeuten, dass ich sprechen muß. Dann wird es wieder peinlich für alle Beteiligten. Aber diese Scheuklappen können jetzt die anderen tragen. Ich nicht mehr. Ich rede nun, egal wie, wann und warum ich stottere. Lasst euch gesagt sein, ihr werdet demnächst noch einiges von mir zu hören bekommen. Endlich kann ich mich entfalten! Ihr konntet das schon immer, aber ich fange gerade an zu leben. Das wollte ich euch nur erzählen, damit ihr wißt, wie ihr mit mir umgehen sollt. Das wussten ja bisher sowieso nur die wenigsten von euch, aber jetzt wißt ihr es: wenn ich stottere, guckt nicht weg, guckt hin, denn ich bin -- real. Sprecht mich auch ruhig darauf an, ich warte darauf. Und versucht, ganz normal mit mir umzugehen. Ich kann euch gar nicht sagen, wie sehr ich mir immer gewünscht habe, euch das zu sagen: behandelt mich ganz normal und guckt nicht weg! Das wollte ich euch schon immer sagen, aber wie? Ich wusste es nie. Jetzt weiß ich es. Keine Schritte mehr zurück, nur noch ganz viele nach vorne. Immer nur nach vorne, und wenn da eine Mauer ist, irgendwo gibt es einen Durchgang. Jede Mauer hat eine Tür und Türen kriegt man auf, zur Not mit einer Brechstange.

Mag sein, dass ich irgendwann wieder in mein altes Sprechmuster zurückfalle, aber ich werde nie wieder in mein altes Denkmuster zurückfallen. Ich bin aus meinem geistigen Gefängnis ausgebrochen und ich werde ab jetzt immer alles tun, was ich tun will. Dazu gehören intensivere soziale Kontakte, dazu gehören auch solche Sachen wie letzte Woche in der Disko. Als mich mein alter Kinderchor-Kollege verprügelt hat, weil ich ihm widersprochen habe. Aber das ist mir egal, ich werde ihm auch nächstes Mal widersprechen. Ich bin stark. So, noch Fragen oder können wir unseren Lehrer fortfahren lassen?"

Er blickte in die Runde. Er fühlte sich unheimlich gut, denn er wusste genau, keiner von denen da hätte sich so eine Rede jemals zugetraut. Und hier und da sah er auch bewundernde Blicke von den Frauen in diesem Kurs. Aber das war jetzt zu spät, denn er würde ja bald Kerstin wiedertreffen.

"Wie wohnst du denn da, Tim?", fragte jemand. Irgendjemand von denen, die nach 20 Jahren fragen, was man denn nun so mache.

"Äh, jeder von uns hat eine eigene Wohnung mit Whirlpool im Bad, Kabelanschluss und sogar einem Einstellplatz für die Autos. Aber letzteren brauche ich ja noch nicht." Tim grinste breit. Noch nie hatte er sich getraut, so breit zu grinsen. Es war ein Grinsen, das nur in ein Gesicht von jemandem passen konnte, der absolut in sich selbst ruht.

"Nein, sag doch mal, wie seid ihr da untergebracht, wieviele seid ihr? Und so weiter."

"Wir sind 12 Leute, untergebracht in Zweibettzimmern in einem Gebäude einer Klinikanlage nicht weit vom Rhein entfernt. Gegenüber ist die ‘Geschlossene’ und ein paar Meter weiter werden Krebspatienten behandelt. Die Gegend ist ganz o.k. Ist sogar ein Park in der Nähe.

Ja, zur Gruppe: sie besteht aus den verschiedensten Leuten, aber trotzdem hält sie ganz gut zusammen. Und ich musste feststellen, dass es auch stotternde Mädchen gibt."

Tims Grinsen wurde noch breiter bei dem Gedanken an ein ganz besonders stotterndes Mädchen. Ihm fiel ein, dass er ihr von dem Vortrag erzählen könnte. Sie wollten morgen telefonieren. Und noch besser würde es sich machen, wenn er jetzt noch einen drauflegen würde. Er beendete seinen Vortrag:

"Also, wenn ihr mal eine Therapie machen wollt - aus welchen Gründen auch immer - ggggggggggggg..." Sein altes Stottern war wieder da, aber nicht zufällig sondern vollkommen gewollt. Er wollt sie testen, wollte sehen, ob sie schon reifer geworden waren. Er hörte das altvertraute nervöse Papierrascheln, sah die altvertrauten verschämten Gesichter der Mitschüler und das altvertraute pädagogisch-planlose Lächeln des Lehrers. Und auf einmal wusste er, dass er sie in der Hand hatte. Er war der König und sie seine Untertanen. Er fühlte plötzlich ein noch nie dagewesenes Gefühl der Erhabenheit und sein Grinsen verfestigte sich.

„Also dann will ich euch mal erlösen.", sagte er, „Gruppentherapien machen am meisten Spaß, wollte ich sagen."

 

Nach diesen Worten setzte er sich, ließ die Blicke auf sich wirken und war nicht sonderlich überrascht, als der ganze Kurs in einem tobenden Beifall aufging. Er hatte den Beifall verdient, das war ihm klar.

"Also Herr Habermann, ich bin begeistert.", sagte der Lehrer. "Dass sie nach so kurzer Zeit in der Lage sind, mit ihrer Sprache - Entschuldigung - mit ihrem Sprechen so spielerisch umzugehen, das zeugt von einer immensen Selbstdisziplin, die ich ihnen, offen gestanden, nicht zugetraut hätte. Hut ab! Außerdem weiß ich jetzt, dass sie auch etwas zum Thema beitragen können.

Apropos Thema: wir waren bei den Lobbys. Kann mal jemand Beispiele nennen?..."

 

 

Tim genoß die Blicke auf dem Schulhof. Er hatte es geschafft, sie für ihn zu interessieren. Sein Grinsen machte ihm Spaß, er würde jetzt immer grinsen, wenn er auf dem Schulhof war oder nach Hause ging.

"Tim, warte mal.", eine weibliche Stimme von hinten. Ein Mädchen aus seinem Kurs. Hieß sogar auch Kerstin. Früher hätte er gewunken und gesagt, er müsste schnellstens gehen. Aber das war früher, heute war er darüber erhaben. Er war froh, sich nun unterhalten zu können, denn Zeit hatte er ja wirklich genug.

"Was gibt’s denn?", fragte er, ohne dass ihn das Grinsen verließ.

"Ich wollte dir nur sagen, dass mir dein Vortrag sehr gefallen hat. Sehr mutig von dir, einfach so aufzustehen und dir Respekt zu verschaffen."

"Dankeschön.", sagte Tim mit einem ernsteren Gesichtsausdruck. Es bedeutete ihm viel, dass jemand so etwas zu ihm sagte. Sie war also keine von diesen "Was machst du denn so?" - Bekanntschaften.

"Ich finde es beeindruckend, dass du diese Therapie so meisterst."

"Dankeschön."

Langsam kamen ihm seine Antworten dumm vor. Aber er wusste nichts mehr zu sagen.

"Und wie war das mit den stotternden Mädchen?"

"Wieso?"

"Ich hatte gehofft, wir könnten mal - während du noch hier bist - eine Fahrradtour zusammen machen oder so."

"Sehr gerne. Ich bin zwar total aus der Übung und meine Raucherlunge kriegt momentan auch ziemlich viel Stoff. Aber bis zum Kanal reicht’s bestimmt."

Kerstin II lachte und zeigte mit einem Finger dahin, wo sie ihre Lunge vermutete.

"Meine ist auch hin.", sagte sie.

"Ja, alles klar, wann sollen wir denn los?"

"Morgen nach der Schule?"

"O.k. Bis morgen dann." Und das Grinsen kam zurück.

Auf dem Weg nach Hause bemerkte Tim, dass dieser Sommer ganz schön intensiv war und auch noch werden würde. Sowohl von den Temperaturen her - denn er schwitzte stark, diesmal nicht aus Angst - als auch vom Zwischenmenschlichen.

 

Er traf seine Mutter, als er nach Hause kam. Sie öffnete ihm die Haustür des Sechs-Familien-Hauses, als sie vom aus dem Keller kam.

"Na, Sohnemann, viel gelernt heute?"

"Ich habe sie fertiggemacht.", antwortete Tim und sah seine Mutter an wie es ein Krieger tut, der eine Trophäe mit nach Hause bringt.

 

 

 

Fußball im Eggerschen Hause

 

 

"Wichs’ dat Ding doch rein, ey! Mann, dat gibbet doch nich!"

Klirrende Bierflaschen, dröhnende Fernsehlautsprecher, ein gelangweilter Hund, der ähnliche Situationen schon oft erlebt hatte, drei aufgeregte Hundebabys, die solche Situationen noch oft erleben würden.

"Ich sach euch dat! Dat war’n Fehler, datti den gekauft haben. Den hättn se echt zu Hause im Urwald lassen sollen!"

"Datt mein ich aber auch, Gerd! Ich bin sowieso der Meinung, datt unsere heimischen Spieler zu wenig gefördert werden. Guck’ dir die ganzen Kids doch mal an: die hängen rum und fangen aus lauter Langeweile an zu kiffen. Die sollten lieber Sport machen und die hätten dat Zeuch dazu, verstehsse?"

 

Es war endlich soweit, Samstag Nachmittag um 15:45 Uhr.

Fußball!

Der Kasten Bier unter dem Tisch als Repräsentant für die anderen zwei in der Garage. Bei Gerd Eggers konnte man gut feiern, besonders wenn die Frau nicht im Haus war.

Fußball, das war schon was. Einfach die Beine hochlegen und die Leute anschreien, die da durch die Gegend liefen. Keinen Gedanken an die Arbeit verschwenden, nur daran denken, dass man morgen frei hätte und ruhig mit einem riesen Kater aufwachen könnte und wohl auch würde.

"Die können nichts heute, die Ärsche! Datt iss ja zum Kotzen mit denen. Ham die ‘n Sonnenstich, oder watt?"

 

Da saßen sie nun: Gerd Eggers als Hausherr und seine Kumpels Ralphi (der Hausmeister der Appartmentanlage), Zilli (die wenigsten Menschen wussten, wie der richtig hieß) und Hansi. Die vier kannten sich schon lange, schon aus der Schulzeit. Damals schon hatten sie oft hinter dem Haus von Gerds Eltern "gepöllt", und sie waren früh ins Stadion gegangen. 13,- DM für eine Jugendkarte, das konnte man wirklich noch bezahlen, vor allen Dingen, wenn man reiche Eltern hatte.

Irgendwann, so mit 17 hatten sie dann - als kräftige junge Männer - eine Phase gehabt, in der sie sich als Hooligans einen Namen gemacht hatten. Aber das war ja nun vorbei, der Ernst des Lebens hatte sie nun eingeholt. Dennoch waren die Samstage mit den alten Kumpels noch ein großer Genuß.

 

Der Halbzeitpfiff ertönte. 1:0 für die anderen, aber das war ja auch auswärts in München, da konnte man nicht viel erwarten. Wäre es ein Heimspiel gewesen, wären die vier bestimmt hingegangen. Und dann hätten "unsere Jungs" sich nicht so "lumpen lassen".

 

"Will noch einer ‘n Bier?", fragte Gerd und bunkerte schon mal eines für sich.

"Jau!"

"Jau!"

"Jau!"

"Alles klar, hier Ralphi - Hansi - Zilli, kannst du schnappen?"

"Ich bin nich schuld, wenn euer Laminatboden kaputtgeht, weil die Pulle hinfällt.", beschwerte sich Zilli und schnappte die Pulle.

"Ach, Ralphi?", rief Gerd zu Ralph herüber.

"Jau?"

"Was würde das eigentlich kosten, wenn man ‘nen Fahrstuhl in die Appartmenthäuser bauen ließe? Würde sich das tragen?"

"Denkst du an die Rollstuhlfahrerin von neulich?"

"Ja, im Nachhinein gesehen habe ich die bestimmt ein bißchen schroff behandelt. Außerdem - warum haben wir keinen Fahrstuhl?"

"Gerd, hör mal, hast du eigentlich überhaupt kein räumliches Bewusstsein?"

"Warum?"

"Weil, wo willst du denn bitteschön den Fahrstuhl noch hinsetzen? Im Treppenhaus ist die Treppe und hinter der Wand ist draußen, verstehste? Man könnte höchstens noch einen Fahrstuhl außen ans Gebäude anbringen. Aber das würde sich doch wirklich nich lohnen, denn, überleg mal, wieviele RollstuhlfahrerInnen sich bisher für eine Wohnung interessiert haben.

Eine, genau eine.

Alte Leute haben wir auch nicht in unseren Häusern. Das lohnt sich wirklich nicht."

"Hört ma, watt issn hier mit Fußball eigentlich? Wollt ihr weitersabbeln oder können wir mal die Kommentare anhören?", mischte Hansi, der heute ansonsten recht gesprächsfaul war, sich ein.

"Jau, stimmt! Lasst uns mal wieder Fußball gucken. Ich hab eh keine Lust, mich über meinen Alltag zu unterhalten. Fußball ist besser, zumindest am Wochenende!"

 

Und so saßen sie dort und redeten über Fußball. Sahen diesen jungen, durchtrainierten Männern zu, für die es selbstverständlich war, dass sie sich bewegen konnten. Dass sie mal rennen, mal abstoppen und volle Schubumkehr leisten konnten, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden.

Sie vertrauten einfach auf ihre Beine und darauf, dass die Schaltzentrale auch die richtigen Befehle weitergab.

 

 

 

Zurück ins Krankenhaus

 

 

"Ohne viel zu sagen, halten wir in Hagen!", ertönte es aus den Lautsprechern des IC, der mal wieder in Richtung Süden unterwegs war.

Was ist denn mit dem los?, dachte Tim, Ist der betrunken? Tim wusste nicht, dass der Zugführer, der schon die ganze Strecke von Hamburg-Altona bis Hagen eben diese Art von Reimen in die Ohren der amüsierten Leute redete ("Nicht ohne Grund halten wir in Dortmund" oder "Warum sehen sie sich nicht mal in Bochum um?" gehörten an diesem Abend unter anderem dazu), einfach nur überspielen wollte, dass er keine Lust mehr auf diese Art von Arbeit hatte.

Er arbeitete jetzt seit fünf Jahren für die Bahn, in dieser Zeit hatten sich drei Leute vor den Zug geworfen - das erleichterte nicht gerade die Arbeit. Und auch sonst ödete es ihn an, immer nur die Schienen vor sich zu sehen und den Leuten zum tausendsten Male mitzuteilen, dass der Zug in Kürze in Wuppertal halte und dass man dort die Möglichkeit hätte, auf den so und so Zug nach so und so um so und so viel Uhr auf Gleis so und so umzusteigen - um das Spielchen dann in Solingen zu wiederholen; dann in Köln, in Bonn und so weiter.

Wenn Tim das gewußt hätte, hätte er vielleicht ein bißchen Verständnis für die Situation des Zugführers aufgebracht. Aber so fand er diese Sprüche einfach nur albern. Da hatte schon jemand die Möglichkeit, ohne Hindernisse sein Sprachorgan einzusetzen, und dann kam da nur so etwas bei heraus. Die Leute gingen Tims Meinung nach mit ihren Fähigkeiten immer so unsinnig und verschwenderisch um.

Tim war ein wenig angenervt. Es hatte heute nicht alles so geklappt, wie es hätte klappen sollen. Zuerst war der Zug, der ihn von seiner kleinen Heimatstadt nach Dortmund bringen sollte, nicht erschienen, weil irgendwo wieder irgendetwas passiert war.

Irgendeiner der Gescheiterten hatte mal wieder keine Lust mehr gehabt.

Also hatte Tims Vater den Wagen anschmeißen müssen, um Tim nach Dortmund zu fahren. In der Dortmunder Innenstadt war der Teufel los gewesen - was selbst hier für einen Sonntag Abend ungewöhnlich war. Am Hinterausgang hatte ihn der Vater dann rausgeschmissen, und Tim war schon lange nicht mehr so schnell gerannt um einen Zug zu kriegen. Gerade war er in den Zug gesprungen, da waren auch schon die Türen mit diesem lauten, an den Nerven zehrenden Gepiepe zugefallen. Im Raucherabteil angekommen, waren Tim dann direkt zwei Dinge aufgefallen: Erstens war das Diktiergerät nicht im Rucksack; was bedeutete, dass er morgen früh ein Problem haben würde, und zweitens hatte Tim vergessen, sein Portemonnaie mit einem oder zwei Geldscheinen zu füllen und da er kein eigenes Konto hatte sondern von den Eltern noch Taschengeld bekam, konnte er auch nichts abholen. Das wiederum hieß, dass er sich entweder Geld würde pumpen müssen oder dass seine Eltern es dem Diktiergerät beilegen müssten.

Das war zwar alles kein Problem, aber ärgerlich war es trotzdem. Besonders das Diktiergerät mit der dazugehörigen Kassette hätte Tim am nächsten Morgen bestimmt gut gebrauchen können.

Auf dieser Kassette befanden sich mehrere repräsentative Aufnahmen der letzten vier Wochen - mit denen Tim vollkommen zufrieden war. Er hätte dem Therapeuten gerne seine Erfolge dargelegt, und jetzt konnte er das nur aus der Erinnerung tun. Außerdem galt es in der Therapie als eine der schlechtesten Lügen zu sagen: "Tut mir leid, aber ich habe mein Diktiergerät nicht dabei." Das hieß dann nämlich meistens, dass der- oder diejenige nicht in der Lage gewesen war, gute Aufnahmen hinzubekommen und sich nicht traute, es sich selbst, den anderen und dem Therapeuten einzugestehen. Mark Weila war in der Zeit sehr bekannt dafür geworden.

Tim Habermann war zwar bestimmt niemand, der sich selbst dermaßen angelogen hätte, aber dennoch war es ihm unangenehm, nichts vorweisen zu können.

Was könnte er denn dann morgen erzählen? Wenn sie in der Runde säßen und jeder seinen ‚Wie ich meinen Urlaub verlebte‘ - Aufsatz zum besten geben würde.

Er könnte erzählen, dass er so selbstbewusst sein Ding durchgezogen hatte, dass er dafür sogar verhauen worden war.

Er könnte erzählen, dass er einen sehr guten Vortrag vor einem Kurs gehalten hatte, und dass er danach von einem netten Mädchen eingeladen worden war. Obwohl er das letzte lieber rauslassen würde, denn er wollte ja nun bei Kerstin I sein Glück versuchen.

Er könnte erzählen, dass er nicht einmal in den vier Wochen sprachliche Schwierigkeiten gehabt hatte und dass er konsequent jeden Morgen Sprechübungen gemacht hatte. Das würde er wahrscheinlich auch alles erzählen, und der Therapeut und die anderen würden applaudieren.

Tim galt als sehr erfolgreich in dieser Gruppe, und wahrscheinlich würde er dies in deren Augen auch immer bleiben. Wenn er seine Erfolge denen von Mark Weila oder Magdalena Hartzig gegenübergehalten hätte, dann hätte Tim wohl um Längen vorgelegen. Magdalena Hartzig hatte es bisher geschafft, den Blickkontakt zum Gesprächspartner zu halten, während Mark Weila immer noch bei einem verkrampften trickfreien Stottern geblieben war. Für die beiden hatte die Therapie tatsächlich keinen Sinn, aber auch Jochen Worrenfeld zum Beispiel hatte immer noch eine recht eigenwillige Zunge und konnte bei weitem nicht damit angeben, ein kontrolliertes Sprechen verinnerlicht zu haben. Dasselbe galt für Sven Dorn, der seine Techniken auch nur dann anwendete, wenn der Herr Therapeut in der Nähe war. Bei den anderen lief es sehr gut, besonders bei Manuel Hartner und Kerstin Lierz. Ebenfalls hatte wie gesagt Tim einen riesen Satz in die richtige Richtung gemacht, und er war erfolgreicher denn ja - für die Außenwelt.

Aber das, was niemand sah: Tim fühlte sich nicht erfolgreich. Denn er hatte zwar seine Sprechfreude größtenteils zurück, aber ihm kam das alles viel zu schnell. Viel zu schnell, denn er hatte seine Ängste erst ein paar Wochen hinter sich und glaubte nicht daran, dass diese für immer verschwunden wären. Dazu waren sie viel zu hart gewesen, hatten ihm viel zu sehr die Luft abgeschnitten, hatten ihn bei Minus so und so viel Grad nach draußen in die Kälte getrieben, weil er es drinnen beim Telefon nicht aushielt. Und innerhalb von einer Woche - denn mehr war es ja nicht gewesen - waren die Ängste ausgelöscht und verwissenschaftlicht worden. Es kam Tim so vor, als dürfte er sie nicht mehr empfinden, weil sie dem Erfolg seiner Therapie im Weg stünden.

Wenn er sich das überlegte, wieviel Angst er bis vor kurzem gehabt hatte, ein fremdes Mädchen anzusprechen und sie zu fragen, ob sie mit ihm irgendwo hingeht. Er war in den letzten Wochen mehrmals mit Kerstin II unterwegs gewesen, und es hatte nichts an Überwindung gekostet. Da war keine Spur mehr von Angst, noch nicht einmal die normale Angst, die jeder Junge anfangs davor empfindet, wenn er begreift, dass er ein Mädchen ansprechen muß, damit sie auf ihn aufmerksam wird.

Für Tim war das alles egal geworden, er war der starke, erfolgreiche, bald therapierte junge Mann, der fast vergessen hatte, was der Ernst des Lebens damals für ihn bedeutet hatte. Er wusste, dass Kerstin II sehr überzeugt und begeistert davon war, was Tim in den letzten Wochen alles so geleistet hatte. Sie schaute zu ihm auf, das konnte er deutlich spüren. Er genoß das natürlich. Aber - irgendein aber gab es immer - Tim erkannte sich nicht mehr wieder, er war nicht mehr er selbst. Er war groß geworden mit seinen Ängsten, mit seinen Sorgen, mit seinem Stottern - irgendwie waren diese Dinge ein Teil von ihm geworden. Sie hatten ihn sozialisiert, nicht alleine, aber sie hatten einen großen Teil dazu beigetragen. Er hatte diese Dinge zwar immer gehaßt, aber sie gehörten zu seinem Leben und bestimmten es weitgehend. Und nach einer Woche sollte das alles Geschichte gewesen sein?

Wenn er sich vorstellte, was das hieß; von jetzt an musste er alles selbst in die Hand nehmen, er konnte sich vor nichts mehr drücken.

Das war die eine Seite, und die andere Seite war: wie sollte er ohne Hürden leben? Das war zwar ein komischer Gedanke, aber es war nicht besonders unnormal, diesen zu denken. Ein Truckfahrer, der sich seinen Rücken kaputtmacht, indem er unendlich viele Kilometer im Jahr mit diesem knatternden Gerät zurücklegt, wird große Probleme haben, irgendwann auf seinen Truck ganz zu verzichten. Denn es ist ein ganz anderes Gefühl, als Truckfahrer auf der Autobahn angesehen zu werden, als wenn man als Fußgänger am Stock seinem Nachbarn "Hallo!" sagt.

Der Rocksänger, der nach Hause kommt und wieder ein Niemand ist, fühlt sich ebenfalls nicht besonders gut. Image heißt das Zauberwort! Der Stotterer lernt zuerst, mit seinem Stottern zu leben (oder auch nicht), versucht, es irgendwie seinem Selbstbild beizufügen. Es ist nicht nur das Stottern sondern das Image eines Stotterers. Und dieses Image hatte Tim sich in den Jahren zuvor mühsamst aufbauen müssen und war es nun schlicht und ergreifend wieder los. Natürlich war er froh, es los zu sein, aber es war dennoch komisch, auf einmal ohne Rollstuhl vorwärts zu kommen. Wahrscheinlich handelte es sich um eine vorübergehende Erscheinung, eine kleine Unsicherheit (Tim hatte oft das Bild von dem Laufen lernenden Rehkitz im Kopf), die sich nach ein paar Jahren wieder legen würde. Die Lungen eines Ex-Rauchers pfeifen auch nach einem Jahr noch, obwohl sie froh sind, endlich durchatmen zu können. Der Ex-Raucher hustet jeden Morgen immer noch einen Brocken Teer aus, obwohl die letzte Zuführung dieses Drecks schon Monate her ist.

Das war es, was Tim die ganze Zugfahrt und auch schon vorher beschäftigte: bin ich wirklich erfolgreich oder ist das nur mal wieder so ein vorübergehender Traum, aus dem Mama mich morgen erweckt, indem sie sagt: ‘Tim, du mußt zur Schule’?

Tims Erfolg war alleine schon daran zu erkennen, was für einen Eindruck er machte. Die Sorgenfalten zum Beispiel, die einfach nicht in das Gesicht eines 17jährigen paßten, sie waren spurlos verschwunden. Ein kleiner Bauch war ihm gewachsen und alles in allem wirkte Tim ein wenig aufrechter, mutiger, stämmiger. Hätte der Mann gegenüber im Zugabteil vor einigen Wochen über seine BILD gelugt, so hätte er einen ängstlichen Jungen gesehen, der hilflos in der Weltgeschichte herumfuhr. Im Vergleich dazu hätte er jetzt jemanden vor sich, dessen Körpersprache um einiges mehr zu einem Gespräch einlud als die des arme Jungen.

 

Körpersprache, das hatte Tim bis vor einiger Zeit noch gar nicht gekannt. Er hatte nie zuvor gewußt, was er mit seinem Körper auch ohne zu reden hätte anstellen können. Denn nicht nur sein Sprachorgan war blockiert gewesen, der ganze restliche Teil seines Körpers hatte stets unter einer verkrampften Haltung gelitten. Doch in dem Moment - in dieser besagten ersten Woche - in dem er wieder Freude am Sprechen gewonnen hatte, hatte sein Körper wieder angefangen zu leben. Und deswegen hatte Kerstin II endlich einmal zu ihm hingeschaut und angefangen, ihn zu bewundern - was sie vorher nie getan hätte. Dennoch waren Tims Zweifel an der Echtheit seines Erfolges und seines neuen Auftretens auf jeden Fall berechtigt und keinesfalls verwerflich, wie er es sich selbst immer sagte.

 

Manuel war es, der Tim irgendwann am Abend die Tür öffnete.

"Hi, Alter!" posaunte Tim ihm entgegen, was die Nachtwache, die wohl hinter der Tür gestanden zu haben schien, sofort mit einem bitte Ruhe, die Kinder auf Station B schlafen! - Blick erwiderte.

Die Freunde umarmten sich, und in dem Moment verschwand die Nachtwache auch wieder, genauso wie in einer Geisterbahn die Gespenster wieder in ihrem Sarg verschwinden, wenn man an ihnen vorbeigefahren ist.

"Wer ist schon alles da? Und überhaupt, warum bist du denn schon da?", fragte Tim.

"Ach, meine Maschine ist kaputt, und da musste ich mit dem Zug fahren - und Züge fahren ja auch nicht immer. Kennst du ja auch.", antwortete Manuel.

"Stimmt. Wer ist denn sonst schon da?"

Der Sarg öffnete sich wieder und heraus trat dasselbe Gespenst, welches schon vor einer Minute für Langeweile gesorgt hatte.

"Meine Herren, könntet ihr bitte eure Diskussion in eurem Aufenthaltsraum weiterführen? Die Kinder schlafen."

"Jep!", sagten beide, öffneten ihre Türe und ließen das Gespenst im Flur stehen. Das Gebäude, in dem die Stotternden hausten, teilten sie mit mehreren anderen Gruppen. Es bestand aus insgesamt drei Gängen - also dem Erdgeschoß-Gang, dem Gang im ersten und dem im zweiten Stock - von denen die beiden unteren haargenau identisch aufgeteilt waren: es gab vier in sich geschlossene Abteilungen, die jeweils durch zwei Haupttüren voneinander getrennt waren. Hinter diesen Türen verbarg sich eine architektonische Meisterleistung, denn wie in so vielen vom Staat geförderten Massenbeherbergungsstätten fand man hier in allen vier Stationen dieselbe Anzahl von Tischen, Stühlen, Betten, Wandschränken und so weiter: in derselben geschmacklosen Farbe und in derselben einfallslosen Anordnung. Es sah alles hundertprozentig gleich aus. Und nicht nur hier sondern auch im Gebäudeteil am anderen Ende des hufeisenförmigen Traktes.

Nun war es so, dass in der Station gegenüber eine Kindergruppe auch so etwas ähnliches wie eine Sprachtherapie machte. Die Kinder waren jedoch noch zu klein, um verantwortungsbewusst an ihrem Sprechen zu arbeiten, daher bestand ihr Therapieprogramm aus den üblichen pädagogischen Maßnahmen, die man eben mit kleinen Kindern so veranstaltete: malen, basteln, spielen - und zwischendurch mal kurz über ein für die Kinder noch gar nicht vorhandenes Problem reden: ihr Sprachproblem.

Diese Kinder jedenfalls lagen zumeist zeitig im Bett, daher war ab neun Uhr am Abend äußerste Rücksichtnahme der anliegenden Stationen gefordert. Dass diese Rücksichtnahme auch eingehalten wurde, dafür sorgte eine Crew von insgesamt vier Nachtwachen - drei weibliche und eine männliche - die sich in der Regel wochenweise ablösten. Eine von ihnen, Frau Hammerschmidt, war - wie der Name bereits implizierte - eine Frau, mit der zu reden für einen Patienten äußerst schwierig war. Denn es war so um sie bestellt, dass diese Frau Hammerschmidt erstens gerade eine harte Scheidung hinter sich hatte; und zweitens hatte sie schon in diesen Stationen gearbeitet, als hier noch keine Erwachsenen-Stotterertherapie stattfand sondern das Gebäude noch dazu genutzt wurde, wozu es ursprünglich gebaut worden war: als Klinik für Leute, die alleine nicht mehr zurecht kamen. Daher auch die roten Alarmknöpfe, die über den Betten angeordnet waren. Jene Alarmknöpfe waren damals anscheinend oft benutzt worden - und somit ging es für die Dame nicht darum zu begreifen, dass es sich hier nicht um Pflegebedürftige sondern nur um Stotterer handelte - es ging lediglich um Pflichterfüllung und um Gewohnheit. Demnach wurden die erwachsenen Stotterer von Frau Hammerschmidt behandelt, als sei sie dafür verantwortlich, dass alle am nächsten Morgen noch lebten, was sich dadurch äußerte, dass sie sehr oft mitten in der Nacht wie ein Gespenst ins Zimmer schlich, sich zu den Betten tastete und dann in einem Anfall von Verantwortungsbewusstsein ihre Taschenlampe in das Gesicht des betreffenden Schlafenden hielt. Dieser öffnete dann verdutzt die Augen und konnte gerade noch wahrnehmen, wie sich die Zimmertüre wieder schloß.

 

Manuel und Tim begaben sich in Richtung Vorraum, wo sie auf den alten Stühlen platznahmen.

"Und sonst so?", fragte Tim.

"Och, ja, sonst habe ich mir ein neues Motherboard gekauft."

"Äh, was hast du dir gekauft?"

"Motherboard, Mutter-äh-bord. Was heißt denn ‘motherboard’ auf Deutsch, du willst doch den Englisch-Leistungskurs belegen wenn das hier mal alles vorbei ist, Tim."

"Mutter---brett, aber was ist das?"

"Du gehst auch nicht mit der Technik, oder? ‘Mutterbretter’ baut man sich in seinen PC, um sagen zu können, ‘ich habe ein neues motherboard’. Früher hat man sich in Gesellschaft übers Theater unterhalten. Heute redet man halt über Fußball oder über Computer, wenn man sich ansonsten nichts zu sagen hat."

"Hm, erzähl das dann mal lieber nachher dem Sven, der müsste ja auch gleich kommen."

"Ja, der kommt gleich."

"Ist Kerstin schon da?"

"Nee, die kommt ja immer zu spät, weißt du ja. Und? Gute Diktiergerätaufnahmen dabei, Tim?"

"Hätte ich, aber ich habe das Teil leider vergessen."

"Ist das nicht immer Marks Ausrede?"

 

 

Es war weit nach elf, fast schon zwölf. Tim und Sven lagen längst in ihren Betten und unterhielten sich angeregt über die vergangenen Wochen. Es war mal wieder hell im Zimmer, obwohl es eigentlich hätte dunkel sein müssen.

Tim liebte das, sich mit einem guten Kumpel über Dinge zu unterhalten, die sehr tief gingen. Tiefer als die Gespräche von ‘denen da draußen’, die ihre gesunden und ausnahmslos funktionierenden Sprachorgane viel zu oft dazu benutzten, einen viel zu großen Blödsinn zu erzählen. Es war genauso wie Manuel es vorhin schon beschrieben hatte: die Leute unterhielten sich übers Theater oder über ‘motherboards’ - aber die meisten führten ausschließlich solche oder ähnliche Gespräche und sie sahen gar nicht, was sie da mit ihrer Begabung machten, die nicht jeder Mensch besaß: das Sprechen.

‘Ökonomie der Bewegungen’, wo auch immer Tim diesen Ausdruck aufgeschnappt haben mochte, und was auch immer er in seinem ursprünglichen Gebrauch zu bedeuten hatte, er schwirrte ihm oft im Kopf herum, wenn er im Bus saß oder an der Schlange in einem dieser Konsumtempel stand - und hörte, wie die Leute sich unterhielten, und wie verschwenderisch sie mit ihrer Sprache umgingen.

Da redeten sie über das neueste Modell dieser Spielzeuge, die die Menschheit erst seit einiger Zeit überflüssigerweise mit sich herumtrug: Handys (die Tim bis vor kurzem noch als mobile Gefahr verstanden hatte - denn Handys klingelten überall) - und sie hatten noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei. Anstatt sich über wirklich wichtige Dinge zu unterhalten, verschwendeten sie in ungeheurem Ausmaße ihre Luft, ihre Gedanken, ihre Zeit.

Wirklich wichtige Dinge, das waren für Tim solche Themen, die den jeweiligen Gesprächspartner als Menschen und den Redenden selbst betrafen - menschlich betrafen. Sprache war für Tim Ausdruck von Gefühlen und Gedanken - kein belangloses Geschwafel übers Wetter oder über das neueste Handy-Modell. Natürlich galt dies alles nur für den alten Tim, der tatsächlich ökonomisch mit seinem Sprechen umzugehen hatte. Er hatte den Ausdruck seiner Gedanken ständig auf das Wesentliche beschränken müssen, und natürlich hätte er stets liebend gerne alles erzählt, was ihm so in den Kopf gekommen war. Auch er hätte gerne mal einfach nur so geschwafelt. Da dies aber nie funktioniert hatte, war er schlicht und ergreifend mit den Jahren eifersüchtig geworden - auf den Rest der Menschheit. Auf ihre Fähigkeit zu schwafeln.

Jetzt konnte Tim schwafeln, empfand es auch als sehr schön. Da er aber wusste, dass er das bei anderen Leuten haßte, hatte er stets ein schlechtes Gewissen, wenn er mal wieder nicht hundertprozentig sinnvolles Zeug erzählte - auch wenn er das nicht zu haben brauchte. Dennoch, er redete gerne, aber er fühlte sich nur dann richtig wohl, wenn er tiefgreifende Gespräche führen konnte. Kurz: Smalltalk war überhaupt nichts für ihn und er würde das noch lernen müssen. Denn ein Großteil des gesellschaftlichen Zusammenlebens bestand ja aus Smalltalk. Mit Smalltalk lernte man seinen Partner kennen, durch Smalltalk wurde schon immer entschieden, ob ein Mensch in einen Betrieb paßte oder nicht. Smalltalk war wichtig, auch wenn Tim diese Art von Kommunikation (noch) nicht mochte.

Aber jetzt hatte Tim die Gelegenheit, ein paar tiefergreifende Gedanken zu spinnen. Mit seinem Freund Sven, dem er es anfangs überhaupt nicht zugetraut hätte. Denn es war nunmal ein Fakt: Hauptschüler waren in den Köpfen von Gymnasiasten größer gewordene Schmuddelkinder, mit denen zu reden schon ein Wagnis an sich war. Es war so einfach, die Eltern eines Gymnasiasten zu schocken: man brauchte nur seinen neuen Kumpel mit nach Hause zu bringen, der zufällig zur Hauptschule ging. Oder noch besser: seine Freundin...

Auch Tim hatte es anfangs als Wagnis empfunden, mit einem Hauptschüler zusammen in einem Zimmer zu schlafen. Niemand ist frei von Ideal-Überschüttung.

 

"Wie war eigentlich dein Vortrag vor deiner Klasse?", fragte Sven.

"Stufe.", erwiderte Tim.

"Hömma, willst du mich auf den Arm nehmen? Ist mir doch egal, wie das heißt. Du weißt was ich meine."

"Ja, ist ja schon gut - hervorragend! Aber ich dachte, ich hätte dir das schon erzählt?"

"Och, weißt du, du erzählst mir so viel, seitdem du nicht mehr so herumpustest wie am Anfang."

"Vielen Dank auch, also wirklich! War das wirklich so schlimm mit meiner Herumpusterei?" Tim drehte den Kopf nach links und ließ seinen Blick durchs Zimmer schweifen, bis er an seinem Ziel - Sven - angekommen war.

"Ach, Tim. Natürlich war das nicht die erotischste Art zu reden, aber du müsstest langsam wissen, was schlimmer ist als so zu stottern wie du damals."

"Was denn?"

"Na, so zu stottern und sich auch so zu verhalten. Verstehst du? Du hast dich verhalten wie ein Stotterer, warst klein und schwach und ängstlich und einsam und so. Und dazu dann noch das Pusten und Schnaufen und Hecheln; das kann ja keinen guten Eindruck machen. Aber dein jetziges Verhalten und dein altes Stottern, das zusammen wäre gar nicht so abstoßend wie du es jetzt denken magst. Das äußere Gesamtbild muß stimmen."

"Verstehe, du meinst, es liegt an mir, ob mein Stottern mich behindert oder nicht?", fragte Tim, mal wieder erstaunt über Svens Scharfsinn.

"Jep."

 

In diesem Moment wurde das Zimmer plötzlich von zwei Scheinwerfern durchflutet. Es waren die Scheinwerfer von einem Auto, welches auf dem Platz vor dem Fenster der beiden wendete.

"Das ist doch bestimmt Kerstin.", sagte Sven.

Tim sprang aus dem Bett und zog den Vorhang zur Seite. Zum Vorschein kam ein kleiner Fiat, Panda oder Punto oder so etwas. Die Beifahrertür wurde geöffnet und ein Mädchen stieg aus. Tim erkannte im ersten Moment nicht, ob es sich hier wirklich um Kerstin handelte, denn das Mädchen, welches dort in der Dunkelheit darauf wartete, dass der Fahrer ausstieg und den Kofferraum aufschloß, hatte kürzere Haare als die von Kerstin vor den Ferien gewesen waren. Es war ja auch sowieso schwer, eine Person bei Nacht zu identifizieren.

"Hey, komm raus! Ich muß meine Tasche noch aus dem Kofferraum holen." Ja, es war Kerstins Stimme, die Tim da hörte.

"Was meinst du, wen hat sie zu so später Stunde noch überreden können, sie mal eben so die dreihundert Kilometer durch die Nacht zu steuern?", fragte Tim Sven.

"Ach, vielleicht ihre Mutter. Oder sogar ihren Freund?" Dafür wurde Sven mit einem sehr ernsten Blick bestraft.

"Tschuldige!", sagte er.

Der Fahrer (es war wirklich ein ‘Er’) stieg aus dem Kleinwagen aus, ohne den Motor auszuschalten oder gar das Licht auszumachen, schloß den Kofferraum auf (er musste wohl einen Zweitschlüssel haben, mit dem er den Kofferraum aufschließen konnte, beziehungsweise vielleicht waren Kofferraum- und Zündungsschlüssel auch nicht dieselben; denn: der Motor lief ja noch), und wollte sich wieder schwungvoll in seinen Wagen schmeißen, als ihn Kerstin noch an seinem Arm festhielt.

"Warte!", sagte sie. "Haben wir nicht etwas vergessen."

Was jetzt folgte war genau das, was Tim sich in den letzten Wochen sehr oft ausgemalt hatte. Es folgte nämlich ein nasser, inniger Zungenkuss - so nass, dass Sven und Tim ihn sogar bis in ihr Zimmer hören konnten.

Wenn der andere so etwas vergessen hätte, hätte Kerstin ihn nicht daran erinnert, dann konnte er nicht der richtige für Kerstin sein. Tim hatte mal ein Buch gelesen, in dem der Satz gestanden hatte: Weißt du, Mann, es ist doch immer so: die, die es nicht verdient haben, kriegen immer die besten Frauen!

Damals hatte Tim den Satz noch nicht in seiner vollen Intensität verstanden, aber jetzt fing er an zu begreifen.

Und wie er begriff! Er begriff so viel, dass er eines nicht begriff: seine eigene Erscheinung am Fenster. Er stand dort in seinem uralten Pyjama mit diesen kitschigen Teddybären auf den Ärmeln, mit der linken Hand hielt er den Vorhang zur Seite, mit der rechten hielt er sich an der Wand rechts neben dem Fenster fest. So verharrte er dort mit aufgerissenem Mund und sah zu, wie sich zwei andere aufgerissene Münder ineinander verkeilten - bis sie plötzlich in einem Anfall von Telepathie (denn anders konnte Tim sich das im Nachhinein nicht erklären) voneinander abließen und den Kopf so drehten, dass sie beide ins Zimmer sehen konnten. Der überraschte Gesichtsausdruck war auf beiden Seiten - hinter und vor dem Fenster - nicht zu übersehen. Lange Sekunden standen sie dort, alle drei, ohne sich auch nur auf irgendeine Art und Weise zu bewegen. Das allererste, was passierte, war, dass Kerstin in einem fürchterlichen Lachanfall ausbrach. Lachanfall war gar kein Ausdruck - sie lehnte sich an diesen Wagen, dessen Motor immer noch lief, warf den Kopf nach hinten und lachte los. Sven, der schon fast eingeschlafen war, wurde davon wieder hellwach.

"Was ist da denn los? Kann mal einer die Nachtwache holen?", murmelte er, benommen wie jemand, der gerade aus einer Narkose nach einer Blinddarmoperation oder so etwas aufwacht. Er richtete sich so auf, dass er auf seinen beiden Ellenbogen und auf dem Bauch direkt aus dem Fenster hinaussehen konnte. Sein Blick fiel direkt auf die sich krümmende Kerstin, die gar nicht mehr wusste, was sie machen sollte.

Der Mann, der sie gerade noch mit seiner Zunge beglückt hatte, stand daneben, kratzte sich am Kopf und begriff nicht, was daran so lustig war, dass die beiden gerade in einem intimen Moment von einem Spanner überrascht worden waren. Fassungslos ließ er den Kopf hin und her schwenken - zwischen seiner Freundin und dem Spanner. Noch einmal kratzte er sich hinter seinem Ohr und schien zu überlegen, ob er nun zuerst die Frau beruhigen oder Tim anbrüllen sollte - oder lieber eine Flohkur beantragen sollte.

Zu nichts von alledem kam er, denn schließlich war das Schloßgespenst ja immer noch im Hause unterwegs - beziehungsweise jetzt nicht mehr im Hause sondern außerhalb; sie ging nämlich schnurstracks auf das Auto zu. Und sie war in einem Tempo bei ihnen, dass die Vermutung wirklich nahe lag, dass es sich um ein Gespenst handelte.

"Was ist denn hier los?!", brüllte sie in einem Anfall von Hysterie. "Sagen sie mal, spinnen sie denn eigentlich? Hier schlafen die Kinder und sie lassen zuerst einmal das Licht vom Auto an, zweitens den Motor - und drittens wird hier auch noch gelacht wie verrückt! Was soll das denn?", schrie sie.

"Und sie?", fragte Kerstins Freund, "Sie brüllen doch hier auch herum! Meinen sie, die Kinder hören sie nicht, nur weil sie von der Security sind?"

"Ich bin erstens nicht von der verdammten Secru-dingsbums und zweitens: kommen sie mir ja nicht so! Wir sind hier doch nicht im Kindergarten! Das gibt einen Eintrag ins Nachtwachenbuch! Wie heißen sie?", fragte sie - immer noch übertrieben hysterisch - und meinte damit Kerstins Freund. Sie tippte ihm dabei mit ihrem etwas krummgebogenen Hexen-Zeigefinger immer wieder auf die Schulter.

"Also, ich heiße Frank, aber das geht sie erstens nichts an und zweitens können sie sich ihr Nachtwachenbuch in die Haare schmieren. Denn ich gehöre nicht zu dieser komischen -- Behindertenvollzugsanstalt! Und hören sie bitte auf, meine Schulter zu bearbeiten!"

Die Nachtwache wurde immer wütender.

"Das glaube ich ja wohl alles nicht! Gehören sie denn zu diesem Haus hier?", fragte sie Kerstin. Kerstin lachte nicht mehr, obwohl sie immer noch eine Freudenträne auf ihrer Wange hatte. Sie nickte.

"Ja, ich komme gerade wieder."

"Sie sind über eine Stunde zu spät! Das gibt jetzt erst recht einen Eintrag in das Buch! Ich werde mich außerdem höchstpersönlich über ihr Verhalten beschweren!"

"Was denn für ein Verhalten?", wollte Kerstin wissen. "Ich habe doch gar nichts getan, ich habe doch nur so lachen müssen, weil Tim dort im Fenster stand -- in seinem Schlafanzug, den er schon seit Jahren hat." Sie wies auf das Zimmerfenster von Tim und Sven, wo Tim immer noch unbeweglich verharrte.

"Das ist mir scheißegal!", schrie die Nachtwache. "Und du, warum schläfst du noch nicht? Auch das kommt ins Nachtwachenbuch!", rief sie zu Tim herüber. Tim öffnete genervt das Fenster.

"Hören sie mal, gehen sie mal zu ihr dort ins Zimmer. Dort schläft ihre Zimmerkollegin, die nimmt immer einen Eimer Tabletten, Gott weiß wogegen. Aber da sind bestimmt auch ein paar Valium oder sonstige Beruhigungspillen dabei. Vielleicht können sie sich ein bis zwei von den Dingern leihen."

Die Nachtwache murmelte noch irgendetwas, sah dann aber auch ein, dass sie langsam in einer Situation war, in der alle gegen sie waren - worauf sie genauso schnell, wie sie gekommen war, wieder wegschwebte. Irgendwann drehte sie sich noch einmal um, hob ihren krummen Zeigefinger und wedelte warnend mit diesem durch die Gegend.

Kerstins Freund hatte den Kaffee auf. Er rückte seine Jacke gerade, flüsterte seiner Freundin noch etwas ins Ohr, schmiß sich in sein Auto - aber nicht ohne noch einmal einen schlechtgelaunten Blick zu Tim hinüber zu werfen.

Er legte den ersten Gang ein und brauste davon.

Kerstin sah ihm kurz hinterher, drehte sich dann irritiert zu Tim um und sagte:

"Was ist hier eigentlich los?"

 

 

"Komm erstmal rein hier!", sagte Tim und reichte ihr die Hand heraus, damit Kerstin sich auf die äußere Fensterbank ziehen konnte. Sven saß mittlerweile aufrecht im Bett - er hatte ja die vorangegangene Szene visuell nicht mitbekommen und konnte somit auch nicht wissen, wieso Kerstin so laut gelacht hatte.

Kerstin kam ins Zimmer. Sie sah gut aus, frisch und irgendwie anders. Ja, erstmal die kürzeren Haare - aber sie hatte auch mehr Farbe im Gesicht als sonst. Sie stand im Zimmer, wie ein Model, war modisch angezogen. Es war ein fabelhaft komisches Bild: sie stand in der Mitte des Raumes, genau zwischen den beiden Betten, auf welchen jeweils ein Stotterer saß; beide von ihnen trugen kitschige Schlafanzüge, hatten einen derbe zerknirschten Schlafzimmerblick aufgesetzt. Kerstin überlegte kurz, ob sie sich zu einem von ihnen aufs Bett setzen sollte, entschied sich dann aber doch dafür, einen Stuhl heranzuziehen und sich in die Mitte zu setzen. Da saßen sie nun, die drei Freunde, wussten alle drei nicht, was sie zuerst sagen sollten. Tim fing an zu reden; das hatte er früher nie getan.

"Wie heißt er, dein Freund?"

"Franky. Ist ein netter Kerl, sage ich euch."

"Ach, ja? Wie nannte er das hier noch gleich, ‘Behindertenvollzugsanstalt’?"

"Das hat er nicht so gemeint! Außerdem gehöre ich doch auch hierher. Hätte er das so gemeint, müsste ich mich doch jetzt auch angegriffen fühlen."

"Tu’s doch!", antwortete Tim schroff.

"Hey-hey, kriegt euch mal ein! Was soll das hier überhaupt? Erst weckt mich so ein gackerndes Huhn, dann sorgt eine hysterische Nachtschwester dafür, dass ich Tinnitus bekomme, und jetzt meckert mein Zimmerkollege auch noch über diesen Proleten, dem ein Wort rausgerutscht ist, was er vielleicht wirklich nur im Eifer des Gefechts verloren hat. Also, meine lieben stotternden Freunde, wenn ihr nichts dagegen habt, könnten wir jetzt alle zusammen unseren Schönheitsschlaf halten, oder? Natürlich in fremden Betten, denn Kerstin ist ja jetzt vergeben..." Sven konnte manchmal so hell sein.

"Genau, Lasst uns einfach morgen weiterreden.", bestätigte Kerstin.

"Leute, habt ihr vergessen: ab morgen reden wir nicht mehr. Morgen heißt es doch ein -- Wort -- pro -- Ausatmung. Meint ihr, da habe ich noch Bock, mit euch über solche Themen zu diskutieren?", sagte Tim, der eindeutig der Pessimist in dieser Runde war.

"Ach, Tim, du bist schon einer!", sagte Kerstin, "Ich glaube nicht, dass das morgen schon losgeht mit dem langsamen Sprechen. Ich denke, morgen besprechen wir erstmal die letzten vier Wochen mit dem großen Meister." Sie stand auf, streichelte im Vorbeigehen über Tims Kopf, ging zur Tür. Sie öffnete die Tür, wollte in den Krankenhausflur hinausgehen, blieb stehen, sah sich noch einmal um und sagte zu den beiden:

"Hey, ich freue mich, euch wiederzuhaben!"

"Wir auch, mein Schatz!", antwortete Sven.

"Gute Nacht!", sagte Tim mürrisch.

Die Tür wurde geschlossen, nachdem Kerstin das Licht ausgemacht hatte. Da lagen die beiden nun wieder in der Pseudodunkelheit, und wieder war es Tim, der Sven am endgültigen Einschlafen hinderte.

"Behindertenvollzugsanstalt! So ein altes Arschloch!"

"Ti-im! Hör auf! Ich will jetzt pennen!"

"Soll ich dir sagen, was das Problem ist? Das Problem ist, ich bin so verschossen in diese Frau! Und jetzt hat die einen Freund, und der ist auch noch behindertenfeindlich! Und bald können wir noch nicht einmal mehr miteinander reden, weil wir dann so langsam reden müssen, dass wir gar keine Lust mehr dazu haben!"

"Ach, Meister! Hast du mir nicht eigentlich erzählt, dass es auch bei dir zu Hause ein nettes Mädchen gibt, mit dem du neulich noch etwas unternommen hast?"

"Ja, die heißt sogar auch Kerstin. Aber..."

"Nichts aber, dein Zuhause ist die einzige Realität, auch jetzt noch. Was meinst du, was los ist? Wenn du mit unserer Kerstin hier während der Therapie wirklich zusammengekommen wärest, meinst du, das hätte irgendeine Zukunft? Meinst du, die Freundschaften, die hier geschlossen worden sind, haben Zukunft? Vielleicht die von uns beiden, weil wir uns jetzt schon so saugut kennen und auch nicht weit voneinander entfernt wohnen. Aber meinst du, du wirst nach der Therapie noch lange mit Kerstin in Kontakt bleiben? Oder mit Manuel? Genieße die letzten zehn Wochen hier, denn wenn du nach Hause kommst, lebst du da weiter, und die Geschichte, die jetzt gerade passiert, ist dann wirklich Geschichte.

Ende.

Aus.

Vergiß es.

Schmeiß dich an deine Kerstin zu Hause ran und lass dich hier fallen, beziehungsweise gib dich ganz der Therapie hin. Bist ja schließlich nicht zum Vergnügen hier, mein Freund.

Und jetzt ist aber wirklich Ende, ich will endlich pennen! Nacht!"

"Nacht, Sir!"

 

Da hatte Sven ihm aber noch eine recht eindeutige Moralpredigt gehalten. Aber er hatte Recht, das hier, die Zeit hier in der Therapie, die war nicht für immer. Tim musste an das Buch ES von Stephen King denken: irgendwann gerät alles in Vergessenheit, aber dennoch sind auch die vergessenen Freunde für immer in den Herzen der Menschen. Tim fand es nicht abwegig, dass das auch hier passieren könnte. Aber er fand es jetzt schon schade, besonders bei Sven, Kerstin, Manuel und Jochen. Die vier, das waren die ersten Freunde, mit denen er ganz offen über sein größtes Identitätsproblem sprechen konnte. Das hatte er vor ihnen bei niemandem gekonnt, noch nicht einmal mit seinem Heimatfreund Tobi.

Tim war dankbar für diese vier neuen Freunde - vier verschiedene Persönlichkeiten, die sich wahrscheinlich in freier Wildbahn in der Form nicht kennengelernt hätten. Er liebte, ja, liebte sie. Und wenn er neidisch auf Kerstins Freund war, dann hieß das nur, dass dieser Freund ein deutliches Zeichen dafür war, dass es da draußen noch eine andere Realität gab - in die alle in genau zehn Wochen wieder zurückkehren würden.

Das war es, was Tim beschäftigte.

Er hatte durchaus erotische Ambitionen gegenüber Kerstin. Ihre Figur brauchte sie nicht zu verstecken, ganz bestimmt nicht vor Tim, und ihre Augen waren so unglaublich tief.

Aber da war noch etwas anderes: sie waren so verschieden, aber doch war sie in gewisser Hinsicht genauso wie er.

Weil sie seine Probleme kannte.

Weil sie sie fühlte.

Kein Verständnis. Keine Rücksichtnahme. Nur identische Gefühle!

Und weil das so war, liebte er sie so, dass er am liebsten für immer bei ihr geblieben wäre. Denn sie verstand ihn, war die erste Frau, die ihn wortlos verstand.

 

Sie, Sven, Manuel und Jochen, die vier waren dafür verantwortlich, dass Tim nachts nicht mehr alleine in seinem Zimmer saß und über sein Stottern nachgrübelte; er war nicht mehr alleine und wollte es auch nie mehr sein.

Er wusste noch genau, wie das am ersten Tag gewesen war, als Jochen ihn angesprochen hatte - und er zuerst ablehnend reagiert hatte. Und dass er auch zuerst etwas gegen Sven gehabt hatte, und auch gegen Kerstin, die für seinen Geschmack zu wohlerzogen und zu wohlhabend gewesen war. Nur gegen Manuel hatte er von Anfang an nichts gehabt.

Die anderen Gruppenmitglieder waren ihm im Prinzip egal. Die würde er ganz einfach wieder verlassen können.

 

Konnte man sich eigentlich ein besseres Leben vorstellen als flüssig sprechen zu können, so gute Freunde zu haben und ansonsten auch gesund und geistig fit zu sein?

 

 

 

Ein kleiner Streit

 

 

Wieder waren einige Tage vergangen, in denen die letzten vier Wochen mit allen Patienten durchgesprochen worden waren. Herr Rawe war sichtlich mit seinen Leuten zufrieden gewesen, hatten sie doch alle ihre speziellen Ziele erfüllt. Keiner war dermaßen stark zurückgefallen, dass Herr Rawe Mühe gehabt hätte, ihn wieder zurück zur Technik zu bringen. Einige hatten hier und da Probleme gehabt, aber Herr Rawe sah das sogar als positiv an.

"Seien sie froh, dass ihnen das jetzt passiert und nicht erst in fünf Jahren, wenn sie nicht darauf vorbereitet sind.", hatte er am Anfang der Woche gesagt. Irgendwie hatte er ja auch Recht damit gehabt, denn hier hatten die Patienten wenigstens noch die Unterstützung der anderen und konnten somit üben, aus einem Problem wieder herauszukommen. Draußen würden sie es nicht mehr üben können, draußen mussten sie es tun.

 

Die neue Technik, die die meisten der Patienten von nun an anwenden sollten, funktionierte so, dass pro Ausatmung ein Wort gesagt wurde. Später durften dann die Patienten vier Wörter, danach sieben und schließlich so viele Wörter wie möglich pro Ausatmung sagen können. Das hatte den Sinn, dass nach und nach eine möglichst große Sprechflüssigkeit dadurch erreicht werden sollte, dass die Wörter langsam und durchgedehnt gesprochen werden sollten. Der Stimmfluß, also die ununterbrochen fließende Stimme, sollte verhindern, dass die Sprechorgane in die Verlegenheit kamen, irgendwo hängenzubleiben - ähnlich wie beim Singen.

Um dieses Endziel aber erreichen zu können, mussten die Schüler - denn sie betrachteten sich nicht mehr als Patienten sondern als Schüler - zuerst lernen, Ruhe, Dehnung, Langsamkeit ins Sprechen zu bringen. Dies sollte stufenweise geschehen, und nach genau zehn Wochen – denn so lange dauerte der zweite Teil der Therapie – würde es dann soweit sein: Herr Rawe wusste aus Erfahrung, dass die Schüler nach dieser Zeit mit einem sehr gut durchgedehnten und flüssigen Sprechen entlassen werden würden. Wenn dann doch wieder ein gestottertes Wort auftreten sollte, würden sie dann ja in der Lage sein, sich mit Hilfe der während der ersten Phase erlernten Techniken aus der Blockade herauszuholen. Wenn dann trotzdem das Boot untergehen sollte - sprich: die Techniken nicht greifen sollten - dann würden sie immer noch die Möglichkeit haben, offensiv zu ihrem Stottern zu stehen.

Es war also von Herrn Rawe ein dreifaches Sicherungssystem ins Therapieprogramm eingebaut worden, drei Wellenbrecher, die die Flut davor bewahren sollten, sich wieder in der Psyche der Patienten breitzumachen und von dort aus das Sprechen mit sich zu reißen: 1. Wellenbrecher: langsam und gedehnt und somit fast flüssig reden. 2. Wellenbrecher: bei Stotterblockaden versuchen, sie zu kontrollieren. 3. Wellenbrecher: bei Kontrollverlust sagen "Na, und? Was jetzt?".

 

Aber nun musste die Gruppe zuerst einmal die erste Phase durchlaufen: pro Ausatmung ein Wort. Früher, hatte Herr Rawe kurz vor der Sommerpause gesagt, war mit dieser Technik die Therapie angefangen worden, und die Patienten waren froh gewesen, sie zu haben - weil sie sofort flüssig hatten sprechen können. Zu Tims Zeiten war es allerdings so, dass die meisten Patienten schon vorher eine sehr hohe sprachliche Flüssigkeit erreichen konnten und somit vor einem Problem standen: wie akzeptiere ich denn jetzt, dass meine neu erworbene Sprechgeschwindigkeit wieder so stark verlangsamt wird? Ich bin doch auch flüssig, wenn ich schnell spreche, wozu also langsam reden?

Besonders für für Tim & Co. bestand dieses Problem in einem extremen Maße. Gerade Tim, Manuel und Kerstin waren schließlich vom Anfang der Therapie an Könige der Sprechtechniken gewesen, sprachen nun schon seit 11 Wochen ausnahmslos kontrolliert und rechneten nicht so bald mit ärgeren Schwierigkeiten. Ihnen schloß sich ebenfalls Sven Dorn an, für den die ganze Geschichte sowieso nicht ganz so wichtig war.

Alle vier haderten schon seit vier Tagen mit ihrem Gelübde, nicht einmal aus diesem ein-Wort-pro-Ausatmungs-Muster auszubrechen. Manuel und Tim, die beide noch ihre Anfangszeiten und vor allen Dingen die Zeiten davor im Kopf hatten, waren sich zwar bewusst, dass sie nun für einige Wochen erneut in ihrer Fähigkeit zu reden eingeschränkt werden würden, aber sie hatten sich selbst versprochen, alles in dieser Therapie durchzuhalten - und somit auch das hier.

Für Sven und Kerstin sah das schon anders aus: sie waren sich nicht so sicher, ob sie besonders diese erste Zeit der langsamen Sprechweise durchziehen sollten. Sie wussten beide, sobald einer der beiden aus diesem Muster ausbrechen würde, würde der andere nachziehen.

Und so kam es dann auch, dass sich recht bald unübersehbare Spannungen innerhalb der Gruppe aufbauten.

 

Es wäre das erste Halbjahr der 12. Klasse für Tim gewesen, Abiturrelevanz hieß das Wort, mit dem die Lehrer schon seit einem Jahr versucht hatten, ihren Schülern Angst einzujagen. Im Prinzip hätte Tim die 12. Klasse nach der Therapie wiederholen müssen, wenn seine Mutter nicht vor der Therapie eine letzte Schlacht mit dem Schuldirektor geschlagen und gewonnen hätte. Sie hatte es durchgeboxt, dass Tim alles, was in der Schule besprochen wurde, dass er alle Klausuren und so weiter in seinem und Svens Zimmer in der Klinik nacharbeiten sollte und dafür aber die Möglichkeit bekommen sollte, trotz der vielen Wochen seines Fehlens die 12. Klasse durchzuziehen und mit seinen Freunden zusammen das Abitur zu bestreiten. Das hieß aber nun auch tatsächlich, dass Tim nach dem langen Therapietag noch eine Menge zu lernen hatte. In dieser Zeit lernte Tim, was es hieß, eine Hausarbeit zu schreiben: alleine recherchieren, zusammenfassen, aufschreiben. Eigentlich machte ihm diese Art zu arbeiten sogar ein wenig Spaß. Er liebte es, wenn auf seinem Schreibtisch fünf oder sechs Bücher irgendwo auf Seite 123, 244, 90, 31, 305... übereinander lagen, dazwischen irgendwo ein paar Aufzeichnungen, Zigaretten, ein Kugelschreiber. Er mochte das. Gleichzeitig die Legitimation dazu, schlechte Laune zu haben und gestreßt herumzumosern, wenn jemand zwischendurch hereinkam.

Diesmal war es Sven, der in der besagten ersten Woche der extremen Sprechtempoverminderung in das Zimmer stürmte.

"Hey, Tim! Kommst du mit in die Stadt?", fragte er schnell.

"Zuerst--einmal--muß--ich--noch--ne--Menge--pauken--und--außerdem--denkst--du--bitte--an--die--Technik?"

"Was bist du denn für’n Streber? Ist niemand hier, du kannst wieder normal sprechen. Das hält doch keiner durch!"

"Ich--schon."

"Sag ich doch, Streber!"

"Ich--tue--das--für--mich--Sven.--Wenn--du--das--nicht--akzeptieren--kannst--kannst--du--ja--rausgehen! Du--bist--ja--eh--nicht--motiviert!"

Sven sah Tim ärgerlich an.

"Ich gehe jetzt mit Kerstin in die Stadt! Du kannst mich mal, Arschloch!"

Er knallte die Tür zu.

 

Als wäre nichts passiert, versuchte Tim wieder, seiner Arbeit nachzugehen.

Physik.

Rückkopplungen.

Aber als er sich so darüber beugte, wurde ihm plötzlich klar, was da gerade passiert war. Hatte er Sven, seinem Zimmernachbarn, wirklich vorgeworfen, er sei nicht motiviert? Selbst wenn das stimmen sollte, wodurch hatte Tim das Recht, seinem Kumpel so etwas vorzuwerfen? Nur weil Tim immer noch hochmotiviert war, musste das ja nicht heißen, dass die anderen das auch waren. Er hatte sich gerade zum ersten Mal mit Sven gestritten. Er musste das wieder ausbügeln, denn schließlich waren die beiden ja Freunde. Außerdem mussten sie noch über neun Wochen das Zimmer miteinander teilen. Da durfte es keinen Streit geben! Und etwas anderes machte ihm darüber hinaus auch noch Sorgen: seine Arroganz. Wie er so dasaß am Schreibtisch, mit seinem teuren Kugelschreiber in der rechten Hand, einem Taschenrechner in der linken Hand, die Brille etwas nach vorne gerückt. Er hatte seinen Kumpel gemustert, hatte ihn darauf hingewiesen, dass er die Technik vergessen hatte, wie ein Topmanager, der seine Sekretärin fragt, ob sie vergessen hätte, ihm einen Kaffee zu kochen.

Von oben herab.

‘Du bist ja eh nicht motiviert, also kannst du auch gehen!’

So hatte Sven das wohl verstanden, und so hatte Tim das im Prinzip ja auch gesagt und gemeint. Aber jetzt tat es ihm leid, denn schließlich mochte er Sven mittlerweile nicht mehr nur notgedrungen sondern deswegen, weil die zwei eine richtig tolle Zeit miteinander verlebt hatten. Da durfte er ihn doch nicht von oben herab dermaßen anschnauzen! Er nahm sich vor, sich, sobald Sven zurück war, bei ihm dafür zu entschuldigen.

 

Aber nun war erst einmal wieder Physik angesagt. Ihm fiel eine Situation ein, die er erlebt hatte, als er noch Stotterer war. Sie hatten im letzten oder im vorletzten Jahr vor Tims Therapie einen anderen Physiklehrer bekommen, der nicht gewußt hatte, dass Tim stotterte. Dieser Physiklehrer hatte zu einer Stunde mal einen Elektromagneten mitgebracht, damit sich die Schüler das mal ansehen konnten. Am äußeren Rand dieses Elektromagneten hatte der Hersteller - Phywe - und irgendeine Zahl oder ein Stoff oder etwas dergleichen gestanden.

"Tim, lies doch mal, was da steht.", hatte er ihm befohlen.

"Äh, Phywe?"

Gelächter der Klasse.

"Nein, Tim, das andere."

"Äh, ich seh nichts anderes."

"Ti-im! Hier, lies doch einfach nur ab!" Der Lehrer hatte mit seinen dicken Wurstfingern darauf gezeigt.

"Ich sehe nichts!", hatte Tim mit hochrotem Kopf beinahe herausgeschrien.

"Geh mal zum Augenarzt.", hatte der Lehrer resigniert gesagt und das Gerät einem anderen Schüler vor die Nase gehalten.

Der hatte dann direkt alles vorgelesen, was Tim natürlich auch hätte lesen können.

Tim war fast gestorben, als er die Blicke seiner Klassenkameraden gesehen hatte.

Sie hatten ihn angesehen wie einen Irren.

Sie hatten sich nicht zum ersten Male über sein abweichendes Benehmen gewundert und im stillen Kollektiv dieselbe Frage geäußert: was ist das für ein komischer Typ, der sich weigert, so etwas vorzulesen? Aber nie - nie! - hatte auch nur ein Mitschüler - noch nicht einmal Tobi - ihn auf so etwas angesprochen. Ein riesengroßes Tabu, eine undurchdringbare Mauer von Höflichkeitsritualen, die selbst pubertierende Schüler schon metertief in ihren Köpfen vergraben hatten.

Sprich niemals einen Behinderten auf seine Behinderung an: er wird sofort zu Staub zerfallen. Sprich niemals jemanden, der sich komisch benimmt, auf sein Benehmen an: er merkt es vielleicht gar nicht und achtet dann vielleicht viel mehr auf sich selber.

Aber all das war jetzt vorbei. Tim wusste zwar, dass er immer noch Stotterer war, aber er wusste auch, dass er jetzt ein stolzer und selbstzufriedener Stotterer war und dass sich daran nie wieder etwas ändern würde. Scio nescio, ich weiß, dass ich nichts weiß.

 

Es war dunkel, aber dennoch fast schon unangenehm warm. Tim hatte den ganzen restlichen Nachmittag an seiner Hausarbeit gesessen. Er hatte gemerkt, dass man sich sehr gut in einem Thema vertiefen konnte, auch wenn man sich nicht dafür interessierte. Man musste einfach nur so tun, als würde man sich dafür interessieren. Und schon hatte man eine Hausarbeit fertig. Zehn Seiten waren schnell geschrieben.

Danach war Tim noch alleine stundenlang in der Stadt und um sie herum spazieren gegangen. Er musste den Kopf freikriegen.

Er hatte sich die Leute angesehen, sich gefragt, was sie wohl taten. Ob sie wohl auch so viel zu denken hatten wie er. Ob sie wohl auch so eine Vergangenheit hatten wie er. Ob sie wohl Menschen waren.

Dann war er langsam zurück zur Klinik gegangen, hatte sich noch in den Park, der neben dem Gebäude lag, gesetzt. Hatte sich das Schaukeln der Bäume angesehen, den Vögeln zugehört – die ihn dann in den Schlaf gesungen hatten.

 

"Hier bist du, Tim!", sagte eine Stimme.

Tim öffnete erst das linke, dann das rechte Auge. Sah von der Bank, auf der er lag, nach oben. Seine Augen wurden größer.

"Kerstin!", sagte er.

"Was machst du hier? Wir haben dich vermißt."

"Ich bin wohl eingeschlafen. Was sagt denn Frau Bittner, die hatte doch heute Spätdienst?"

"Als sie ging, fragte sie, wo du bist. Sven und ich wussten ja, dass ihr euch gestritten hattet. Also haben wir gesagt, du kämst bestimmt gleich und würdest dich dann bei der Nachtwache melden. Die wissen ja, dass du ein braver Junge bist." Sie lächelte bei den letzten Worten.

Tim richtete sich auf und setzte sich gerade auf die Bank.

"Setz dich!", sagte er und wies auf den freien Platz neben ihm.

Sie setzte sich neben ihn. Er legte seine Hand um sie.

"Und dann bist du losgegangen und hast mich gesucht, ja? Süß von dir."

"So bin ich.", sagte sie und legte ihren schönen Kopf auf seine Schulter. So saßen sie dort erstmal und genossen die Nähe. Dann durchbrach er die Stille.

"Bin ich arrogant geworden, Kerstin?", fragte er.

"Nein.", sagte sie, ohne zu zögern.

"Bin ich ein Streber geworden, Kerstin?"

"Ja.", sagte sie, ohne zu zögern.

Er sah sie an, sie sah ihn an – und dann lachten beide lauthals los. Es tat so gut, mit einer Seelenverwandten zusammen zu lachen. Lauthals zu lachen, aus dem Bauch heraus zu lachen.

Nach einer endlos langen Zeit ebbte das Lachen dann ab, aber sie sahen sich weiter an.

"Du bist so schön, wenn du lachst.", sagte Tim ernst.

Kerstins Gesichtsausdruck wurde plötzlich dunkler. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie stand auf.

"Es ist halb elf.", sagte sie und ging.

Auch Tim raffte sich auf. Er war stolz, ihr gesagt zu haben, dass sie schön war. Das hatte er zum ersten Mal einem Mädchen gesagt.

 

Sven war noch wach, als die beiden wiederkamen. Einer musste ja auch schließlich darauf aufpassen, dass die Nachtwache die Tür nicht zuschloß, bevor sie da waren. Alle anderen waren schon schlafen gegangen.

Die Sommerluft spuckte die beiden nacheinander in Vorraum, in dem Sven mit einem Glas Orangensaft wartete.

"Da bist du ja!", rief er Tim entgegen.

Tim ging auf ihn zu, blieb direkt vor ihm stehen, streckte ihm die Hand hin.

"Tschuldige. Ich bin ein arroganter Streber."

"Arrogant vielleicht, aber kein Streber. Denn du redest gerade einfach darauf lost.", sagte Sven und nahm damit auf seine Art die Entschuldigung an. Die förmliche Handgeste, die Tim verinnerlicht hatte, stieß er dabei weg und boxte Tim kurz in den Bauch.

"Scheiße! Stimmt ja! Gerade auch schon nicht.", sagte Tim, entrüstet über sich selbst.

"Ab morgen wieder, Alter.", sagte Sven und grinste.

"Nacht!", sagte Kerstin und ging dabei in ihr Zimmer. Sie hatte gerade etwas gesagt bekommen, was sie erstmal verdauen musste.

"Was ist denn mit der los?", fragte Sven.

"Ich weiß auch nicht.", antwortete Tim.

Sven stand auf, legte sein linke Hand auf Tims linke Schulter.

"Komm, wir gehen pennen, Alter.", sagte Sven.

Tim legte seine rechte Hand auf Svens rechte Schulter.

Und dann gingen die beiden schlafen.

 

Tim nahm sich vor, ab dem nächsten Morgen wieder konsequent mit der Sprechtechnik weiterzumachen.

 

 

 

Wachgerüttelt

 

 

Normalität.

Nullpunkt.

Stillstand.

Dennoch kroch nun in dieser fortgeschrittenen Zeit eine gewisse Unruhe in Tim hinauf. Es war schon einige Zeit her, dass er sich mit Sven wieder vertragen hatte. Beide hatten natürlich gewußt, dass sie sich nicht wirklich gestritten hatten. Es war ja schon wieder vorbei gewesen, bevor es überhaupt angefangen hatte.

Tim musste sich nun selber eingestehen, dass er auch nicht absolut 100%ig seine langsame Sprechweise durchgezogen hatte.

Er hatte sich auch nach diesem Abend hin und wieder, gerade wenn er mit Kerstin und Sven etwas unternommen hatte, dazu hinreißen lassen, etwas schneller zu reden. Er konnte sich das ja leisten. Außerdem waren diese Momente, in denen er schneller gesprochen hatte, wirklich an einer Hand abzuzählen. Mittlerweile waren sie schon in Phase III dieser Sprechweise, Normalität war eingekehrt. Jeder sprach langsam, denn alle hatten gemerkt, dass es keinen Unterschied machte, wenn schneller gesprochen wurde - die Zeit verging einfach nicht. Die Hälfte der zweiten Phase war nun vorbei, die meisten hatten vergessen, wieso sie überhaupt hier waren. Sie wussten es nicht mehr, und nur wegen des Gruppenlebens hier in dieser sterilen, von gespenstischen Nachtwachen heimgesuchten Klinik, zu bleiben, das fanden die meisten nicht lohnenswert. Claudia z.B., sie wollte nach der Therapie heiraten, freute sich dermaßen auf die Hochzeit, dass sie gar nicht mehr hier bleiben wollte.

Manuel hatte eine neue Freundin, und auch er wollte nicht mehr in der Klinik bleiben.

Sven konnte es nicht mehr abwarten, endlich mit seiner Ausbildung anzufangen.

Thomas war bereits mitten in seinem Studium. Da er in derselben Stadt studierte, wohnte und eine Stotterertherapie absolvierte, wurde er außerhalb der Talkrunden mit dem Therapeuten und seinen Mitstotterern kaum noch gesehen: er war meistens in der Uni, wo er tatsächlich - wie Tim es anfangs schon vermutet hatte - Jura studierte.

Und auch Tim freute sich auf die Heimat. Hatte er sich doch um Kerstin II zu kümmern, mit der er zur Zeit regelmäßig telefonierte.

Sie hatten im Gebäude ein Gruppentelefon, mit dem man nur telefonieren konnte, wenn man vorher im Haupthaus des Geländes Geld angezahlt hatte. Es war ein wenig umständlich, aber dennoch - man konnte es kaum glauben - war der Apparat gerade in der vergangenen Woche fast rund um die Uhr besetzt gewesen. Das hatte nur einen Grund: Langeweile, verbunden mit einer Art Heimweh.

Ein Gruppenkoller bahnte sich allmählich an. Tim war vollkommen genervt, von allen hier in seiner Umgebung. Nie war er alleine, ständig wurde er gestört von seinen Leuten. Svens Schnarchen ging ihm dermaßen auf den Zwirn, dass er ihn am liebsten mit seinem Kissen erwürgt hätte. Aber dann sah er das Kissen zumeist an, sah die Aufschrift "Eigentum der psychiatrischen Abteilung", musste dann schmunzeln und schlief über dem Gedanken ein, warum er es bisher nicht geschafft hatte, ein eigenes Kissenbezug mitzubringen.

 

Es gab nichts mehr zu entdecken, selbst Herr Rawe und sein Team hatten Mühe, die Gruppe zu beschäftigen. Tims Hausarbeiten waren geschrieben, er wollte sie nach der Therapie abgeben. In Tims Wahrnehmung waren alle Ängste überstanden, alle schwierigen Situationen nicht mehr so schlimm. Alle Ladenbesitzer in der Innenstadt kannte die Mannschaft der Stotterer, die hier schon seit vielen Wochen ein und aus ging. Die Gelben Seiten der Stadt kannte Tim auswendig - genauso wie seine eigenen Gefühle und die von Kerstin, Sven, Jochen und Manuel. Die Gefühle der übrigen Gruppenteilnehmer waren ihm egal, obwohl er immer noch ein wenig Mitleid mit Mark hatte.

Mark freute sich nicht auf zu Hause, er hatte kein Zuhause, keinen, der sich auf sein Zurückkommen freute. Wo sollte er hin? Manche Existenzen hatten kaum eine Chance, im Leben vollkommen klarzukommen.

Langeweile.

Was passiert, wenn Langeweile ununterbrochen auftritt? Frust kommt auf. Frust, Unruhe, wenn man sich alleine langweilt, sind es sogar manchmal Depressionen. Nur konnten sie ja nichts tun.

Spätestens um 14 Uhr waren die Therapietage zu Ende. Es wurde langsam Herbst, also sehr früh dunkel, auch in den Köpfen der Therapieteilnehmer. Was tun? Das war die Frage, die nahezu allen in den Köpfen steckte. Wohin mit der ganzen Energie? Kerstin und Tim vertrieben sich einen Großteil ihrer Zeit mit körperlichen Zuneigungsbekundungen. Aber alles nur bis zu einem gewissen Grade, über Umarmungen und Händchenhalten ging es nie hinaus. Tim war dennoch überglücklich, überhaupt körperlichen Kontakt zu diesem liebenswerten Mädchen zu haben. Das ließ ihn nachts sehr glücklich einschlafen und am Tag half es ihm auch ein wenig über seine Langeweile hinweg. Und auch Sven durfte in den Genuß kommen, hin und wieder mal durch Kerstins Haare zu streicheln. Sie mochten sich eben alle so und dachten sich überhaupt nichts dabei.

Manchmal saßen die drei in der Nacht in Svens und Tims Zimmer und unterhielten sich lange über das Leben, über die Zukunft, über geheimste Phantasien, die sogar die Wände des Zimmers erröten ließen. Nächtelang saßen sie dort, zwei auf dem einen Bett, einer auf dem anderen gegenüber. Und während sie redeten, massierte Kerstin mal Sven, mal Tim die Schultern und den Nacken. Was beide sehr genossen.

Irgendwann, gegen drei oder vier Uhr morgens, schliefen sie dann im Sitzen ein, einer von den Jungs mit einem weiblichen Kopf auf der Schulter.

Um sieben wachten sie in genau derselben Position wieder auf und wunderten sich, dass ihnen der Nacken so weh tat.

 

Trotzdem, alles in allem bestand der Hauptteil der Zeit eher aus Herumhängen, aus Warten und dem Pläneschmieden für "nachher".

"Sie müssen nach der Therapie ihr eigener Therapeut sein.", sagte Herr Rawe oft. "Und deswegen müssen sie jetzt schon einmal anfangen, sich zu überlegen, wie sie ab November ihr weiteres Leben gestalten wollen und welche Rolle ihr Stottern in diesem spielen wird."

"Aber was können wir hier und jetzt noch tun?", hatte Manuel mal gefragt. Herr Rawe hatte gemeint, zu Hause müsste Herr Hartner auf diese Frage selbst eine Antwort finden, und er könnte hier ja schon einmal überlegen.

So saßen sie lange zusammen, überlegten sich, welche Hürden sie noch überwinden könnten, in welchen Läden sie noch nicht gewesen waren.

Dass zum Beispiel direkt gegenüber eine Gesamtschule war, in der Tim sein noch in Resten vorhandenes Unwohlsein gegenüber Gleichaltrigen hätte abbauen können, dass kam ihm gar nicht in den Sinn. Oder dass er seinen schlapp gewordenen Körper hätte trainieren können, indem er ihn mal etwas forderte anstatt ihn ständig mit seinen Kippen zu zerstören, auch das fiel ihm nicht ein. So lag er ab 14 Uhr nachmittags auf einem der Stühle im altbekannten Vorraum, wartete darauf, dass Kerstin II anrief. Manchmal schrieb er Briefe an jemanden, an Kathi vielleicht oder auch an Sonja. Oder er klimperte auf seiner Klampfe herum, die ihm in diesen vielen Wochen einen sehr guten Dienst erwiesen hatte. Obwohl ihm manchmal die Ideen ausgegangen waren, was er nun noch hätte spielen können.

 

Fünf Wochen waren noch zu überbrücken, mit einer Motivation, die sie sich am Anfang niemals hätten vorstellen können. Die Luft war einfach draußen.

Bis zu dem Moment, in dem die gute alte Frau Föhring die Idee hatte, mit den anderen in den Hofgarten der Uni zu marschieren und dort einige Leute zum Thema Stottern zu interviewen. Sie hatte mit den anderen Mitarbeiterinnen zusammen schon vor Jahren einen Fragebogen ausgearbeitet, der äußerst umfassende Antworten verlangte. Die Gruppe war begeistert, so ein Interview führen zu dürfen, denn wie gesagt, sie hatte keine Lust mehr, nur noch die Zeit abzusitzen.

Es war ein Mittwoch, an dem sie erstmals gemeinsam losgingen, um die Leute zu interviewen. Sie waren zum ersten Mal in diesem Hofgarten. Außer natürlich Thomas, der ja hier studierte. Eine riesige Wiese bot den Studierenden eine Menge Platz und Muße, um sich ihren Aufgaben zu widmen. Es war noch warm genug, um hier draußen auf den Bänken zu sitzen anstatt in diesen nach Tradition stinkenden, überfüllten und ungemütlichen Gemäuern, in denen es zudem auch noch so laut war, dass man sich nicht konzentrieren konnte.

Es saßen aber nicht nur Studenten hier sondern auch eine Menge anderer Leute: Geschäftsleute hielten sich hier in der Mittagszeit auf, ihre Sekretärinnen trafen sich ebenfalls mit anderen im Hofgarten – wenn sie nicht gerade im Schwimmbad waren und zu acht nebeneinander herplanschten, um den richtigen Schwimmern die Möglichkeit zu nehmen, ein paar Bahnen zu ziehen.

Alte Leute, die es zu Hause nicht mehr aushielten, gingen ihrer Lektüre nach, während die Tauben um sie herumflogen, in der Hoffnung, doch noch ein Brotkrumen abzubekommen.

 

Die 14, also die Gruppe der Patienten, Frau Föhring und Gabi, die Praktikantin, blieben am Rand dieser Wiese stehen.

"Also, Leute!", sagte Frau Föhring, "Dann Lasst uns doch mal sehen, wer hier was zu erzählen hat. Am besten gehen immer zwei Leute los: einer, der die Studiosis interviewt, ein anderer, der die Videokamera führt. Denn wir wollen uns ja hinterher auf Video ansehen, was ihr da so fabriziert habt. Also, wer fängt an?"

Nicole und Claudia waren es, die als erste gehen wollten.

"Gut, die anderen können derweilen Pause machen, würde ich sagen. Nicole, Claudia, ähm, versucht mal jeweils, zwei Leute zu interviewen. Ja?"

Man konnte den beiden ihre neugewonnene Energie wahrlich ansehen.

"Am liebsten fünf Leute, Frau Föhring.", posaunte Claudia hinaus, soweit man in dieser langsamen Art zu sprechen überhaupt vom ‘Hinausposaunen’ reden konnte.

Nicole nickte kurz. Auch sie hatte ja nun Gelegenheit - genau wie Tim oder Manuel - ihren wahren Charakter herauszulassen. Und der war besonders für Tim und Sven keinesfalls liebenswert.

Sie war hochnäsig, arrogant, sprach wirklich nicht mit jedem, rümpfte die Nase, wenn eine Diskussion geführt wurde, die vom Knigge nicht zugelassen wurde. Zum Beispiel hatte sich Sven und Manuel neulich mal darüber unterhalten, ob sie sich beim Urinieren lieber hinsetzten oder stehen blieben. Jochen hatte sich eingemischt und gesagt, dass das Klo zum Sitzen gebaut worden wäre und er es absolut ekelig fände, wenn man sich davor stellen würde. Eigentlich eine ganz normale Diskussion, besonders dann, wenn es sonst nichts mehr gab, worüber man reden konnte. Aber auf einmal war Nicole aufgestanden, hatte irgendetwas gemurmelt und war mit hocherhobenem Kopf in ihr Zimmer gerannt, wo sie dann den Rest das Nachmittags nicht mehr herausgekommen war.

Für Tim und den Rest keine besonders sympathische Reaktion.

 

Während Claudia und Nicole also ihre ersten Interviews führten, hatten die anderen Pause. Sie setzten sich ins Gras und sahen sich um. Es war wirklich komisch, den Leuten zuzusehen. Für Tim sah es so aus, als hätten viele von ihnen äußerst schlechte Laune. Konnte das sein, dass man an einem solchen Tag schlechte Laune hatte? Und dann auch noch im Kollektiv? Oder lag es einfach an der Umgebung? Oder daran, dass die Menschen hier so wahnsinnig viel zu tun hatten? Aber hin und wieder konnte man doch noch eine Gruppe von jungen Leuten sehen, die den Tag noch zu genießen schienen. Sie saßen zumeist zu fünft oder sechst nebeneinander oder im Kreis, in der Mitte eine Wolldecke, auf der diverse Dinge lagen: Bücher, Tabak, Taschen. Viele unterhielten sich angeregt, und Tim empfand zum ersten Male seit Wochen wieder ein Gefühl der Zufriedenheit. Zufriedenheit darüber, dass er nicht mehr eifersüchtig darauf zu sein brauchte, dass diese Leute sich so angeregt unterhalten konnten und er nicht. Denn er war ja jetzt der Oberredner oder einer der Oberredner. Er würde sich gleich zu diesen Gruppen gesellen und ihnen einige Fragen zum Thema Stottern stellen. Er würde diesen seltsamen 08/15-Fragebogen gar nicht brauchen, denn er hatte genügend Fragen in seinem erfinderischen Kopf.

Nach ein paar Minuten sah man die beiden Frauen von ihren Interviews zurückkehren. Sie machten einen ganz zufriedenen Eindruck.

"Und?", fragte Frau Föhring. "Wie war’s denn bei euch?"

"Ganz o.k.", antwortete Claudia. "Ist halt aufgefallen, dass die Leute sehr korrekt geredet haben, weil eben die Kamera dabei war. Aber das ist ja immer so."

Warum ist das immer so?, fragte sich Tim. Kann das denn sein, dass die Leute nur dann politische Korrektheit an den Tag legen, wenn eine Kamera mitläuft? Ist die Welt denn so verlogen?

Es fiel Tim schwer, daran zu glauben, dass die Welt tatsächlich so verlogen war. Er begriff damals noch zu wenig von dieser Scheinwelt, die alleine durch eine Videokamera erschaffen wurde. Er wollte noch zu sehr daran glauben, dass die Menschen aus sich heraus gut waren und keine äußeren Einflüsse dazu benötigten, das auch zu zeigen.

Sven und er übernahmen die Videokamera von Nicole, die wohl als letzte gefilmt hatte. Tim nahm sie in die Hand und stellte fest, dass Nicole ziemlich nervös gewesen sein musste: ihre schweißnassen Handflächen hatten auf der Grifffläche der Videokamera ihre Spuren hinterlassen.

Die beiden Freunde stiefelten los, quer über die Wiese, bis sie fast automatisch auf ihr erstes Opfer stießen: ein Mann mittleren Alters, der sich – auf einem Liegestuhl liegend – die Sonne auf den grauen Pelz seines nackten Oberkörpers scheinen ließ.

"Guten Tag!", sagte Sven.

Der Mann sah auf, sah die beiden, sah die Kamera, schüttelte verständnislos den Kopf und sagte:

"Ich habe keine Zeit für sowas."

Mit diesen Worten rückte er sich seinen neckischen Sonnenhut – den er wohl trug, damit seine naturgegebene Glatze keinen Sonnenbrand bekam – tiefer ins Gesicht und ignorierte die gescheiterten Interviewer.

Verdutzt sahen die beiden sich an.

"Komm weiter.", sagte Tim. "Hier ist eh nichts zu holen."

"Da hast du Recht.", murmelte der Mann unter seinem Hut hervor.

Sie gingen also weiter, machten sich auf die Suche nach jemandem, der vielleicht mehr Interesse an einem Interview hätte. Tim zündete sich erstmal eine weitere Zigarette an, denn es könnte ja noch dauern, bis sie jemanden finden würden.

Aber schon bald liefen sie auf eine jener Gruppen zu, die Tim vorhin schon hatte beobachten können.

"Hallo.", sagte Sven. "Habt ihr vielleicht Lust, uns ein paar Fragen zu beantworten?"

"Klar, setzt euch.", sagte ein wahnsinnig gutaussehendes Mädchen. Tim schätzte es auf Mitte Zwanzig.

"Worum geht’s denn?", sagte jemand anders, während sich die beiden niederließen.

"Um’s Sto-to-tottern.", stotterte Sven.

"Mein Gott! Ist das ansteckend?", sagte das Mädchen, lachte aber dabei in einer freundschaftlichen Art, die den beiden verriet, dass sie aufgeschlossen zu sein schien.

"Unbedingt! Eigentlich müssen wir auch einen Maulkorb tragen, aber heute haben wir uns mal so davongeschlichen.", sagte Tim, worauf lautes Gelächter der fünf Studenten folgte.

"Können wir die Kamera mitlaufen lassen?", fragte Tim.

"Wir kommen ins Fernsehen? Das ist ja großartig!", sagte jemand aus der Gruppe.

"Na ja, höchstens ins ganz private Privatfernsehen, zu empfangen nur auf einem Fernsehgerät, das höchstens 14 Leute gleichzeitig empfangen können."

"Ach so, Privataufnahmen, ja? Schade! Also fragt, was ihr zu fragen habt."

"Ja, also: wwwwwwwwwwißt ihr, wwwwwwwas Sto-to-tottern ist?", fragte Sven.

"Jo, das was du gerade gemacht hast."

"Und woher kommt das? Wie ist das zu erklären, dass ich stottere?"

"Ich denke, das kommt aus der Nervosität heraus, oder?"

"Meinst du, ich bin jetzt nervös?", entgegnete Sven. "Meinst du wirklich, ich sssssei nervövövös, weil ich hier auf dieser Wiese ganz in Ruhe mit euch rrrrrrrrrrrede, und dädädädädeswegen muß ich stottern?"

"Nee, eigentlich siehst du nicht so sehr nervös aus. Aber woher kommt das denn dann, wenn nicht aus der Nervosität heraus?" fragte einer der Interviewten.

"Tja, das ist bei allen Leuten verschieden. Also erst einmal ist es so, dass viele kleinen Kinder, während sie das Sprechen lernen, hin und wieder mal stottern müssen. Das ist ganz normal. Bei den meisten verschwindet es wieder, aber bei einigen bleibt es auch. Mit den Jahren wird aus dem hin und wieder – Stottern irgendwann ein ganz oft und ganz stark – Stottern."

"Das heißt also, ich könnte auch mal gestottert haben? Das ist ja beängstigend!", stellte dieses hübsche Mädchen fest.

"Ja, findest du das beängstigend?", fragte Tim hinter seine Videokamera hervor.

"Ja, wenn ich mir vorstelle, ich müsste stottern... Dann ginge ja die ganze Spontaneität beim Reden verloren."

"Das stimmt.", sagte ein anderer. "Du müsstest dir ja überlegen, wann du etwas sagen kannst und willst – und ob es überhaupt noch Spaß macht zu reden, das steht dann ja sowieso in Frage. Außerdem könnte ich mir vorstellen, dass man in unserer schnelllebigen Zeit desöfteren unterbrochen wird."

"Seht ihr? Und da kommt dann die psychische Seite ins Spiel. So bald man sich überlegen muß, ob und wann und wie man etwas sagt, besteht die Gefahr, dass man’s eben nicht sagt. Versteht ihr? Das verursacht natürlich einen ungeheuren Druck, denn du willst ja Leute kennenlernen und etwas von dir preisgeben. Da wird’s dann schwierig, das seht ihr ein, oder?"

"Ja. Wie ist denn das eigentlich, wenn ihr zum Beispiel auf Frauen zugeht? Ich meine, jeder Mann muß ja stottern, wenn er zum Beispiel Silke hier anspricht." Der Student, der das sagte, wies auf das gutaussehende Mädchen. Die wiederum fühlte sich bestimmt geehrt, denn sie grinste breit.

"Ja.", sagte Sven, während Tim die Kamera draufhielt und ebenfalls grinste, weil ihm das Thema so vertraut war, "Das stimmt. Das Thema Mädels ist bei uns Stotterern natürlich noch ein größeres Problem als bei Normalsprechenden. Einige leiden da auch richtig extrem drunter, dass sie es nicht schaffen, ein Mädchen anzusprechen. Sie fühlen sich dann als Versager und nicht männlich genug und so weiter. Das ist furchtbar. Ich kann das nachvollziehen, habe aber selber nicht so wahnsinnig schlimme Erfahrungen gemacht."

So ging die Diskussion weiter, und die fünf Studierenden stellten noch einen Haufen interessanter Fragen, die Sven auch alle aus eigener Erfahrung beantworten konnte.

"Macht’s gut, und danke!", sagte Sven.

"Tschüs!", rief Tim.

"Kein Problem", rief ihnen Silke hinterher, die darüber nachdachte, wie schlimm es in ihrer Vergangenheit gewesen wäre, wenn sie durch ihr Stottern auf die Jungs nicht so sexy gewirkt hätte, wie es der Fall gewesen war. Dabei bekam sie kurzzeitig schlechte Laune.

 

Nun war Tim an der Reihe, jemanden zu interviewen. Er wählte eine Frau, die nicht allzu weit entfernt von der eben angesprochenen Gruppe saß. Sie war schon etwas älter, was man an ihrer schon leicht eingefallenen Haut sehen konnte. Aber das größte Kennzeichen dafür, dass sie schon viel erlebt haben musste, das waren wohl ihre Augen, die unbeweglich und starr in eine bestimmte Richtung blickten. Für Tim sah es so aus, als würde sie über etwas nachgrübeln - vielleicht über ihren im Krieg gefallenen Mann oder sowas. In Wahrheit sah die Frau aber in diese eine Richtung, weil sie den Eindruck erwecken wollte, dass sie über ihren Mann nachdachte. Dies tat sie nicht, denn der Mann lebte noch. Sie hatte nur mitbekommen, dass da zwei Leute mit einer Videokamera unterwegs waren, mit denen sie unter keinen Umständen reden wollte. Sie hatte keine Lust, sich mit irgendwelchen Leuten abzugeben, die sie nicht kannte.

Sie war alt genug, dachte sie, um keine neuen Kontakte mehr schließen zu müssen. Sie mochte die Menschen nicht, besonders nicht diese jungen Menschen, die noch keine Ahnung vom wahren Ernst des Lebens hatten. Sie hatten den Krieg nicht miterlebt, sie hatten wahrscheinlich mit 14 noch nicht die Schule verlassen müssen, um unter Tage arbeiten zu müssen.

Nein, sie hatten wahrscheinlich Abitur, eine Sache, die zu ihrer Zeit niemals denkbar gewesen wäre.

Warum sollte sie also mit diesen Geschöpfen einer dermaßen faulen Generation reden? Sie sah keinen Grund. Und daher fiel es ihr auch nicht schwer, folgenden Satz zum Besten zu geben, als Tim sie zum Thema Stottern ansprach:

"Lassen sie mich in Ruhe! Ich kann nichts für ihre Krankheit! Der einzige, der etwas dafür kann, das sind sie ja wohl, alleine sie! Verstehen sie? Sie sind schuld, nicht ich. Also gehen sie weg!"

"Ähm, gnädige Frau. Sie mißverstehen da etwas. Ich will hier keinem die Schuld geben an meiner Krankheit, wie sie sagen. Ich möchte nur mit ihnen reden, um mich und meine Leidensgenossen in die normale Gesellschaft zu integrieren."

"Ich möchte sie gar nicht inte-ach, ist ja auch egal, wie das heißt. Auf jeden Fall möchte ich mit solchen Leuten nichts zu tun haben! Also gehen sie!"

Tim war baff. Er hatte schon lange vergessen, wovor er früher Angst gehabt hatte. Er hatte die Gefühle nicht mehr gekannt, die er stets gehabt hatte, wenn solche Leute wie die Dame da vor ihm nur ein müdes Lächeln für seine Stotterblockaden übrig gehabt hatten. Es war ihm entfallen in den Wochen seiner Rehabilitation. Aber jetzt, genau jetzt, waren sie wieder da. In einer Intensität, die für keinen der Anwesenden irgendeinen positiven Effekt haben konnte. Denn unvermittelt, überwältigt von diesen wieder präsenten Gefühlen, schenkte er der Dame seine gesamte Aufmerksamkeit, indem er sie anschrie:

"Hören sie mal, sie arrogante alte Dame!

Wissen sie, dass genau solche Leute wie sie schuld daran sind, dass manche Sachen sich nie ändern werden?

Wissen sie das eigentlich?

Solche Leute wie sie sind es, die wegsehen, wenn mal wieder ein Wehrloser von fünf Straßenschlägern ins Krankenhaus geprügelt wird.

Ihr seid es, die z.B. auch an Bettlern mit einem abfälligen Blick vorbeigehen und sich dann - feige, wie ihr seid - 100 Meter später noch einmal umdrehen und sagen: "Geht arbeiten!"

Ich kenne deinen Charakter!

Du würdest nie die Tür öffnen, wenn jemand blutend davor liegen würde, du würdest noch nicht einmal einen Krankenwagen rufen.

Du fährst höchstens langsamer, wenn du auf der Gegenspur einen Krankenwagen stehen siehst.

Oder du rufst die Polizei, weil du Angst hast, dass dieser blutende Mann vor deiner Tür dich überfallen könnte.

Du bist egoistisch, festgefahren, störrisch und machst deine Augen zu. Von dir gibt es zu viele, ich brauche dich nicht! Hexe!"

 

"Der hast du’s aber gegeben.", sagte Sven, der Mühe hatte, den schnellen Schrittes davonlaufenden Tim einzuholen. Die Frau sah ihm sehr überrascht hinterher. Damit hätte sie wohl an diesem sonnigen Tag nicht gerechnet. Ansonsten hatte niemand etwas mitbekommen. Es bekam nie jemand etwas mit.

"Ja, das stimmt. Es kam so über mich. Und weißt du was? Ich weiß jetzt, dass ich noch gebraucht werde in der Stottererwelt. Ich habe mir jetzt gerade vorgenommen, die armen Stotterer auf dieser Welt, die unter solchen Leuten wie die da hinten zu leiden haben, zu unterstützen. Ich werde was tun, damit meine Nachfolger nicht so großwerden wie ich."

"Das tu du mal, du Streber.", sagte Sven provozierend und grinste dabei.

"Du kannst mich nicht mehr ärgern, du unmotivierter Blödmann!", antwortete Tim und boxte Tim auf die Schulter.

 

"Na, hattet ihr auch Erfolg?", fragte Frau Föhring, als die beiden zurückkamen.

"Es ging so.", sagte Tim etwas mürrisch.

 

 

 

Es geht nach Hause

 

 

Es war der allerletzte Abend in dieser Therapie. Sie alle waren nervös, weil es morgen endlich wieder nach Hause gehen sollte. Sie alle hatten eine harte, lange Zeit hinter sich, eine Zeit voller Langeweile, voller Frust, aber auch voller Freude, Liebe und vorher lang ersehnten Erfolgserlebnissen. Sie alle waren dort, wo sie hingewollt hatten: sie waren weitestgehend flüssig und unterschieden sich kaum noch von ihren Mitmenschen. Natürlich hatten sie alle einen leichten psychischen Knacks behalten, und so richtig glauben, dass sie nun nie wieder psychische Probleme aufgrund ihres Stotterns kriegen würden, konnte keiner von ihnen.

Herr Rawe hatten ihnen geholfen, wieder auf die Beine zu kommen, die ja bei einigen schon mehr als wackelig gewesen waren. Herr Rawe und natürlich auch die vier Mitarbeiterinnen und die Praktikantin Gabi.

Und auch der Gruppenzusammenhalt hatte über weite Strecken funktioniert. Frau Lindauer, die in Tims Beliebtheitshierarchie immerhin an zweiter Stelle stand, hatte ihm mal erzählt, dass es schon Gruppen vor ihnen gegeben hätte, deren Teilnehmer sich manchmal fast die Köpfe abgerissen hätten. Das konnte diese Gruppe nicht von sich behaupten. Gut, Tim mochte zum Beispiel Nicole überhaupt nicht, weil sie eben eine sehr verwöhnte Grazie war, aber er hätte ihr nicht den Kopf abgerissen. Denn er hatte ja die ganze Zeit gewußt, dass diese Zeit vorbeigehen würde. Mit Leuten, mit denen man nichts zu tun hat, kann man sich nicht streiten, und man kann ihnen schon gar nicht die Rübe abreissen wollen.

Am Sonntag vor dem heutigen Abend hatte es einen "Angehörigen-Nachmittag" gegeben. Das bedeutete, dass alle Verwandte und Freunde an diesem Tag zur Klinik hatten kommen können, um sich die Entwicklung des jeweiligen Patienten, der ihnen am nächsten stand, anzusehen. Und natürlich auch die Entwicklung der anderen Patienten, denn das blieb ja nicht aus. Alleine schon aus Gründen der Höflichkeit.

Es hatte Kaffee und Kuchen gegeben und dabei waren die Erstvideoaufnahmen der Patienten vorgeführt worden - was bei den meisten Angehörigen einen Gesichtsausdruck des Entsetzens hervorgerufen hatte. Danach hatten die einzelnen Patienten jeweils einen selbstbewussten und gut durchstrukturierten Vortrag gehalten, der zwar zum größten Teil von Herrn Rawe überarbeitet worden war, der aber trotzdem einen ganz persönlichen Stil gehabt hatte.

"...Aber ich glaube, dass ich mich aus jedem sprachlichen Loch wieder herausarbeiten kann.", hatte Tim noch am Sonntag abschließend gesagt, was einen riesigen Jubel seiner Leute hervorgerufen hatte. Er war so stolz gewesen, besonders deswegen, weil ganz vorne in der ersten Reihe sein großer Bruder gesessen hatte, der sich auf seine ganz eigene brüderliche Art schon immer für Tim eingesetzt hatte. Er hatte Tim durchgeboxt, überall dort, wo sie über ihn gelacht hatten.

Und dieser Bruder hatte nun in der ersten Reihe gesessen und hatte applaudiert, mit einem ehrlichen, lobenden Lächeln in seinem Gesicht. Tim war den Tränen nahe gewesen, denn er hatte gewußt, dass sein Bruder ihn nicht mehr beschützen müsste. Eine lange Phase seines Lebens war hiermit vorbeigegangen.

Und noch jemand anderes war dortgewesen, über dessen Anwesenheit sich Tim wahnsinnig gefreut hatte: Kerstin! Die Kerstin aus der Heimat, die ihm mittlerweile gar nicht mehr so egal war. Er hatte sie gar nicht eingeladen, sie war einfach mitgekommen, zusammen mit Tobi, Dominik, Sonja und Kathi.

Mit zwei Autos waren sie angereist gekommen, um ihren Sohn, Bruder, Freund und - wenn Tim sich nicht zu dämlich anstellen würde - Partner zu besuchen und dabei zuzusehen und zuzuhören, wie er seine Rede hielt.

Tim hatte etwas Mitleid mit Mark gehabt, denn bei Mark war niemand gekommen. Sie hatten sich nicht für ihn interessiert, und es war Tim klargeworden, dass er sich nach der Therapie auch nicht mehr für ihn interessieren würde. Mark war schon ein armes Schwein, und er wusste das. Aber er hatte die Therapie durchgehalten, und er würde auch noch sein ganzes restliches Leben durchhalten. Irgendwie, so fand Tim, war Mark der stärkste von allen, denn er war der einzige, der wirklich ganz allein auf sich gestellt war. Wozu noch verstärkend hinzukam, dass er intelligent genug war, um das Ausmaß seiner Tragödie zu begreifen. Aber er hielt durch, und das machte ihn stark!

 

 

Drei Tage danach. Tim hatte schon den ganzen Tag einen Kloß im Hals gehabt. Sollte das wirklich alles Geschichte werden? Die langen Abende mit Sven, Manuel, Jochen und Kerstin? Er konnte das nicht glauben.

Sie hatten heute natürlich kaum noch etwas getan. Herr Rawe hatte eine lange Rede gehalten, in der er sie gewarnt hatte vor den Gefahren, die "da draußen" auf die Patienten warten würden und vor denen sie sich in Acht nehmen sollten.

Dann hatte jeder von den Patienten auch noch einmal eine Rede gehalten.

Darüber, was sie oder ihn in der Therapie am meisten interessiert hatte.

Darüber, wie sie oder er in den nächsten Jahren mit ihrem Stottern umgehen würde.

Darüber, was sie für Ziele, Träume, Wünsche hatten. All das festgehalten auf 16 Millimeter, damit die ganze Therapie jedes einzelnen Patienten von vorne bis hinten festgehalten wurde.

Danach hatte Herr Rawe sich noch sehr persönlich von jedem einzelnen verabschiedet. Tim hatte sich bestimmt verguckt, aber er hatte zu sehen geglaubt, dass sein Therapeut, dieser große Mann, eine Träne der Rührung in seinem rechten Auge gehabt hatte.

"Herr Habermann!", hatte er zu ihm gesagt. "Denken sie daran: sie sind immer noch ein Stotterer, ein starker Stotterer. Und sie werden noch einen weiten Weg mit ihrem Stottern gehen müssen. Ich wünsche ihnen ganz viel Glück, und wenn sie Probleme haben, sie haben unsere Telefonnummer. Rufen sie an, wann immer sie wollen. Sie schaffen das!"

Und sogar zu Sven hatte er persönliche Worte gesprochen:

"Tja, Herr Born, ich wünsche ihnen für ihren beruflichen Werdegang alles Gute! Und wenn ich sie des öfteren im Verlaufe der Therapie geärgert haben sollte, dann nur, weil ich wollte, dass sie sich Mühe geben. Aber nicht für mich sondern für sie. Ich hoffe, sie wissen, dass ich persönlich nie etwas gegen sie hatte. Viel Erfolg!"

 

Danach war es immer schneller gegangen, bis dieser letzte Tag zuende gegangen war. Nach und nach hatten sich die einzelnen Mitarbeiterinnen und Gabi ebenfalls verabschiedet.

Frau Bittner würde am nächsten Morgen planmäßig Frühdienst haben, also hatte sie sich nicht von der Gruppe verabschieden müssen.

Frau Kronies war die erste gewesen, die "Macht’s gut!" gesagt hatte. Tränen der Rührung in mindestens 13 Augenpaaren. Herzliche Umarmungen. Dasselbe bei der fast gleichzeitig ziehenden Gabi.

Gabi war im Begriff zu gehen, während Tim einen kleinen Mittagsschlaf gehalten hatte. Fast wäre sie für immer gegangen, ohne dass Tim ihr etwas hätte sagen können, was er ihr schon die ganze Zeit hatte sagen wollen. Aber dann war Sven ins Zimmer gerannt gekommen.

"Tim, steh auf, Schlafmütze! Gabi will gehen!"

Schlagartig hatte Tim neben seinem Bett gestanden und hatte sich direkt wieder setzen müssen, weil ihm von diesem ungewohnt schnellen Aufstehen äußerst schwindelig geworden war.

Nach einer kurzen Regenerierungsphase war er aber in das Vorzimmer gestürmt, während Gabi schon mit einem Fuß aus der Türe war.

"Gabi, warte doch!", hatte Tim gerufen.

"Ach, Tim! Wir haben uns ja gar nicht verabschiedet.", hatte Gabi ganz verstört gesagt.

"Stimmt, Gabi. Ich wollte dir noch etwas sagen. Nämlich danke! Dafür, dass du mir geholfen hast, meine Freude am Sprechen wiederzuerlangen."

"Habe ich das?", hatte sie überrascht gefragt.

"Natürlich, in der ersten Woche. Als du uns interviewt hast. Das war das allererste Gespräch seit Jahren, das mir so richtig Spaß gemacht hat, auch mit starkem Stottern. Danke, Gabi, das werde ich nicht vergessen!"

Gabi hatte freudig und überrascht ob dieses Lobs gelacht und dann hatten sie sich in die Arme genommen.

"Tim, paß auf dich auf.", hatte Gabi gesagt, und dann war sie gegangen. Tim hatte gewußt, dass er sie wohl nie wiedersehen würde.

 

Dann war Frau Lindauer gegangen. Wieder dasselbe rührende Spielchen. Eigentlich hatte Tim gar keine Lust auf so viel Rührung gehabt.

 

Und nun war es kurz vor neun Uhr am letzten Abend. Sie saßen noch einmal alle zusammen, diesmal wirklich alle. 12 Patienten und Frau Föhring, die Gruppenmama.

Auf dem Tisch standen ein paar Gläser, gefüllt mit Wein. Tim hatte keine Ahnung, was das für eine Weinsorte war, aber es war ihm auch egal. Er wollte jetzt nur ein kleines bißchen betrunken werden.

Keiner von ihnen wusste etwas zu sagen, daher schwiegen sie lange Zeit. Was hätten sie auch jetzt noch sagen sollen? Es war alles gesagt worden, sie hatten alles hinter sich gebracht, und nun würde bald der Alltag wieder losgehen und diese Zeit hier zu einer Erinnerung unter vielen werden. Aber dafür eine schöne, immerwährende Erinnerung.

Irgendwann brach Tim dann die Stille:

"Sven, weißt du was?", sagte er.

"Hmm?"

"Ich muß dir mal was sagen: ich weiß nicht, wie ich diese 17 Wochen mit dir in einem Zimmer pennen konnte. Du schnarchst, du laberst im Schlaf, du kratzt dich alle fünf Minuten am Arsch. Du wälzt dich im Bett hin und her. Und morgens tust du so, als sei nichts gewesen und drehst die Musik auf. Gott sei Dank, dass das heute die letzte Nacht wird."

"Das finde ich aber auch. Denn auch du erzählst mir Geschichten im Schlaf."

"Ach, ja? Was erzählt er denn so?", wollte Kerstin wissen.

"Mädels, die ganze Zeit Mädels! Ekelhaft!", sagte Sven.

"Das ist ja echt ekelhaft.", sagte Kerstin.

Mark Weila, der es tatsächlich erstaunlich gut weggesteckt hatte, dass am vergangenen Sonntag keiner wegen ihm gekommen war, sah überrascht auf.

"Was, äh... Was ist denn so ekelhaft an Mädchen?", fragte er.

"Das möchtest du wohl gerne wissen!", sagte Kerstin. "Aber ganz im Vertrauen, Mark: Mädchen sind nicht ekelig."

Mark war beruhigt und gab sich wieder der Motorradzeitschrift hin, die er sich an diesem Nachmittag gekauft hatte.

"Willst du ‘nen Motorrad-Führerschein machen?", fragte Jochen, der nicht umsonst den Film "Easy Rider" als Originalkassette in seinem Videoschrank stehen hatte. Er begeisterte sich eben für alles, was einen Motor und mindestens zwei Räder hatte.

"Nein, ich habe kein Geld. Aber vielleicht irgendwann einmal."

"Dann ruf mich an, ich kenne mich aus mit Motorrädern."

"Mach’ ich. Danke, Jochen.", sagte Mark und sah Jochen mit einem ernsten und ein wenig traurigen Blick an. Dann vertiefte er sich wieder in seine Zeitung und setzte ein kaum hörbares "Ihr seid meine Freunde." hinzu.

Tim hörte das aber recht deutlich, und es jagte ihm einen Schrecken ein. Denn auch Mark würde morgen nach Hause fahren, auch Mark hätte es gerne gehabt, wenn zu Hause eine Familie auf ihn gewartet hätte. Aber zu Hause wartete nur Chaos auf ihn. Mark hatte es gewiß am schwersten, denn er war der einzige Vertreter der drei gruppeninternen "Problemfälle", der schlau genug war, um das Ausmaß seiner Situation zu erfassen.

Am liebsten hätte Tim Mark jetzt auf der Stelle in den Arm genommen. Aber er wusste ja nicht, wie Mark auf körperliche Nähe reagierte. Auf freundschaftliches Schulterklopfen jedenfalls hatte er in dieser Zeit oft ängstlich reagiert.

 

"Nun gut.", sagte Frau Föhring. "Ich muß dann auch mal los, meine Freunde."

"Ach, Frau Föhring. Sie können doch jetzt nicht gehen.", sagte Sven, der ganz erschrocken auf die Uhr sah.

"Genau.", sagte Kerstin. "Das geht doch nicht."

"Doch, das geht.", sagte Frau Föhring. "Aber nur ganz schwer." Sie stand auf, stellte sich in die Mitte des Raumes, so dass Paolo, Thomas, Jochen, Nicole, Sven, Tim, Manuel, Kerstin, Magdalena, Jakob, Claudia, Mark, dass sie alle sie sehen konnten.

"Hört mal, ihr lieben. Ihr habt in den letzten Wochen schon so viele Reden gehört, viel zu viele wahrscheinlich. Und ich möchte jetzt auch nicht wieder den Therapeuten spielen, das ist Herrn Rawes Job. Ich möchte euch nur sagen, dass ich sehr stolz auf euch bin, dass ihr so viel an euch gearbeitet habt. Macht eure Sachen weiter. Ihr wart ‘ne gute Gruppe." Mehr bekam sie nicht heraus.

Kerstin stürmte direkt auf die Gruppenmama zu und drückte sie. Währenddessen bildete sich eine Schlange hinter ihr.

Der letzte, der sich von Frau Föhring verabschiedete, war Tim. Zu dem sie sagte:

"Tim, ich weiß, dass es nicht einfach wird für dich. Viel Glück! Und meld dich mal!"

 

Dann ging sie, ohne sich noch einmal umzudrehen, in das Mitarbeiterinnenzimmer, holte ihre Tasche heraus, und verließ dann das Gebäude.

Sie war fort.

 

Und dann geschah noch etwas sehr Spannendes, das diesem Abend noch einen letzten Kick versetzte. Kerstin war nämlich so gerührt, dass sie, nachdem sie sich neben Tim gesetzt hatte, ihre Hand in die seine legte.

Das war endgültig zu viel für Tim und seinen Kloß im Hals, der vor lauter Fülle schon Kinder bekommen hatte. Er stieß die Hand plötzlich und brutal von sich weg, sprang auf und schrie Kerstin an:

"Hör doch mal auf mit dieser Gefühlsduselei! Morgen fahren wir nach Hause, meinst du, danach kennen wir uns noch? Meinst du, wir hätten uns kennengelernt, wenn wir nicht zufällig beide stottern würden und diese Therapie gemacht hätten? Vielleicht wäre das besser gewesen!"

 

Er drehte sich um, riß die Tür zur Terrasse auf, sprang in den mittlerweile völlig präsenten Herbst hinein und verschwand in den Park neben dem Gebäude.

Nun saßen nur noch elf Leute in dem Raum, in dem für Tim alles mit einigen Tassen Kaffee angefangen hatte.

Kerstin konnte es nicht fassen, was Tim da gerade gesagt hatte.

Hatte er ihr wirklich gesagt, dass es besser gewesen wäre, wenn die beiden sich nicht kennengelernt hätten?

Warum?

Was hatte er denn nur gegen sie?

Sie beschloß, das herauszufinden und folgte Tim in den Park, in dem sie im Sommer oft gesessen hatten. Sie hinterließ 10 Menschen, die sich langsam fragten, was denn da gerade für eine Völkerwanderung stattfand.

Kerstin konnte sich die Stelle vorstellen, an der Tim sich wahrscheinlich aufhalten würde. Sie hatte ihn schon oft dort sitzen sehen, außerdem war er damals dort eingeschlafen, als sie ihn gesucht hatte. Und tatsächlich: da saß er auf der Wiese, zwischen diesen alten Buchen oder was auch immer das für Bäume waren. Vielleicht waren es auch Eichen, Kerstin konnte das sowieso nicht auseinanderhalten.

Sie sah Tim dort auf der Bank sitzen, in sich zusammengekauert, in seiner gewohnten Haltung, die er vor der Therapie so oft eingenommen hatte. Und auf einmal war ihr klar, dass Tim das gerade nicht ernst gemeint haben konnte. Sie wusste auf einmal, dass er einfach nur ein Junge voller Gefühle war, der an diesem Abend nicht wusste, was er mit ihnen machen, wo er mit ihnen hin sollte.

 

Langsam ging sie auf Tim zu.

"Darf ich mich setzen?", fragte sie.

Er sah kurz auf, schmiß seinen Blick aber direkt wieder auf den Boden, wo dieser liegen blieb und wie ein zertretener Kaugummi darauf wartete, dass er sich an etwas anderes kleben durfte und ein wenig durch die Gegend getragen werden konnte.

"Klar darfst du dich setzen.", murmelte er und Kerstin war, als hätte sie vor dem ersten Wort ein leichtes unkontrolliertes Stottern gehört.

Sie setzte sich dicht neben ihn und überlegte kurz, wie sie anfangen sollte. Dann sah sie ihn an.

"Ach, Tim. Glaubst du denn wirklich, dass wir uns ab morgen nicht mehr kennen?"

Tim sagte nichts.

"Und wenn schon, was ist denn, wenn wir den Kontakt verlieren? Wir werden uns doch immer erinnern, oder nicht? Du bleibst zumindest immer in meiner Erinnerung."

Tim grinste den Boden an. Der Boden tat nichts.

"Gut oder schlecht?", fragt er.

"Tim, sieh mich an!", befahl Kerstin.

Er sah sie an, diese junge Schönheit. Sie berührte mit einer Hand sein Gesicht.

"Ich werde immer an dich denken. Ich werde dich immer als einen nachdenklichen, einen ehrlichen, liebenswerten Menschen in Erinnerung behalten." Dann machte sie eine Pause, in der sie kurz wegsah. Dann sah sie aber wieder hin und sagte:

"Ich hab dich lieb, Tim."

 

Mit dem, was dann geschah, hätte Tim an diesem Abend niemals mehr gerechnet: sie küßten sich, so als wären sie ein echtes Liebespaar. Tims Herz und sein kleiner Freund meldeten sich gleichzeitig.

Ich würde einem höchstens die Zunge in den Mund stecken, wenn ich den gar nicht leiden kann!

Wo und wann auch immer Tim diesen Satz gehört hatte, er fiel ihm unpassenderweise gerade jetzt wieder ein. Und er musste kurz eine Pause machen und grinsen, bis er sich wieder dem Ernst der Lage bewusst wurde: er, der 17jährige Tim, wurde gerade von einem erfahreneren Mädchen in die hohe Kunst des Küssens eingewiesen, und er musste ein guter Schüler sein. Er gab sich alle Mühe, merkte aber schon recht bald, dass alles von alleine passierte. Er musste sich nur fallenlassen, was er schließlich auch tat.

Sie gaben sich noch lange ihren fünf Monate alten Gefühlen hin, ohne dass noch viel mehr passiert wäre. Einfach nur ein langer, ernst gemeinter, dennoch platonischer Kuß.

Irgendwann ließen sie voneinander ab, beide total verwirrt.

"Das bleibt unter uns, ja?", fragte Kerstin, noch stark benebelt von dieser unerwarteten Zuneigungsbekundung.

"Ist ganz schön kalt, hm?", antwortete Tim.

"Jo, ist ja auch schon November, nicht wahr?"

"Stimmt ja, wir haben’s ja November!", sagte Tim überrascht. Es überraschte ihn wirklich, dass er sich im November getraut hatte, sich mit seinem dünnen Hemd und seinen Hausschuhen in den Park zu verziehen. Und erst jetzt bemerkte er die Feuchtigkeit des Bodens und die kahlen Bäume, die die beiden umgaben.

"Komm mit, mein Schatz!", befahl Kerstin, während sie aufsprang.

"Nicole hätte sich niemals mit ihren teuren Hosen auf diese nasse Bank hier gesetzt.", stellte Tim fast beiläufig fest.

"Nicole hätte so vieles nicht getan: sie wäre dir nicht hinterhergerannt, sie hätte sich nicht auf die Wiese gesetzt und sie hätte auch nicht versucht, dich mit Hilfe ihrer Zunge zurück ins Reich der Gutgelaunten zu holen."

Sie sahen und lachten sich an. Dann stampften sie Hand in Hand über den Laubboden zurück zu dem Klinikgelände, das ihnen so lange als Zuhause gedient hatte. Kurz bevor sie für die anderen wieder in Sichtweite waren, hielt Tim sie noch einmal zurück. Sie drehte sich zu ihm um, ihre Augen strahlten ihn an. Sie sah so frisch aus.

"Ich hab dich auch lieb!", sagte Tim.

"Ich weiß.", sagte sie und kniff ihm in den Oberarm. "Laß uns reingehen."

Sie gingen wieder hinein, wo sich Nicole gerade mit Claudia unterhielt. Er wusste nicht, worüber sie redeten, und er strengte sich auch nicht an, ihnen zuzuhören. Es war ihm so egal, was sie zu sagen hatten. Die einzige weibliche Person im Umkreis von ungefähr 200 Kilometern, deren Äußerungen ihm etwas zu bedeuten hatten, hatte gerade das Schönste zu ihm gesagt, was sie hätte sagen können. Er war überglücklich, denn einen besseren AbSchluss hätte es gar nicht geben können.

Die ganze Zeit hatten sie alle zusammengehalten, hatten eine so tolle Gruppendynamik aufgebaut. Und nun noch dieser AbSchluss! Sagenhaft!

Was hätte ihm noch Besseres passieren können?

 

Tims ganzer Körper war voller Wärme, als er zum letzten Male in seinem Leben in das linke Bett des Zimmers 16 stieg. Er fühlte sich rundherum sicher, so sicher wie noch nie.

"Was grinst du denn so?", fragte Sven. "Vorhin hast du doch noch so schlechte Laune gehabt."

"Ich grinse, weil ich begriffen habe, dass das zwar jetzt alles vorbei ist, dass ich das aber erleben durfte. Das ist schön."

"Bist du bekifft?", grinste Sven ihn an.

"Warum? Nur weil ich finde, dass alles schön ist? Das Leben ist schön, warum sollte man das nicht mal sagen?"

"Oh, Mann, was hat Kerstin nur mit dir gemacht?"

Tim schwieg. Fünf Minuten schwieg er. Dann sagte er:

"Hör mal, wir fahren morgen zusammen nach Hause, ja?"

"Ich denke, oder?"

"Wann fährt denn eigentlich der Zug?"

"Neun. Kurz vor. Ich würde sagen, wir stehen um sieben auf, dann können wir noch ganz in Ruhe frühstücken. Oder?"

"Das klingt gut. Dann sind’s ja jetzt noch fast fünf Stunden.", sagte Tim.

"Nun, dann schlaf mal gut. Und träum du mal von deiner schönen Welt, du komischer Kauz.", brabbelte Sven schläfrig und fing eine Sekunde später an, mit seinen geschwollenen Nasennebenhöhlen zu kämpfen.

 

Und der komische Kauz träumte schön, er träumte von Küssen, von der Liebe, von den letzten 17 Wochen. Er fühlte sich so unbeschreiblich wohl in seinem Traum. So unbeschreiblich wohl.

 

 

 

Zugfahren

 

 

"Wie lange gibt es das Teil hier schon? 300 Jahre oder was?", fragte Tim und deutete auf den Kölner Dom, an dem der Intercity gerade vorbeifuhr.

"Keine Ahnung. Du weißt doch, ich bin Hauptschüler." posaunte Sven in das volle Zugabteil. Einige sahen erschrocken zu ihm hin.

Die beiden lachten.

Sven musste bis Hagen, Tim wie immer noch ein Stück weiter bis nach Dortmund.

Wenn er sich das vorstellte, dass er diese Heimfahrt wahrscheinlich zum letzten Male angetreten hatte. Es fiel ihm schwer, sich das vorzustellen. Es machte ihm Angst.

Von nun an war er auf sich alleine gestellt, war jetzt der einzige Stotterer in seinem Alter. Er hatte jetzt alleine dafür zu sorgen, dass er klarkam zu Hause und wurde nicht mehr rund um die Uhr von Gleichgesinnten beschützt.

Auch hatte er von nun an wieder ein eigenes Zimmer, in dem er Svens Schnarchen nicht mehr ertragen musste. Das war gar nicht schlecht, aber er stellte es sich dennoch sehr einsam vor, alleine in seinem Bett zu liegen. Mit niemandem mehr reden zu können.

Die Zeit kam ihm jetzt schon so vor, als wäre sie bereits Jahre her. Und das, obwohl Sven noch neben ihm saß und wie immer grinste.

Aber all die anderen. Jochen, Kerstin, Manuel, sie alle kamen ihm so weit weg vor, so als hätte er die letzten Wochen nur herbeigeträumt. Wie imaginäre Freunde, die einem Kind das Größerwerden ein wenig erleichtern.

Vielleicht würde gleich schon seine Mutter in Tims Schlafzimmer kommen und sagen:

"Tim, steh doch endlich auf!"

Vielleicht würde er danach zur Schule gehen und im Geschichtsunterricht etwas über das dritte Reich erzählen müssen – und es nicht können. Vielleicht würde er dann nachmittags nach Hause kommen und mal wieder bitterlich weinen, so lange bis entweder seine Eltern oder sein Bruder ihn mit ihren eigenen Alltagsangelegenheiten auf andere Gedanken bringen würden.

 

"Tim, sag mal, kannst du eigentlich auch für ‚ne Stunde mal aufhören zu grübeln? Du machst mir Angst, wenn du soviel nachdenkst."

Tim erschrak.

"Sorry, Sven, ich bin nun mal ein Träumer. Das kann ich am besten."

Irgendwo klingelte ein Handy. Schrill. Laut.

Tim zuckte kurz zusammen, denn im ersten Moment dachte er, er müsste herangehen und könnte es nicht. Ein ganz normaler Reflex.

"Ganz ruhig!", sagte Sven, der Tim jetzt einfach viel zu gut kannte.

"Ach, Sven, muß dir denn alles auffallen?"

"Ja. Ich bin halt wachsam, außerdem kenne ich dich besser als du dich kennst."

"Wie ist das denn eigentlich mit deinem Mädel aus Hagen?", fragte Tim.

"Och, ja. Du kennst das ja. Nicht besonders spektakulär, außerdem habe ich sie seit Wochen nicht mehr gesehen."

"Das tut mir leid.", sagte Tim

"Mir auch.", sagte ein Prolet ein paar Sitze weiter vorne. Er kam sich wohl lustig vor. Er drehte sich um, schielte zu den beiden herüber und grinste.

Sven grinste zurück. Er kannte diese Art von Menschen aus seiner alten Schulklasse, und er wusste, dass sie einfach nur ein bißchen Aufmerksamkeit haben wollten. Sven gab ihm diese, indem er zurückgrinste.

 

Und dann wurde über die Zuglautsprecher auch schon Hagen angekündigt.

Sven stand auf, holte seine schwere Reisetasche von der Taschenablage.

Tim stand ebenfalls auf.

"Tja, Timmi, alter Zimmernachbar. Dann ist diese kleine Episode ja auch dann mal wieder vorbei, was?"

"Mensch, ja wirklich. So schnell geht das."

Der Zug wurde bereits langsamer.

"Alter!", sagte Sven. "Mach’s gut und denk‘ nicht zu viel. Nimm dir ein Beispiel an mir." Er grinste.

"Ich rufe an.", sagte Tim. Und dann fielen die beiden Freunde sich in die Arme. Mehr konnten sie ja jetzt auch nicht mehr tun.

Als der Zug gehalten war, stieg Sven aus, winkte noch einmal kurz und war dann schon hinter der nächsten Häuserwand verschwunden.

Nun war Sven alleine, und damit war der endgültige AbSchluss dieser entscheidenden Zeit besiegelt. Damit der Prolet von eben ihn nicht sehen konnte, zwängte Tim sich eng an das Zugfenster und fing leise an zu weinen.

 

Bereits zwanzig Minuten später war auch für ihn die Zeit zum Aussteigen gekommen. Er wurde heute von seinem Bruder aus Dortmund abgeholt. Dieser wollte ein paar Einkäufe machen und wollte Tim dann vom Bahnhof abholen.

Der Zug war eine halbe Stunde früher in Dortmund, und so hatte Tim noch die Gelegenheit, schlechtgelaunt im Herbstregen herumzustehen und ein paar Zigaretten zu rauchen.

Er stellte sich vor den Haupteingang des Bahnhofs, sah sich die neue Stadtbücherei an, rauchte und träumte.

Gemischte Gefühle. Angst vor dem Kommenden, Mut angesichts des Vergangenen. Trauer aufgrund der Vergangenheit, Vorfreude – was erwartete ihn wohl zu Hause? Erstmal ein deftiges Mittagessen. Im Vergleich zu 17 Wochen Mensa-Fraß war das schon fast Grund genug, diesen Tag rot im Kalender anzustreichen.

Wahrscheinlich würden seine Eltern sich übers Tims Nachhausekommen freuen. Wahrscheinlich mehr als das. Sie würden sich bestimmt gar nicht mehr einkriegen können, weil sie endlich ihren Sohn wiederhatten.

Aber Tim hatte nicht ganz so viel Lust auf sein Zuhause, denn er hatte erkannt, dass es mehr gab als dieses warme, behütete Nest: es gab noch andere warme, behütete Nester, in die man nicht hineingetzt wurde sondern die man sich selber suchen konnte. Er war halt ein Stück erwachsener geworden, hatte zum ersten Mal seine Flügel in andere Richtungen ausgestreckt und wollte so früh noch nicht zurück nach Hause.

Tim pustete den Rauch in den regnerischen Ruhrgebietshimmel.

"Was wird wohl?", fragte er ihn.

"Wer weiß das schon?", antwortete sein Bruder, der sich von hinten angeschlichen hatte.

"Bruderherz! Du bist schon da?" Tim freute sich darüber, seinen Bruder wiederzusehen.

"Ja, ich war ein bißchen früher mit meinen Einkäufen fertig. Da habe ich auf dich gewartet. Komm, wir fahren nach Hause. Ich habe Hunger."

"Ich auch.", sagte Tim.

Sie gingen zum Auto. Ein durchgerostetes, klappriges Teil. Aber es tat noch seinen Dienst.

"Danke nochmal, Dirk."

"Wofür?", sagte der Bruder.

"Dass du letzten Sonntag gekommen bist, um dir meinen Vortrag anzuhören."

"Du bist doch mein Bruder.", antwortete er nur, haute Tim mit der flachen Hand auf den Oberschenkel und trat dann aufs Gas.

 

Einen Haufen Stunden später befand Tim sich in einem sehr sauber aufgeräumten Zimmer. Sauber war gar kein Ausdruck: alles stand an seinem Platz, als wäre das ein neues Gesetz. Vielleicht war es auch eins in Kerstins Familie.

Tims Mutter hatte die ganzen Jahre lang versucht, ihren Sprößlingen Ordnung beizubringen. Aber hatte sie es geschafft? Nicht wirklich. Wie hatte Kerstins Mutter das nur hinbekommen?

Draußen war es dunkel, der Jahreszeit entsprechend. Nur zwei IKEA Lampen, die "MIL" hießen, sorgten dafür, dass sie sich sehen konnten.

Tims Eltern hatten sich tatsächlich wahnsinnig gefreut, ihren Jüngsten wiederzuhaben. Hatten ihn umarmt, ihn beglückwünscht zur erfolgreichen Therapie, ihm ein riesiges Mittagsmahl vorgesetzt. Tims Mutter hatte sogar sein Zimmer aufgeräumt, was er überhaupt nicht haben konnte.

Sie waren so stolz auf ihn, und er war stolz auf sich. Aber das änderte überhaupt nichts daran, dass er viel lieber bei seiner Therapie-Kerstin gewesen wäre. Und bei seinem Therapie-Sven und Therapie-Manuel. Er vermißte sie jetzt schon, er vermißte Kerstins Schultermassagen. Und er hatte ein schlechtes Gewissen der Heimatstadt-Kerstin gegenüber. Denn sie wusste ja nicht, was noch am vorigen Abend passiert war. Sie wusste auch nicht, dass Tims Gedanken im Moment nicht bei ihr waren sondern ein paar hundert Kilometer weit weg.

 

"Das war ‚ne nette Rede am Sonntag.", sagte sie.

"Danke.", sagte er. "Ich war ganz schön nervös."

"Das glaube ich. Ich hätte mir sowas nicht zugetraut."

"Doch, bestimmt. Du stotterst ja nicht."

Sie grinste ihn an.

"Du doch auch nicht mehr, Schatz!"

Hatte sie jetzt ‚Schatz‘ gesagt? Hatte er das richtig gehört? Waren sie denn in ihrer Vorstellung bereits zusammen? Wusste sie denn nicht, dass sein Herz im Moment noch gar nicht bei ihr war?

"Doch, doch. Aber nicht jetzt."

"Du bist zu kritisch. Sag mal, wer von den beiden Mädels am Sonntag war denn jetzt die andere Kerstin, von der du mir die ganzen Wochen erzählt hast?"

"Ähm... Die, die vor mir kam.", antwortete Tim verlegen.

"Ich wusste doch, dass der Tim einen guten Geschmack hat.", sagte sie und grinste noch breiter als eben. "Ist da was gelaufen zwischen euch?"

Was sollte denn jetzt diese Frage? War das nicht schon zu privat?

"Wieso?", blockte er Kerstins Neugierde ab.

"Ich denke mir, wenn man mit so einem hübschen Mädchen 17 Wochen lang zusammen wohnt, kann sich da schon was entwickeln."

Tim schwieg.

"Ich jedenfalls", fuhr sie fort "hätte an ihrer Stelle sofort zugegriffen, wenn ich dich gesehen hätte."

Sie fuhr aber heute ganz schön schwere Geschütze auf! Solche Äußerungen hatte sie während der ganzen Zeit nie von sich gegeben. Aber er musste dem etwas entgegensetzen, denn sonst hätte sie ihn wahrscheinlich in Grund und Boden geredet.

"Ich hätte bei dir auch zugegriffen.", sagte sein Mund und schleifte die Chefetage, die Gedanken, hinterher.

"Ach, wirklich?" Kerstin stand auf, ging zu Tim herüber und setzte sich neben ihn. "Warum?"

Weil du verdammt hübsch bist, und weil du etwas zu sagen hast!, dachte Tim und merkte dann, dass zumindest seine Gedanken nun doch bei ihr waren. Er musste etwas sagen.

"Weil du...äh..."

"Ja?"

Er brauchte Mut, aber den hatte er sich ja antrainiert. Er holte Luft, schob sie dann gleichmäßig wieder hinaus und nahm auf diesem Wege ein paar Laute mit:

"Weil du verdammt hübsch bist, und weil du etwas zu sagen hast!" Er hatte es gesagt! Wie oft hatte er sich vor der Therapie vorgestellt, so etwas mal sagen zu können – und jetzt konnte er es sagen, hatte es gesagt und hatte sogar Wirkung damit erzielt!

Denn das Schauspiel von gestern Abend wiederholte sich nun in einer erst zaghaften, unsicheren Weise. Dann wurde es aber um einige Einheiten drängender und zum Schluss gaben sie sich dann ganz ihren frischen Gefühlen hin. Niemand störte sie, noch nicht einmal Kerstins Mutter, die in einer amerikanischen Geschichte nun hereingestürmt wäre, um den beiden Schnittchen anzubieten.

Aber sie stürmte nicht herein, sie blieb draußen. Lauschte noch nicht einmal. Tim und Kerstin waren alleine, und hätte seine beschlagnahmte Gesichtsmotorik es zugelassen, Tim hätte vor Glück geweint wie ein Schloßhund.

 

Oder wie Mark Weila, der aber nicht vor Glück weinte. Er stellte in just diesem Moment fest, dass wirklich niemand ihn vermißt hatte. Dass er am Morgen seine einzigen, ersten Freunde verlassen hatte, die wahrscheinlich nun auch nicht mehr an ihn denken würden. Dass er wahrscheinlich für immer alleine bleiben würde.

"Mark?", hatte sein Vater vorhin aus dem Wohnzimmer herausposaunt.

"Ja?", hatte Mark geantwortet.

"Wo warst du?"

Was hatte er damit gemeint? Er wusste doch von der Therapie.

"Ich komme gerade von der Therapie wieder."

Pause. Dann:

"Was denn für ‚ne Therapie?"

"Sprachtherapie! Weißt du doch!", hatte er immer noch selbstbewusst geantwortet. Irgendetwas in ihm hatte insgeheim gehofft, dass der Vater nur einen Scherz gemacht hatte. Aber sein Vater war betrunken und betrunkene Väter machten keine Scherze.

"Meinst du, das lohnt sich bei dir?", hatte der Vater gerufen.

Markus war ganz kalt geworden. Er hatte gemerkt, dass alles beim alten war. Er hatte langsam angefangen zu weinen. Hätte sich gerne an jemanden angelehnt, der oder die ihn getröstet hätte.

Aber dann war er einfach in sein Zimmer gerannt, hatte den Computer angemacht, was er immer getan hatte, wenn es ihm schlecht gegangen war. Hatte ein Ballerspiel gestartet und seinen Vater abgeknallt.

 

Nun stürmten seine Gedanken auf ihn ein, redeten ihm schlimme Dinge ein, die zu glauben ihm nicht schwerfiel.

Sie erzählten ihm, dass keiner ihn mochte.

Dass keiner auf ihn gewartet hatte.

Dass alles umsonst gewesen war.

Und sie waren laut, verdammt laut.

 

Ist das dieses ‚Stimmenhören‘, von dem die anderen immer reden? Bin ich verrückt? Sollte ich zu einem Arzt gehen?

Aber er hörte keine Stimmen, seine Gedanken waren eben nur laut. Sie waren das einzige, was er hörte in diesen Momenten. Sein Vater lag besoffen in einer Ecke, seine Stiefmutter lag besoffen in ihrem Bett.

Lasst mich in Ruhe!, schrie er in seinen Gedanken seine Gedanken an. Aber sie ließen ihn nicht in Ruhe. Sie verhinderten jegliche Freude darüber, dass Mark einen seiner kühnsten Träume verwirklicht hatte: reden können! Er war nicht so flüssig geworden wie Tim oder Manuel, aber er hatte dennoch Erfolge erzielt. Und er hatte auch das Gefühl gehabt, dass die anderen auf seiner Seite gewesen waren. Jedoch waren sie jetzt nicht mehr bei ihm, und das einzige, der ihm geblieben war, das war sein geheiligter Computer. Und seine Gedanken. Sie brüllten ihn an, stopften ihn voll mit Negativität.

Er musste sich ihrer entledigen! Mechanisch, wie morgens vor der Schule, zog er sich die alten Schuhe an, riß die Wohnungstür auf, rannte die acht Stockwerke der sozialen Wohnungseinrichtung hinunter, weil ihm der Fahrstuhl zu lange brauchte.

Unten angekommen begab er sich direkt in den Herbstregen, drehte sich ein paar Mal im Kreis, weil er nicht wusste, wo er hinrennen sollte. Wo sie mich nicht finden können.

Aber dann rannte er, versuchte den Gedanken davonzulaufen, doch sie holten ihn ein, waren einfach schneller als er...

 

Wie schön so ein Zug sein konnte. Die aerodynamisch geformte Schnauze sah zusammen mit den Lichtern des Zuges mit einem bißchen Phantasie so aus, als gehörte sie zu einer riesengroßen Katze, die über die Gleise herangesprungen käme. Ihren langen Schwanz hinterherziehend.

Die Katze bog sich langsam um die Ecke, geschmeidig, erfahren, zielstrebig, konstant. Unaufhaltsam, machtvoll und ruhig.

"Katzen sind die beruhigendsten Lebewesen", erzählte Mark sich selbst und dem Herbstregen. Allein durch den Anblick dieses katzenähnlichen ICE wurde er auf eine wohltuende Art und Weise ruhiger, sicherer.

Die Katze sah ihn aus der Ferne an, kam näher, um zu sehen, wer er war.

Mark wurde klar, wieso er hierhin gerannt war, um seinen Gedanken zu entkommen. Zu dieser Lichtung, durch die die Gleise führten. Es war ihm bestimmt auch schon vorher klargewesen. Er wollte der Katze "Guten Tag!" sagen, wollte sie streicheln, ihr warmes Metall anfassen. Sich an sie kuscheln. Ihre Wärme fühlen. Er wollte ihr Schnurren hören und alle seine Sorgen vergessen.

Sie würde ihn mögen.

Sie würde ihn nicht abweisen.

Sie würde ihn nicht fragen, ob sich die Sprachtherapie gelohnt hätte.

Aber halt! Sie sah ihn gar nicht, würde an ihm vorbeirennen, wenn er sich nicht bemerkbar machen würde! Das wollte er nicht, er wollte, dass sie ihn begrüßte.

So tat er einen Schritt nach vorne – und noch einen. Irgendwann würde sie ihn sehen, er musste nur weit genug vorgehen. Er hörte sei schon ganz deutlich und konnte auch ihre volle – wahrlich beachtliche – Größe erkennen. Noch ein Schritt. Noch einer...

 

Und während der auch mal so arm dran gewesene Tim zum ersten Mal die Vorzüge einer jungen Frau in voller Pracht zu Gesicht bekam, bekam Mark zum ersten und letzten Mal die Vorderansicht eines Zuges der Deutschen Bahn in voller Pracht zu Gesicht.

Ich habe nie gemerkt, dass er da war – nicht mal, als er nicht mehr da war. Das war ein Lied, das er mal auf Tims Kassettenrekorder in der Klinik gehört hatte – und es war der letzte Gedanke, den er dachte.

 

Schmerz ist relativ. Es gibt immer einen, dem es noch schlechter geht.

 

 

 

Ein Anruf bei Gerd Eggers

 

 

"Eggers?" Gerd Eggers war unübersehbar schlecht gelaunt.

Erstens war heute Montag, zweitens war es erst zwei Tage her, dass der Verein gegen die Bayern verloren hatte, drittens hatten er und seine Kumpels gestern noch einmal gesoffen. Einfach deswegen, weil es ein Sonntag gewesen war.

Zwei Tage hintereinander zu saufen, das war nichts mehr für ihn und seine Nerven. Er hatte am Tag nach übertriebenem Alkoholgenuß oft so zittrige Knochen und nachts, wenn er im Bett lag, hatte er das Gefühl, sein Körper würde sich verkrampfen. Wie bei einem epileptischen Anfall.

Manchmal hatte er Angst, er würde nicht mehr aufwachen, wenn er jetzt einschliefe. Und so zogen sich manchmal die Nächte sehr lange hin. Gerd Eggers befürchtete, dass die kommende Nacht, also die von Montag auf Dienstag, wieder so eine werden würde. Schließlich hatte er nicht nur einen Tag sondern zwei gesoffen - Nervenstress im Doppelpack.

Und dieses Telefon, oder besser gesagt das Klingeln des Telefons, das verstärkte seine Nachwehen nur noch. In seinem Kopf war irgendwo eine offene Wunde, die die ganze Zeit vor sich hinblutete. Das Klingelgeräusch stach durch seine Ohren wie ein überdimensionaler Wespenstachel. Die Routine erlaubte es dem Stachel, absolut zielstrebig zu dieser Wunde im Kopf zu gelangen und in ihr herumzustochern wie ein Zahnstocher in den Zahnzwischenräumen.

Der Stachel war gerade dabei gewesen, wieder zuzustechen, und um das zu beenden, hatte Gerd Eggers den Hörer nun abgenommen.

Was für eine Erleichterung für den Kopf, dass das Klingeln jetzt unterbrochen worden war!

"Eggers?", sagte er zum zweiten Mal, da beim ersten Mal niemand etwas gesagt hatte.

Am anderen Ende schien jemand am Bahnhof oder am Flughafen oder sonstwo zu stehen. Gerd Eggers hörte nur Pfeifen, so als wäre es ein Wind, der sich mit ihm unterhalten wollte. Das Pfeifen wurde mal lauter, mal leiser und zwischendurch wurde es durch ein "Äh" unterbrochen.

"Hören sie mal, wo sind sie gerade? Können sie nicht von woanders aus anrufen?"

"Äh", und dann wieder dieses Pfeifen.

Das Pfeifen nervte Gerd ungemein, denn es erinnerte ihn an diesen Stachel, der die Außenränder seiner Alkohol-Wunde zu untersuchen schien. Außerdem schien die Verbindung entweder sehr schlecht zu sein, oder aber sein Gesprächspartner stand wirklich am Flughafen.

"Also, passen sie auf. Rufen sie doch bitte wieder an, wenn sie an einem ruhigeren Ort sind, ok? Bis bald."

Gerd Eggers legte auf und hatte überhaupt keine Ahnung, dass er gerade zum zweiten Mal innerhalb von ein paar Tagen mit einem Behinderten gesprochen hatte, der sich die freigewordene Wohnung in seinem Wohnpark hatte ansehen wollen.

 

Dieser Behinderte hieß Tim Habermann. Und er war gerade recht ärgerlich. Wie oft hatte er in den letzten Jahren schon derartige Rückschläge erlebt. Wie oft hatte er sich geärgert, dass ihn keiner ernst nahm, nur deswegen, weil er so lange zum Reden brauchte und seine Mimik einige ungewohnte Grimassen schnitt.

Es war sein Plan gewesen, bei Gerd Eggers anzurufen, ihn zu fragen, ob er mit seiner Freundin mal vorbeikommen könnte, um sich eine Wohnung anzusehen. Er wollte ihm erzählen, dass die beiden nach jahrelanger Beziehung nun endlich zusammenziehen wollten. Er hätte sich wahrscheinlich länger mit ihm unterhalten, wäre er nicht dummerweise ein Stotterer gewesen. Dessen letzte Therapie nun schon seit 10 Jahren zurücklag.

Er war schon bei der Begrüßung gescheitert, hatte noch nicht einmal ein "Hallo" rausbekommen. Er hatte so lange gebraucht, bis Herr Eggers aufgelegt hatte. Was sollte er denn jetzt dazu sagen? Und was sollte er vor allen Dingen seinem Mädchen sagen? Er wollte ja schließlich ihr Held sein, so hatten sie sich kennengelernt und so wollte er sie wie der Highlander bis zu ihrem Lebensende begleiten und sie dann zum Queen-Soundtrack "Who wants to live forever" zu ihrem Grabe in den Highlands tragen. Das wäre zumindest etwas gewesen, das in sein eigenes Wunschbild von sich als Helden gepaßt hätte.

Was gar nicht dort hinein paßte, trug den Namen "Versager". Kerstin hatte sich in keinen Versager verliebt sondern in jemanden, der als Stotterer vor dem Sozialwissenschafts-Kurs einen Vortrag gehalten hatte, den sich kein anderer zugetraut hätte. Kerstin hatte sich in einen starken, mutigen, erfolgreichen Mann verliebt. Dieses Bild hatte sie von ihm, denn bevor Tim ein Held geworden war, hatte sie ihn ja noch nicht einmal angesehen.

Dieses Bild durfte nicht einstürzen, war allerdings schön länger stark brüchig. Und beide wussten das. Aber ganz einstürzen durfte es nicht, denn ohne Kerstin, die ihn bewunderte, hätte sein Leben keinen Sinn mehr.

Wie schon so oft dramatisierte Tim in diesem Punkt wieder wild drauf los, steigerte sich in etwas hinein, das vielleicht gar nicht stimmte. Er zog überhaupt nicht in Betracht, dass Kerstin ihn eventuell auch vorher schon nett gefunden haben könnte. Dass nur nichts entstanden war, weil sie zu feige gewesen war, ihn anzusprechen und sich auf das alte Rollenspiel eingelassen hatte. Das alte Rollenspiel, das Tim leider aus bekannten Gründen nie gelernt hatte: der Mann spricht die Frau an. Natürlich hatte sie gewußt, dass es auch andere Fälle gab, in denen die Frau den Mann ansprach.

Aber sie hatte sich nicht getraut, zum einen nicht, weil sie gedacht hatte: so einer ist doch bestimmt schon lange vergeben. Zum anderen, weil er sie noch nicht einmal angesehen hatte - was ihr das Gefühl gegeben hatte, dass sie für ihn nicht existierte. Sie wusste ja nicht, dass er sie nur nicht angesehen hatte, weil er Angst vor einem Gespräch gehabt hatte, das daraus hätte entstehen können.

Darüber hatten sie nie geredet, wozu auch? Denn Tim hatte sich ja wohl gefühlt in dieser neuen Heldenrolle und hatte sich gefreut, dass Kerstin ihn bewunderte.

 

Ihre Meinung über ihn war ihm wichtiger als seine eigene von sich. Seine eigene Meinung war, dass er schon längst nicht mehr der Held seines Alltags war sondern nur versuchte, ihn irgendwie zu überleben, ohne besonders viel herumzuheulen. Er hielt sich schon die ganzen Jahre an die oberste Maxime: ‘keinen Situationen aus dem Weg gehen.’ Seit 10 Jahren war er nicht vor einer einzigen Situation davongerannt, hatte sich allem gestellt. Herr Rawe wäre stolz auf ihn gewesen. An seiner sprachlichen und geistigen Verfassung hatte das aber nichts geändert, denn dieses sich-Stellen war im Prinzip der allerletzte Strohhalm, an dem er sich noch festhalten konnte. Es war das letzte Indiz dafür, dass er vielleicht irgendwann einmal ein Held gewesen war.

Längst hatten sich seine Gedanken wieder in das alte Muster eingefügt, waren schon seit Jahren wieder dabei, gegen ihn anstatt für ihn zu arbeiten. Während er sich jenen schwierigen Situationen stellte, die im übrigen ein immer größeres Spektrum umfaßten, dachte er nicht etwa: meine Güte, ist das schön, dass du nicht wegläufst! - sondern er dachte: wenn du doch jetzt weglaufen dürftest!

Es war einfach sehr schwer, bei einem solch harten Stottern noch mutig und selbstbewusst zu bleiben. Er stotterte wieder bei jedem zweiten Wort mindestens eine Minute, und da war es kein Wunder, dass Tim es sich dreimal überlegte, bevor er etwas sagen konnte. Anfangs hatte Wellenbrecher Nr. 3 noch gut funktioniert: Tim hatte sich einfach gedacht, wenn es nicht anders geht, dann bestellst du eben deine Pizza mit einem riesen Kraftaufwand, Hauptsache ist doch, dass du die Pizza bekommst! Nach dem 300sten Pizzabäcker jedoch, der schmunzelnd vor ihm gestanden und ungeduldig reagiert hatte, war in Tim aber schon eine Gefühl das Mißbehagens hochgeklettert. Und es waren ja nicht nur die Pizzabäcker, es waren alle neuen Leute, die in Tims leben kamen, egal ob es neue Freunde, neue Feinde oder Leute in irgendwelchen Ämtern oder hinter irgendeiner Käsetheke waren, zuerst einmal bekam Tim nach seinem ersten Wort ein mitleidiges oder belustigtes Lächeln vor den Kopf geschmissen, mit dem er fertig werden musste.

Er fühlte sich schon lange nicht mehr ebenbürtig mit seinen Gesprächspartnern sondern in seinem Kopf war die Rollenverteilung so, dass er das Kind war und alle anderen waren die Autoritätspersonen, die sich herabließen, so zu tun, als würden sie Tim zuhören. Mit diesem Hintergrund verließ er jeden Morgen das Haus und freute sich den Tag über auf die einzige Person in seinem Alltag, bei der er noch ein gutes Ansehen hatte: Kerstin.

Das alles schnürte ihm beharrlich die Luft ab, nie so sehr, dass er hätte tot umfallen müssen, aber kräftig genug, um seine eigene Lebensenergie beständig zu schwächen. Das Leben fiel ihm schwer, obwohl es noch genügend Momente gab, in denen er das nicht merkte. Das waren eben jene Momente, in denen der Alltag nicht so sehr zu spüren war.

Außerdem hielt er sich schon die ganze Zeit einen Satz vor Augen, den er irgendwo einmal gehört hatte, von dem er aber weder den genauen Wortlaut noch den Verfasser noch in Erinnerung behalten hatte: Schmerz brächte den Menschen dazu zu handeln und sei deshalb erstrebenswert, so ähnlich hieß der Satz. Er kannte den Zusammenhang nicht mehr, aber er hatte ihn für sich so interpretiert, dass die schlechte Laune, die er seit Jahren mit sich herumschleppte, gar nicht so schlecht sei - weil er dadurch nämlich gezwungen wurde, sich mit seinem Leben auseinanderzusetzen und somit bewusster zu leben als alle anderen.

 

Er hatte ihr gesagt, dass er sich um eine Wohnung kümmern wolle, weil sie momentan so wenig Zeit hatte, das zu tun. Er wusste, dass kein Weg daran vorbeiführte, noch einmal bei Gerd Eggers anzurufen und noch einmal sein Glück zu versuchen.

Und das tat er dann auch endlich, denn er durfte ja nicht wegrennen. Das hatte er sich verboten.

 

"Eggers?", sagte eine unfreundliche Stimme.

Tim holte tief Luft und stieß dann heraus:

"Guten Ttttttttt", mehr nicht.

"Ja, ja, guten Tag. Was kann ich für sie tun.", sagte Gerd Eggers genervt. Er konnte einfach den Stachel in seinem Kopf nicht vergessen.

"Tttttttt", Tim war zu ehrgeizig, um sich das Wort "Tag" aus dem Mund nehmen zu lassen. Er krümmte sich wie vor Schmerzen.

Nehmen sie die richtige Artikulationsposition ein, sagte Herrn Rawes Stimme zu ihm. Und Tim schrie sich innerlich an: genau, Alter, nimm doch endlich diese scheiß Position ein, so wird das doch nichts!

Aber weder Herrn Rawes noch Tims Stimme konnten irgendetwas daran ändern, dass Tim vor lauter Verkrampftheit mal wieder dabei war, die Telefonschnur um seinen Hals zu wickeln, weil er sonst keine andere Möglichkeit gefunden hätte, die innere Spannung nach draußen zu leiten.

In seinem Kopf attackierten ihn die Erinnerungen.

Einen Monat nach der Entlassung aus der Therapie war er 18 geworden.

"Tobi!", hatte er auf der Geburtstagsparty zu seinem Kumpel gesagt. "Das ist der erste Geburtstag, an den ich mich erinnern kann, an dem ich einfach wunschlos glücklich bin! Das ist so schön!"

Das hatte er gesagt, ja, aber das war 10 Jahre her. Er hatte nie wieder einen so schönen Geburtstag erlebt.

Nach seiner Geburtstagsfete hatte er zum ersten Mal mit Kerstin geschlafen.

Er wünschte sich so sehr die Zeit zurück.

 

"Wer sind sie denn?"

Tim gab es dann doch auf.

"Tim Hchchchchchchch...", Tim konnte es nicht fassen, dass seine Mundwerkzeuge nicht das ‘H’ herausließen sondern ein ‘Ch’. Er hieß doch nicht ‘Chabermann’ sondern Habermann.

"Äh - hier ist Tim Chchchchchch...", mehr konnte er nicht sagen.

Und Gerd Eggers konnte nicht mehr hören.

"Hören sie zu. Rufen sie bitte noch einmal an, wenn ihnen ihr Name wieder eingefallen ist. Ich habe schließlich noch mehr zu tun."

Klick!

Schon wieder hatte er aufgelegt! Hatte der Mann denn keine Ahnung davon, dass es Leute gab, die nicht so schnell sprechen konnten? Das konnte doch alles nicht wahr sein! Und weil es nicht war sein konnte und weil da seit Jahren eine riesige innere Wut in unserem Helden herangewachsen war, die nun endlich einmal heraus wollte, nahm Tim das Telefon und schmiss es gegen die Wand.

Das war der Auslöser, das Ventil. Er trampelte auf dem Telefon herum, so dass es aussah, als würde Donald Duck einen Wutanfall bekommen. Danach tat er das gleich mit allen Gegenständen, die in der Nähe lagen: das Telefonbuch wurde zerrissen, einige Blumen mussten sterben, ein oder zwei Bilder wurden zerstört und auch die Scherben des schönen Spiegels in Tims kleiner Wohnung würde ihm dann – getreu dem Sprichwort - wahrscheinlich demnächst Glück bringen.

Tim steigerte sich in einen riesengroßen Wutanfall hinein, sorgte dafür, dass er in den nächsten Tagen vieles wieder herstellen beziehungsweise neu kaufen müsste.

 

Er merkte nicht, dass Kerstin die Tür aufschloss. Sie hatte einen eigenen Schlüssel für Tims Wohnung, weil sie sich sowieso öfter bei ihm als in ihren eigenen vier Wänden aufhielt.

Verdutzt beobachtete sie ihn, wie er seine eigene Bude auseinandernahm. Wie ein Rockstar, dachte sie zuerst. Ja, wie ein Rockstar, der aus lauter Ekstase heraus seine Gitarre und die Verstärker kaputtkloppte.

Fassungslos stand sie dort bestimmt drei Minuten, ohne dass sie sich traute, irgendetwas zu sagen. Sie wusste, dass es ihm nicht gut ging. Sie hatte schon oft bemerkt, dass er ihr nicht zuhörte, wenn sie ihm etwas erzählte. Er hatte etwas auf dem Herzen, aber sie war sich sicher, dass die beiden, wenn sie erstmal zusammen wohnen würden, sich schon gegenseitig aufbauen würden.

Irgendwann beruhigte Tim sich wieder. Er ließ sich erschöpft auf seinen Knien nieder und verlor ein paar Wut-Tränen.

"Was tust du hier?", meldete Kerstin sich schließlich.

Tim erschrak. Er sah zu ihr auf und konnte nichts sagen.

 

"Soll ich anrufen?", fragte Kerstin, als er ihr dann doch erklärt hatte, warum er gerade so ausgerastet war.

Schluck.

Hatte sie das jetzt wirklich gefragt? Hatte Tim - der Held - es wirklich nötig, sich von seinem Mädchen fragen zu lassen, ob sie ihm eine schwere Aufgabe abnehmen sollte? Er glaubte einfach nicht, dass es schon wieder so weit gekommen war, dass er sich wieder bemuttern lassen musste. Hatte er das damals beabsichtigt, irgendwann wieder zum status quo zurückzukehren? Auf keinen Fall! Daher sagte - nein, schrie - er jetzt:

"Nein! Verdammt!"

"Warum brüllst du mich denn so an? Ich habe doch nur gefragt, ob ich helfen soll!", Kerstin war beleidigt.

"Du brauchst mir nicht zu helfen! Ich schaffe das alleine! Außerdem habe ich jetzt eh kein Telefon mehr!"

Es war schon ein komisches Bild, wie die beiden am Küchentisch zwischen den ganzen zerstörten Gegenständen saßen, beide erschrocken, beide verunsichert. Besonders Kerstin, die die äußerliche Entwicklung von Tim in den letzten Jahren hatte beobachten können, wusste schon lange nicht mehr so genau, wie sie auf das Verhalten ihres Freundes reagieren sollte. Sie hatte auch dementsprechend reagiert, nämlich gar nicht. Aber nun, angesichts dieser zerstörten Wohnung, musste sie reagieren.

"Dir geht es nicht so gut im Moment, stimmt’s?", fragte sie zaghaft.

"Ich habe alles im Griff, ich habe heute nur einen schlechten Tag.", antwortete Tim und bemühte sich, dabei möglichst glaubhaft zu klingen.

"Wenn du Probleme hast, kannst du sie mir ruhig erzählen. Ich kenne dich jetzt seit 10 Jahren, und du hast mir eigentlich die ganze Zeit sehr viel von dir erzählt. Aber seit zwei Jahren oder so hat das immer mehr abgenommen. Willst du mir nichts mehr über dich erzählen?"

"Ist das jetzt ein Vorwurf, dass ich nicht mehr mit dir rede oder sowas?"

"Nein, ich will dir keinen Vorwurf machen. Ich sehe nur, dass es dir nicht gut geht. Deine Augen sind so ernst geworden, du stotterst seit einiger Zeit stärker..."

"Wie bitte? Seit wann stört es dich, dass ich stottere? Wenn das so ist, warum ziehen wir dann überhaupt zusammen? Kannst du mir das mal erzählen? Ich dachte, wenigstens du wärst auf meiner Seite!"

Kerstin zuckte zusammen. Sie war die ganze Zeit auf seiner Seite gewesen, hatte noch nicht einmal gewußt, dass es noch eine andere Seite gegeben hatte. Warum glaubte er nur, dass sie gegen ihn war?

"Hör mal zu, du Arsch!", sagte sie. "Jetzt hör mal auf, so ungerecht mir gegenüber zu sein! Das habe ich erstens nicht nötig und zweitens macht es die Situation nur noch schlimmer."

"Ach so, jetzt bin ich der Buhmann, ja? Das ungerechte Arschloch, ja? Das glaube ich ja wohl nicht! Wenn du mich so siehst, warum haust du dann nicht ab von mir? Warum verlässt du mich nicht? Hau doch ab!"

 

Noch einmal zuckte Kerstin zusammen. Ihr Vater hatte das früher oft zu ihr gesagt, dass sie abhauen soll. Er hatte sie nicht gemocht, wieso das so gewesen war, wusste sie nicht. Immer, wenn sie etwas getan hatte, was ihm nicht gefallen hatte, hatte er sie angebrüllt, sie sollte abhauen. Die Mutter hatte immer geschwiegen.

Sie war zu Hause nicht willkommen gewesen, war deswegen oft traurig gewesen.

Sie hatte eine beste Freundin gehabt. Dort hatte sie oft gewohnt, manchmal sogar für Wochen. Und Tim war der erste Mensch neben dieser Freundin gewesen, bei dem sie schon immer willkommen gewesen war. Die ganzen 10 Jahre hatte sich daran nichts geändert, sie hatte zu jeder Tages- und Nachtzeit zu ihm kommen können. Und jetzt sollte sie gehen? Jetzt, wo sie fast zusammengezogen wären und vielleicht noch ein schönes Leben zusammen gehabt hätten? Was war nur los mit ihm?

Traurig senkte sie den Blick zu Boden. Aber dann stand sie auf, sah ihn noch einmal kurz an und lief dann zur Wohnungstür. Ohne noch ein Wort zu sagen, rannte sie hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.

 

Tim war alleine. Hatte er gerade zu seiner Kerstin gesagt, dass sie abhauen soll? Er erinnerte sich an die Gespräche, die die beiden in ihrer Anfangszeit gehabt hatten. Über ihren abweisenden Alten, ihre schweigende Mutter. Er erinnerte sich daran, wie stolz er damals gewesen war, als er in einer stillen Minute begriffen hatte, dass er der erste Mann in Kerstins Leben gewesen war, bei dem sie sich wohl gefühlt hatte. Der sie nicht abwies sondern sie zu sich aufnahm.

Er hatte sich sogar kurz nach der Therapie einmal sehr heftig mit ihrem Vater gestritten. Er war bei ihr zu Besuch gewesen, die Mutter hatte Tee und Kuchen gemacht. Auf einmal, total aus dem Zusammenhang gerissen, hatte der Vater gefragt, wo sich Kerstin in der Nacht davor wieder herumgetrieben hätte. Sie hatte geantwortet, sie wäre erwachsen, und es ginge ihn nichts an. Wütend hatte er ihr unvermittelt die glücklicherweise nur noch lauwarme Tasse Tee ins Gesicht geschüttet.

Einfach so.

Die Mutter hatte ein Handtuch geholt und hatte damit das Gesicht ihrer Tochter abgetrocknet. Aber sie hatte geschwiegen und der Vater hatte die Frage wiederholt. Und da hatte sich Tims Beschützerinstinkt gemeldet. Er war aufgesprungen, hatte den Alten angesehen und hatte in einem drohenden Tonfall gesagt:

"Das machen sie nie wieder mit meiner Freundin!"

Der Vater hatte zuerst ihn, dann seine Tochter, dann wieder ihn angesehen. Dann hatte er "Raus ihr beiden! Ich will euch nie wieder hier sehen!" geschrien und mit seiner Kuchengabel nach Tim geschmissen.

"Wo soll ihre Tochter denn hin?", hatte Tim zurückgeschrien.

"Das ist mir scheißegal!", hatte der Vater gebrüllt.

Die beiden waren getürmt, und sie hatte dann einige Zeit in der Wohnung von Tims Eltern wohnen dürfen. Tim war sehr stolz auf seine Familie gewesen. Wie unkompliziert seine Eltern und sein Bruder mit diesem neuen "Familienmitglied" umgegangen waren, das hatte ihn beeindruckt. Außerdem war er stolz auf sich selber gewesen, dass er sie vor ihrem Alten beschützt hatte.

Nach einiger Zeit hatte Kerstin dann zuerst einen Job und dann einen Dachboden zur Untermiete gefunden und war seitdem nie wieder bei ihren Eltern gewesen.

 

Und jetzt wollten sie endlich zusammenziehen, aber Tim hatte es vermasselt. Er hatte ihr nahegelegt abzuhauen! Hätte es in seiner Wohnung noch etwas gegeben, das er aus Wut hätte kaputthauen können, er hätte es getan. Aber alle anderen Gegenstände um ihn herum waren ihm einfach zu teuer. Und so entschied er sich, ebenfalls die Wohnung zu verlassen. Wohin wusste er in dem Moment noch nicht.

 

Und auch Kerstin wusste nicht, wohin sie nun fahren sollte. Sie fuhr in einem alten Fiat Panda, dessen Tankfüllung fast leer war. Sie würde nicht mehr weit kommen. Sie überlegte, ob sie zu sich nach Hause fahren sollte, aber sie hatte Angst, dass Tim entweder vorbeikommen oder bei ihr anrufen würde. Und beides wollte sie nicht. Sie wollte jetzt alleine sein, wollte zuerst ihre Enttäuschung verarbeiten. Wo sollte sie denn jetzt hinfahren?

Sie fror, obwohl es gar nicht so kalt war draußen. Sie fror innerlich, weil sie gerade ihre Lebenssicherheit verloren hatte. Sie war sich bis gerade sehr sicher gewesen, dass Tim und sie noch eine lange, glücklich Zeit miteinander verleben würden. Gut, sie hatte gemerkt, dass er etwas auf dem Herzen hatte, und sie wusste auch instinktiv, dass es nichts mit ihr und auch nichts damit zu tun hatte, dass er eine andere gefunden hatte. So unehrlich war er nicht. Sie wusste, dass in seinem Kopf eine Menge Selbstzweifel vorhanden waren, und ihr war oft aufgefallen, dass er sich in ihrer Gegenwart verstellte. Sie hatte ihn da gerade in einer Situation erwischt, in der er sich vor ihr nicht mehr hatte verstellen können. Das hatte ihn bestimmt getroffen, aber er hätte – verdammt noch mal - in der Lage sein müssen, darüber nachzudenken, dass er sie mit der Aussage, sie sollte abhauen, auch treffen würde.

Und sie war getroffen worden! Sie hatte das Gefühl, dass gerade ihr Leben vorbeigegangen war. Sie empfand Haß, und sie vermischte in ihrer Vorstellung Tims Stimme mit der ihres Vaters, Tims Gesicht mit dem ihres Vaters, Tims Augen mit denen ihres Vaters. Am liebsten hätte sie zuerst ihren Vater, dann Tim, dann sich selbst umgebracht.

Mit einer abgesägten Schrotflinte.

Buuum!

Oder eine Bombe auf die ganze Stadt geworfen.

Buuum!

Oder Tim einfach nur mit einem Regenschirm bearbeitet.

 

Sie fuhr eine Zeit mit 80 durch die Stadt, ohne zu wissen, wo sie überhaupt hinfahren wollte. Sie wollte jetzt einfach nur ein bißchen rasen, vielleicht auch einen Unfall bauen, so einen richtigen Totalschaden.

Buuum!

Das wäre jetzt was!, dachte sie sich.

Aber dann wurde ihr klar, wo sie hinfahren würde: zuerst zum Supermarkt, wo sie etwas ganz Spezielles kaufen würde. Dann würde sie zu ihrer einzigen guten Freundin fahren, würde sie überreden, sich für morgen einen Krankenschein zu nehmen, und dann würde sie das Zeug aus dem Supermarkt mit ihr verzehren.

Es ging hier um Alkohol, um Schnaps.

Sie würde saufen, bis sie kotzen müsste, das erschien ihr glasklar.

 

In Tims Bewusstsein hatte es den EntSchluss, sich zu besaufen, vorher nicht gegeben. Es hatte sich so ergeben.

Er saß in einer Kneipe, in der er vorher noch nie gewesen war. Von deren Existenz er noch nicht einmal gewußt hatte. Die Kneipe war sehr voll, und es fiel gar nicht auf, dass Tim sturzbetrunken an der Theke saß.

"Äh, Kellner?", murmelte er.

Der Kellner sah zu ihm herüber.

"Was gibt’s?"

"Komm mal her."

Der Kellner ging zu seinem Platz an der Theke. Tim zog ihn am Revers über die Theke auf seine Seite.

"Kennst du die Boxhamsters?"

"Äh, nein."

"Ist auch egal. Die haben so ein Lied gemacht. Das geht so: ‘Für die Hoffnung, wenn dir nur noch einer bleibt, steht im Schrank ein wirklich guter Freund bereit...’ Da geht’s um Alkohol, mein Freund. Und da haben die Boxhamsters Recht."

"Ja.", sagte der Kellner. "Soll ich dir ein Taxi rufen? Du siehst schlecht aus."

"Nicht nötig. Ich sauf lieber noch einen hier."

Er soff noch mehrere in dieser gemütlichen Kneipe, die so schön warm und voll war. Erst als sie ihn dann hochrissen und sagten, sie würden gleich dicht machen, schleppte er sich auf sein Füße und nach draußen an die frische, etwas kältere Nachtluft. Er machte sich auf den Heimweg.

 

"Morgen besuche ich mal meine Eltern.", erzählte er der Nacht. Dann fing er an, dieses Lied zu singen.

"Für die Hoffnung, wenn dir nur noch einer bleibt..."

Immer wieder, immer wieder von vorne. Zwischendurch nahm er mal einen Stein und warf ihn durch die Gegend. Oder er rannte eine Mülltonne um und verursachte damit einen riesen Krach. Oder er stolperte, fiel hin und schrie dann auf dem Boden weiter.

Das ging so lange, bis plötzlich ein grün-weisses Auto neben ihm stand. Ein grüner Mann stieg aus und beleuchtete ihn mit einer Taschenlampe.

"Guten Morgen, Herr Oberwachtmeister.", sagte Tim flüssig.

"Guten Morgen, Herr...?"

"Habermann, Tim Habermann. Doktor Tim Habermann. Doktor Bundeskanzler Tim Habermann. Was rede ich hier überhaupt? Kann man denn so besoffen sein?" Tim faßte sich an den Kopf, denn der Kater kam diesmal früh. Hätte ihn in diesem Moment jemand angerufen und ihm ins Ohr gepfiffen, hätte Tim eingesehen, wieso Gerd Eggers am Morgen noch den Hörer aufgelegt hatte. Gerd übrigens lag in diesem Moment im Bett und hatte das Gefühl, gleich einen epileptischen Anfall zu bekommen.

"Dann stehen sie mal auf, Herr Bundeskanzler. Wir bringen sie nach Hause.", sagte der Polizist, der jetzt gerade viel lieber bei seiner Frau gewesen wäre, als sich mit einem Besoffenen zu beschäftigen.

"Aber ich habe kein Zuhause. Aber sie können mir dabei helfen, von der Autobahnbrücke zu springen. Dann bin ich im Himmel zu Hause.", heulte Tim los.

"Gut, sie haben mich überredet. Dann bringen wir sie eben in die Ausnüchterungszelle, bevor sie sich oder anderen tatsächlich noch etwas antun."

"Bringt mich dahin, wo ihr wollt. Ihr könnt mich ruhig ein bißchen befördern, ich zahle schließlich euren Lohn." So einen Blödsinn hatte Tim noch nie von sich gelassen, und das Schlimmste war, dass er das selbst in diesem deliriumnahen Zustand noch merkte und nichts dagegen tun konnte.

"Ja, ja, erzählen sie ruhig. Morgen haben sie dann auch ihre Kontrolle wieder, dann können wir uns weiter darüber unterhalten, ob sie meinen Lohn bezahlen oder nicht."

 

Währenddessen heulte sich Kerstin gerade bei ihrer besten Freundin Paula aus. Beide lagen sie auf Paulas Bett, hatten sich gegenseitig im Arm und heulten zusammen, während die unbemerkt umgefallene, offene Wodka-Flasche langsam den schönen Teppich von Paula durchtränkte.

Demnächst mal wieder zu IKEA fahren!, würde Paula sich nächsten Morgen denken.

 

 

 

Der innere Kämpfer

 

 

Ein paar Tage später. Er saß in seinem Auto, parkte es gerade rückwärts in eine enge Parklücke. Hätte Tim hinter dem Auto gestanden, hätte er sehen können, dass das Licht, das anzeigte, dass man rückwärts fuhr, kaputt war - und hätte sich damit eine Geldstrafe ersparen können, von der er jetzt allerdings noch nichts wusste.

Dieselbe Parklücke wie vor zehn Jahren, dachte er und war mal wieder hoffnungslos wehmütig dabei. Wehmütigkeit mochte ja ganz gut sein, wenn man es nicht übertrieb, aber selbst Tim fand, dass er in dieser Zeit viel zu oft viel zu wehmütig gewesen war, so dass es schon fast an inneren Depressionen grenzte. Und das konnte er überhaupt nicht für gut befinden, versuchte oft, sich dagegen zu wehren. Aber heute schien es wieder mal über ihn zu kommen.

Ja, es war tatsächlich dieselbe Parklücke, in die damals auch sein Vater eingeparkt hatte. Trotzdem, irgendwie war alles anders. Es war nicht dasselbe Auto, nicht derselbe Fahrer. Sie waren nicht zu dritt, sondern Tim war alleine. Alleine vor dem Haus, in dem der größte und wahrscheinlich auch einzige Umkrempelungsprozeß in seinem bisherigen Leben stattgefunden hatte.

Tim stieg aus. Er hatte seine langen Haare mittlerweile gegen einen normalen Kurzhaarschnitt eingetauscht. Sein Bauch hatte sich gefestigt, war aber noch in einem ertragbaren Rahmen. Hätte man den heutigen, erwachsenen Tim dem Tim gegenübergestellt, der er damals gewesen war, als Mama und Papa noch auf ihn aufgepaßt hatten, sie hätten sich vielleicht gar nicht leiden können. Denn der heutige Tim war erfahrener, nicht mehr so hoffnungsvoll sondern eher zu realistisch eingestellt, nicht mehr so naiv und verschüchtert, aber auch nicht mehr so einfach glücklich zu machen.

Kerstin war gegangen, nicht wegen seines Stotterns, sondern weil sie es nicht hatte haben können, dass er sich solche Selbstvorwürfe gemacht hatte. Er hatte in den letzten Monaten nur noch seine eigenen Probleme mit sich selbst gesehen, nicht aber, dass er immer noch eine verdammt nette Freundin hatte.

Tim war traurig und fühlte sich einsam. Er zündete sich eine Zigarette an, klopfte seinem Auto - ähnlich wie es im Western der Cowboy bei seinem Pferd tut - einmal kurz auf die Motorhaube und marschierte dann los.

Manchmal hatte er Angst, es würde ihn mal so richtig auffressen, so wie es schon einmal fast passiert wäre. Manchmal ließ ihn diese Angst tagelang nicht los, da konnte er dann auch nichts dagegen machen. Er erinnerte sich oft an diese Zeit, in der er so naiv glücklich gewesen war. Herr Rawe hatte die Gruppe gegen Ende der Therapie hin fast jeden Tag gewarnt, davor, dass sie nicht geheilt waren und aufpassen müssten, dass sie nicht eines Tages von einem unkontrollierten Block erwischt würden, der sie dann wieder in die Tiefe reissen würde. Er hatte immer gesagt, es sei nicht schlimm, von diesem erwischt zu werden, es sei aber schlimm, damit nicht zu rechnen. Tim war erwischt worden, und Wellenbrecher Nr. 3 - zu sagen: na, und? - er hatte nicht funktioniert. Denn noch im selben Moment war alles wieder da gewesen. Alle Ängste, alle Selbstzweifel, alle Mutlosigkeit, und im Endeffekt auch alles Stottern. Er hatte lange Gespräche mit seinen Eltern und auch mit seinem älteren Bruder geführt. Sie hatten versucht, ihn wieder aufzubauen, hatten es auch fast geschafft, dann aber war er wieder so tief unten gewesen, dass er es fast nicht mehr ausgehalten hatte. Bereits sein mündliches Abitur hatte er unter erheblichen Anstrengungen gerade mal mit einer ‘3’ bestanden, obwohl er mehr gewußt hätte, als er hatte sagen können. Es war nicht so, dass sie ihm keine Zeit gelassen hätten, er hatte nur keine Kraft mehr gehabt, noch mehr zu sagen. Er war körperlich zu erschöpft dazu gewesen.

Tim ging den Weg zu dem Haus, in dem das alles stattgefunden hatte, hinauf. Er konnte bereits das einstige Zimmerfenster von den beiden - Sven und ihm - erkennen. Es war ein so bewegender Augenblick, dass Tim auf einmal wusste, dass er diesen Tag nur sehr schwer mit zwei trockenen Augen hinter sich bringen würde. Was hier alles passiert war, unglaublich! Ob er so eine intensive Zeit jemals wieder in seinem Leben erleben würde? Ob er jemals noch einmal so fühlen würde? Ob er jemals mit einem Mädchen so eng zusammenleben und sie lieben würde, ohne Sex mit ihr zu haben?

Die Kippe flog nach hinten und blieb auf dem Pflaster liegen, wo sie wahrscheinlich recht bald ausglühen würde. Er öffnete die Tür und war wieder Kind. Fühlte sich wieder ein bißchen so wie ganz am Anfang. Er steuerte nach links, öffnete die Tür der Station, und der erste Mensch, den er sah, war Herr Rawe. Er stand gerade mitten im Flur und las sich eine Akte durch. Er hatte sich einen dichten Vollbart wachsen lassen, trug eine Brille. Ansonsten sah er aber immer noch so dynamisch und einsatzbereit aus wie vor 10 Jahren. Das musste ihm erstmal jemand nachmachen. Als die Tür zur Station aufging, sah er auf.

"Herr Habermann!", sagte er überrascht aber ohne zu überlegen, woher er dieses Gesicht kannte.

"Guten Tag, Herr Rawe. Ich wollte mich mal wieder hier sehen lassen. Ist alles schon so lange her." Er gab Herrn Rawe die Hand.

"Da haben sie Recht!", sagte Herr Rawe und musterte Tim eine Weile mit einem erfreuten Auge. Dann redete er weiter.

"Passen sie auf: ich habe hier noch ein oder zwei Sachen zu tun. Wenn ich das fertig habe, komme ich zu ihnen, dann können sie mir erzählen, wie es ihnen in den letzten Jahren ergangen ist. Wollen sie sich so lange zu den anderen setzen?"

"Gerne. Wie weit sind die denn jetzt?"

"Zweite Phase, kurz nach der Wort-für-Wort-Technik."

 

Tim trat gedanklich kurz weg, einer der unzähligen kurzen Aussetzer seiner Aufmerksamkeit, in denen er sich ganz den verworrenen Wegen seiner Gedanken widmete. Was waren das noch für Zeiten, als er noch in der Phase II war. Wahnsinn! Und noch wahnsinniger fand er, dass Herr Rawe ihn gleich erkannt hatte. Daran konnte er mal wieder sehen, weswegen der Therapeut seine Arbeit machte: um anderen Stotterern zu helfen. Schön, dass es so etwas noch gab!

27 war Tim jetzt, hatte sein Studium beendet, hatte mit seiner Freundin zusammenziehen wollen, bis sie ihn dann verlassen hatte. Seit fünf Jahren war er nicht mehr hier gewesen, keine besonders lange Zeit, aber für Tim war so viel passiert in diesen fünf Jahren. Er wohnte jetzt immerhin schon lange nicht mehr zu Hause, war berufstätig - hatte also den gesellschaftlichen Ernst des Lebens schon erkannt - und fühlte irgendwie auch anders als damals. Er war vielleicht reifer geworden, hatte sein Gefühlsleben nun eher im Griff als in dieser schwierigen Zeit damals, abgesehen natürlich von der Trennung von seiner Kerstin. Die ihn fertigmachte.

 

In dem Vorzimmer, in dem vor zehn Jahren alles angefangen hatte, saßen insgesamt vier Leute: zwei junge Frauen und zwei junge Männer. Alle vier so um die 20. Der eine unterhielt sich - trotz der langsamen Sprechweise - sehr angeregt mit einer der beiden Frauen. Spontan sah sie für Tim wesentlich netter aus als die andere, die etwas gelangweilt in der Ecke saß und in einer Frauenzeitschrift blätterte. Allegra.

Die beiden Gesprächigen schienen sich sehr zu mögen, und Tim musste unvermittelt daran denken, was es heißen konnte, wenn man sich in so einer intensiven Zeit anfreundete. Leider wusste er auch, dass nach dieser Zeit alles vorbei sein konnte, wenn man sich nicht wirklich ungeheuer viel Mühe gab.

Der junge Mann redete und das Mädchen hörte ihm ehrlich interessiert zu. Es ging um’s Motorradfahren. Die Allegra-Lesende war krampfhaft vertieft in ihren Geschichten über Make-Up, Lady-Fitness, Dinge eben, die alle weiblichen Vertreter der Menschheit wahrscheinlich genauso sehr interessieren, wie alle Männer sich für Fußball aufopfern oder alle Deutsche im Allgemeinen nur Sauerkraut essen und so weiter. Dieses Mädchen erfüllte jedoch dieses Klischee, und sie schien dabei auch gar kein schlechtes Gewissen zu haben. Drei Stühle weiter hockte ein äußerst schlanker, bebrillter Mann, der aber eher wirkte wie ein Schuljunge. Er lugte, weil er sich unbeobachtet glaubte, über seiner Brille hervor, und musterte das Mädchen, das gerade die neuesten femininen Trends in sich einsog, als wäre ihr Leben davon abhängig. Er fand sie wohl attraktiv und wollte sie einmal so richtig lange ansehen, um sich ihre körperlichen Vorteile anzusehen. Für Tim war sie einigermaßen uninteressant, schon deswegen, weil sie dieses Trendblättchen in diesen Minuten zu ihrem Lebensmittelpunkt erklärte.

Die beiden, die sich unterhielten, wurden auf einmal auf Tim aufmerksam, der in der Mitte des Raumes wie eine Statue stand und nicht wusste, wie und ob er sich bemerkbar machen sollte.

"Hallo!", sagte das Mädchen. "Wer bist du?"

"Ich bin der Tim.", sagte Tim in einer überraschenderweise sehr betonten und kontrollierten Weise.

"Ich habe vor zehn Jahren diese Therapie gemacht. Vor fünf Jahren war ich zum letzten Mal hier zu Besuch. Ich bin gerade in keiner guten Phase, und habe mich entschlossen, mal spontan vorbeizukommen, um wieder neue Motivation zu atmen." Das alles sagte er wirklich sehr kontrolliert und es gelang ihm tatsächlich, seine Stotterhürden zu überspringen, indem er ihnen mit einer weichen Stimme begegnete. Endlich konnte er mal wieder locker reden. Was für eine riesen Entlastungen für seinen armen, gestressten Körper.

"Das ist ja interessant.", sagte der Junge. "Warum schlechte Phase? Hast du nicht genug geübt?"

Tim setzte sich auf einen der freien Stühle, so als sei es sein angestammter Platz, auf dem er in den letzten 10 Jahren immer gesessen hatte. Er senkte den Blick, überlegte, was er antworten sollte. Er schüttelte lange seinen Kopf, so dass es nach einiger Zeit schon so aussah, als habe er einen nervlichen Kick, der ihn dazu verleitete, mit dem Kopf zu schütteln. Aber dann sah er den Jungen wieder an, und ließ seine zehnjährige Erfahrung sprechen:

"Die ersten Jahre habe ich täglich geübt, aber glaube mir, es hängt nicht vom Üben ab. Bei mir zumindest nicht. Die Leute denken alle, ich bin faul, träge und so weiter, weil ich nicht übe. Aber ich sage ihnen ständig, dass ich anfangs sehr viel geübt habe. Außerdem kann ich die Techniken ja auch noch. Ich habe sie drauf und kann sie ja jetzt gerade zum Beispiel auch gut anwenden; aber darauf kommt es wie gesagt nicht an. Es kommt darauf an." Dabei zeigte er mit Zeige- und Mittelfinger auf seinen Kopf, der sich in letzter Zeit so alt anfühlte.

"Auf deine Gedanken. Du kannst noch so fit sein, in dem, was du übst - was weiß ich, in deiner Lieblingssportart, in irgendwelchen künstlerischen Dingen oder so - aber wenn dein Kopf dir sagt, du kannst es nicht, dann kannst du es nicht. Ich vergleiche das immer mit einer Schlägerei, in die ich in meiner Jugend öfter mal verwickelt gewesen bin: wenn der Straßenschläger schon vor dem Kampf der mentale Gegner ist, dann hast du schon verloren, bevor sich irgendjemand auch nur im Ansatz bewegt hat. Also entweder du zeigst dem anderen schon vorher, wer der Boß ist, oder du kannst schonmal die 20 Mark Beförderungsgebühren ins Krankenhaus - oder was das kostet - von deinem nächsten Taschengeld abrechnen. Ich habe leider versäumt, meinem Stottern zu zeigen, wer der Boß ist."

"Das heißt, du kommst mit deiner Psyche nicht klar? Wenn dein Kopf das einzige ist, was einem besseren Sprechen im Wege steht, warum machst du denn dann keine Psychotherapie?", fragte das Mädchen in einem eher analytischen Tonfall.

"Ach, weißt du irgendwann kommt mal der Zeitpunkt, an dem man sich denkt: laß gut sein! Soll das Stottern doch machen, was es will. Ich habe einfach keine Lust mehr, mich noch einem weiteren Therapeuten anzuvertrauen, der in meiner Psyche herumdoktort und sowieso nur wieder alles kaputt macht. Denn ich weiß mittlerweile eh mehr übers Stottern und die Psyche von Stotterern als es irgendein Psychologe weiß. Der einzige Therapeut, der wahrscheinlich immer noch so gut bescheid weiß wie ich, das ist der bärtige Mann dort drinnen." Tim zeigte dabei in die Richtung des Besprechungszimmers. "Das war aber auch gleichzeitig der letzte Mann, dem ich es erlaubt habe, sich in mein Leben einzumischen. Denn die meisten Therapeuten wollen ja eh nur Geld verdienen, aber meine Synapsen sollen keine Geldquelle sein. Für niemanden."

"Das klingt aber sehr resigniert.", sagte das Mädchen.

"Nein, das soll es nicht. Es ist nur leider die Realität."

Kurzes Schweigen.

"Und jetzt? Was hast du vor?", fragte der Junge.

"Ich weiß es nicht. Ich habe lange versucht, vor meinen Gedanken zu flüchten. Bin in der Gegend herumgefahren, habe Freunde besucht, nur, um nicht alleine zu sein. Dabei habe ich nicht gemerkt, dass ich dabei jemanden alleine lasse, nämlich meine Freundin. Die hat mich dann verlassen, und jetzt lebe ich alleine im Pott und weiß momentan nicht so richtig, in welche Richtung ich weitergehen soll. Daher wollte ich mal wieder dahin zurück, wo alles angefangen hat."

"Was machst du denn sonst so?", fragte der Junge.

"Übersetzen. Ich habe ein paar Sprachen studiert und nebenbei noch Film- und Fernsehwissenschaften. Und dann bin ich über ein paar Umwege zu dem Beruf gekommen, der vielen Menschen dient, den aber kaum jemand kennt: Übersetzer eben. Für Kino und Fernsehen und manchmal übersetze ich auch mal einen Roman oder so."

"Und? Macht das Spaß?", fragte der junge Mann interessiert.

"Ich finde, die Sprache ist eine der wichtigsten und interessantesten Errungenschaften der Menschheit. Ich finde es schön, mit Sprache zu arbeiten. Manchmal ist es ziemliche Kleinarbeit, einen Film zu übersetzen, aber erstens tue ich das ja nicht alleine sondern im Team und zweitens erfüllt es mich mit Stolz, wenn die deutschen Synchronstimmen dann meine Worte benutzen. Wenn ich es schon nicht selber kann, kann ich anderen wenigstens dabei helfen."

"Wärest du gerne eine Synchronstimme?"

"Ich wäre gerne Schauspieler, so’n richtig berühmter, der dann bei Harald Schmidt oder Zimmer Frei! auftritt und jeden Scheiß erzählen kann, der ihm einfällt. Aber ich wäre auch gerne Synchronstimme. In beiden Berufen kann man aus sich herauskommen, sich in eine andere Rolle fallenlassen. Glaube ich. Vielleicht stimmt das auch gar nicht."

So unterhielten sie sich noch etwas länger.

 

Irgendwann kam Herr Rawe aus dem Besprechungszimmer und steuerte auf Tim zu.

"Herr Habermann, tut mir leid, hat doch etwas länger gedauert. Sie hätten sich anmelden sollen, dann hätte ich meine Arbeit so einteilen können, dass ich für sie einen ganzen Tag Zeit habe."

"Ja, ich hätte mich anmelden können. Aber die Wahrheit ist, dass ich mich vorhin in mein Auto gesetzt habe und gar nicht wusste, wohin ich fahre. Auf einmal stand ich auf dem Klinikparkplatz und erst dann fiel mir auf, dass ich das innere Bedürfnis verspürt hatte, mal wiederzukommen."

"Wahnsinn, wozu einen das Unterbewusstsein verleiten kann, nicht wahr? Ich freue mich auf jeden Fall, sie wiederzusehen. Und sie haben bestimmt eine Menge zu erzählen, nicht wahr?"

"Ist viel passiert in den letzten Jahren, ja."

"Würden sie den aktuellen Patienten gerne ihre Geschichte erzählen? Heute Nachmittag?"

"Äh, ja, warum nicht. Ist bestimmt gar nicht schlecht, sie in ihrer warnenden Funktion etwas zu unterstützen, denn all ihre Warnungen waren berechtigt, Herr Rawe."

Der Therapeut sah auf Tim herab und es sah erst so aus, als hätte er einen Stotterblock. Aber dann nickte er nur und sagte:

"Ich weiß, Herr Habermann."

 

Zwölf Patienten, ein Therapeut, zwei Mitarbeiterinnen, eine Praktikantin. Ein sehr gewohntes Bild, obwohl es schon lange her war, dass Tim dieses Bild zum letzten Mal vor sich gesehen hatte. In seiner Erinnerung war es dennoch stets dagewesen. Es sah alles gleich aus: die Bilder an der Wand, die Fliesen auf dem Boden, der Blick aus dem Fenster, die Patienten. Das einzige, was älter aussah, das waren die Gesichter des Therapeuten und der Mitarbeiterinnen.

Tim sah noch einmal in die Runde: insgesamt 16 Menschen, die darauf warteten, dass Tim ihnen berichtete, wer er war und vor allen Dingen, wer er mal gewesen war.

"Dann schieß mal los, Tim!", sagte Frau Föhring, die - wie Tim gerade noch von dem netten Mädchen gehört hatte - Oma geworden war. So schnell konnte das gehen.

Es fühlte sich für Tim gut an, dass sie nicht "Herr Habermann" sondern "Tim" gesagt hatte. Das gab ihm das Gefühl, dass das alles doch noch nicht so lange her war.

 

Er holte Luft und begann seine lange Rede:

 

"Also: mein Name ist Tim, Tim Habermann. Ich bin 27 Jahre alt und habe vor ca. 10 Jahren hier ebenfalls eine Therapie gemacht. Und wir haben damals genauso in der Runde gesessen und einem Ehemaligen zugehört, aber geglaubt haben wir ihm kein Wort. Er hatte uns damals gewarnt vor einem Rückfall. Ha, Rückfall!, haben wir gedacht. Was denn für ein Rückfall? Rückfälle erleiden doch nur die, die nach der Therapie nicht mehr üben! Falsch! Aus unserer Gruppe damals hat eigentlich jeder einen Rückfall erlitten und ca. einem Drittel von uns geht es jetzt genauso wie vorher. Zumindest sprachlich gesehen. Psychisch geht das gar nicht, denn schließlich haben wir alle in und nach der Zeit unseren Erfahrungshorizont um Kilometer erweitert. Wir haben begriffen, dass wir nicht die einzigen auf dieser Erde sind, die Probleme mit ihrem Stottern - beziehungsweise überhaupt Probleme - haben. Viele von uns sind nachher einer Selbsthilfegruppe beigetreten. Ich auch, aber ich muß gestehen, dass ich momentan keine Lust mehr darauf habe. Mich nervt dieses lange Reden ohne Handlungen. Vielleicht kommt das ja wieder.

Aber von vorne:

Ich habe nicht vor, euch zu erzählen, wie ich mich sprechmäßig entwickelt habe. Ich habe mich nämlich gar nicht entwickelt, es ist nach wie vor so, dass ich entweder richtig gut oder richtig schlecht spreche - es gibt bei mir keine Graustufen. Und daher erzähle ich euch lieber etwas über die Entwicklung meiner Gedanken, die ganz klar auch das Sprechen beeinflussen.

Ich war wie gesagt 17, als ich hier - zusammen mit meinen Eltern - als kleiner, verschüchterter Junge hereingekommen bin. Ich weiß noch jede Einzelheit an diesem Tag: dass ich geschwitzt habe wie ein Schwein, weil es so wahnsinnig heiß war. Dass ich mich nicht getraut habe, mit einem von den anderen ein Gespräch anzufangen. Dass ich bestimmt 30 Liter Kaffee an diesem Vormittag getrunken habe. Ich weiß auch noch, dass ich meinen Zimmerkollegen zuerst überhaupt nicht riechen konnte, weil der mir so arrogant vorkam. All das ist mir noch sehr gut in Erinnerung, und wenn ich ehrlich bin: eine so lange Zeit sind 10 Jahre nun auch nicht. Aber das werdet ihr ja noch selber sehen.

Ich habe am Anfang der Therapie sehr große Fortschritte gemacht. So war ich nach einer Woche ausnahmslos flüssig, was noch lange nach der Therapie anhielt. Ich hätte nie geglaubt, dass es mir noch einmal so gehen würde wie vor der Therapie.

Vor der Therapie, wie war ich da? Das ist etwas, das ich gar nicht mehr so richtig weiß. Daran kann ich mich nicht mehr so lebhaft erinnern, vielleicht weil ich es auch gar nicht mehr will. Ich weiß, dass ich mich selber überhaupt nicht mochte, ich weiß, dass ich am liebsten aus meinem eigenen Leben geflohen wäre. Ich weiß, dass ich vor der Therapie überhaupt nichts über das Stottern gewußt hatte, was mir eine riesen Angst einjagte. Und das, obwohl ich vorher bereits andere Therapien gemacht hatte. Zum Beispiel war ich vorher sechs Jahre lang bei einer Psychologin. Das war allerdings etwas, das ich lieber nicht getan hätte. Denn es kann überhaupt nicht gut sein, mit einem Kind in der Pubertätszeit eine tiefenpsychologische Gesprächstherapie durchzuführen. Ich glaube, dass das der Grund ist, weswegen meine Psyche heute so angeknackst ist. Das heißt nicht, dass ich jemandem davon abraten will, eine Gesprächstherapie zu machen. Nur man sollte sich selber kennen und wissen, was man will, bevor man sich dazu entscheidet, sich innerlich auseinandernehmen zu lassen. Ich wusste damals noch nicht, wer ich war - und im Prinzip weiß ich es manchmal heute auch noch nicht. Vielleicht ist das dieses sagenumwobene helle Licht, in das man tritt, wenn man sich von allem Irdischen verabschiedet: Selbsterleuchtung am Lebensende! Aber zurück zum Thema:

Ich habe lange Zeit gedacht, dass der Zustand, in dem ich vor der Therapie gewesen bin, etwas Verwerfliches, ganz Böses war. Ich glaube, dass auch das ein Fehler war, denn ich habe versucht, mit meiner bösen Vergangenheit für immer abzuschließen - was nicht geht, denn ich war ja immerhin sehr lange dieser Mensch, und ich bin immer noch dieser Mensch. Aber das verstehe ich komischerweise erst seit einigen Wochen, seitdem meine Freundin nicht mehr da ist. Sie ist unter anderem deswegen gegangen, weil sie gemerkt hat, dass ich in einer Identitätskrise bin, aus der ich mir von ihr nicht heraushelfen lassen wollte. Ganz im Gegenteil: ich habe gedacht, sie wäre gegen mich, weil sie oft versucht hat, mir in den Arsch zu treten. Ich habe mich mit ihr gestritten, ihr gesagt, sie soll mich in Ruhe lassen, und sie hätte sowieso keine Ahnung vom Stottern und all den Dingen, die damit zusammenhängen. Ich habe ihr zum Schluss gesagt, sie sollte abhauen. Was ich nicht wollte.

Die Identitätskrise bestand und besteht eben darin, dass ich schon lange merke, dass diese Person, die ich vor der Therapie war - dass ich die immer noch bin. Ich bin immer noch der Junge mit der großen Angst vorm Telefonieren, mit dem unzuverlässigen Selbstbewusstsein, mit dem starken Stottern. Ich wollte und will das aber nicht wahrhaben und habe das leider an meinen Mitmenschen ausgelassen. Ich wusste nicht, ob meine Freundin auch mit dieser hassenswerten Person, die ich vor der Therapie gewesen bin, zusammenleben wollte oder nicht. Natürlich hätte sie das gewollt.

Das ist etwas, wovon ich glaube, dass ich das unbedingt wieder gut machen muß. Denn langsam begreife ich, was hier los ist: da hat sich etwas in meine Gedanken eingeschlichen, das gegen mich arbeitet, in dem es mir sagt, dass diese Person, die ich früher einmal war, nichts wert ist, und dass ich mich von ihr distanzieren muß. Da ich diese Person aber noch bin, bzw. da ich sie immer war und nur aus meiner Vergangenheit heraus zu dem werden konnte, der ich heute bin, will dieser Denkfehler nun auch gegen meine heutige Existenz vorgehen. Daran habe ich im Moment am meisten zu knacken. Ich weiß nicht, ob ihr versteht, was ich meine? Aber ich erzähle erstmal weiter, und am Schluss könnt ihr dann ja noch einmal nachfragen, wenn ihr etwas nicht verstanden habt.

Ich war also vorher jemand, der sich nicht besonders viel zugetraut hat. Aber ich war auch immer schon jemand, der verdammt stark gewesen ist. Das Mädchen da draußen, dessen Vater bisher ein Topmanager in Firma X gewesen ist, das Mädchen, das sich alles leisten konnte, weil Papa ihr so viel Taschengeld gegeben hat, das Mädchen, das völlig problemlos und unbeschwert aufgewachsen ist - ihr kennt solche Leute bestimmt auch, oder? Die treten dann mit 25 in irgendwelchen Fernsehshows auf und erzählen, wie stressig die Anreise doch mal wieder gewesen ist. Aber mal ehrlich: das erste etwas größere Problem wird dieses zarte, wohlbehütete, ohne Probleme aufgewachsene Mädchen umbringen. Das ganze ist natürlich nicht nur auf Mädchen beziehungsweise Frauen gemünzt sondern auch auf Jungs beziehungsweise Männer. Leute, die ganz ohne Probleme aufwachsen, reagieren völlig kraftlos auf neue Probleme. Sie denken, die Welt geht unter. Aber ich - und wahrscheinlich ihr auch - habe und hatte immer schon eine starke Kraft in mir, die mich davon abhielt, meinem Leben ein Ende zu bereiten. Was auch immer diese Kraft physiologisch ist, ich weiß, dass es sie gibt und ich das Glück habe, sie zu besitzen. Ich glaube, dass mich kaum etwas richtig umschmeißen kann, weil ich schon so vieles gewöhnt bin. Und damals auch schon. Die Leute haben immer gesagt, ich soll mich nicht so hängen lassen, wenn ich mal traurig war. Aber sie haben nie verstanden, dass ich mich nicht habe hängen lassen, nur weil ich traurig war. Ich hätte mich hängen lassen, wenn ich Schluss gemacht hätte - und ich bin mir sicher, diese Leute, die mich so großkotzig von oben angemault haben, die hätten sich richtig hängenlassen. Ich habe durch meine Traurigkeit nur für neue Gefühle Platz geschaffen.

Das heißt, eigentlich war ich stärker als alle anderen, habe aber durch mein starkes Stottern den Eindruck gemacht, dass ich schwächer war. Und viele haben das auch für sich ausgenutzt, und ihr könnt mir glauben: ich liebe die Welt nicht dafür. Aber ich hasse sie auch nicht mehr.

Ich dachte, ich wäre als kleiner Junge in die Therapie gegangen und als starker Held aus hier herausgegangen. Aber ich war schon immer ein Held, nur dass der Held in mir in der Zeit vorher nicht ganz so im Vordergrund gestanden hat. Da mir das aber nicht klar war, habe ich gedacht, dass der Held für immer tot sei, als der Rückfall kam.

Was ich euch mit auf den Weg geben will: ihr seid wahrscheinlich alles Helden. Trotzdem wird bei vielen von euch höchstwahrscheinlich - ihr müsstet schon großes Glück haben, wenn nicht - der sprachliche als auch der mentale Rückfall kommen. Ihr werdet mir nicht glauben und deswegen nicht damit rechnen, und weil ihr nicht damit rechnet, wird es um so schlimmer. Denn der Rückfall wird auf jeden Fall kommen, wichtig ist nur, wie ihr damit umgeht. Ihr solltet niemals vergessen, dass ihr dieses starke Etwas in euren Seelen habt, und dass das eine gute Macht ist, die der bösen entgegenwirkt. Weder auf die gute noch auf die böse Macht in euch könnt ihr Einfluß nehmen, denn sie sitzen zu tief als dass ihr sie mit eurem Bewusstsein erfassen könnt. Aber beide sind da, und oft scheint es so, als hätte die böse gewonnen. Ihr müßt zusehen, dass ihr euch mit der guten anfreundet und darauf vertraut, dass sie euch weiterbringt im Leben.

Ich rede wahrscheinlich gerade einen riesen Stuß, aber für alle die, die mit ihrem Stottern so schwere psychische Probleme hatten wie ich, kann das bestimmt hilfreich sein zu wissen, dass man sich so beschissen fühlen kann wie man will, dass aber das Gute in einem trotzdem gewinnt. Wenn man darauf vertraut.

Ich glaube - um diese Idee weiterzuspinnen - dass diese verwöhnten Kinder, die irgendwann mal zu verwöhnten Erwachsenen werden, dass die diese positive Kraft nie benötigt haben, denn sie brauchten nicht gegen die negative anzukämpfen. Sie hatten ja alles. Die gute Seite hat gemerkt, dass sie nicht gebraucht wird und ist mit der Zeit verkümmert. Wenn sich dann die böse Seite in einem meldet und anfängt, im Kopf herumzurandalieren, dann heißt es: PENG! Die gute Energie gibt es nicht mehr und damit gibt es auch keinen Widerstand. Die Folge: Suizid. Wie viele wohlhabende Akademikersöhne haben sich in den letzten Jahren vom Unihochhaus geschmissen, weil sie nicht damit fertig wurden, in ihrem Studium zu versagen? Genug.

Um auf die Therapie zurückzukommen: ich habe eine Menge erlebt in dieser Therapie. Es gab unendlich viel Zwischenmenschlichkeit, persönliches Wachstum. Die Folge war - natürlich - eine größere Bereitschaft dazu, ein leichteres Sprechen zu erlernen. Es ging auch bei den meisten sehr schnell, bis sie sich geheilt fühlten, und wir dachten wirklich, wir hätten es geschafft. Wir hatten es nicht geschafft, wir konnten uns nur schonmal ein wenig in der Mitte des Weges ausruhen.

Ich will euch sagen - auch wenn ich hier die ganze Zeit predige und euch langweile - dass ihr den Weg weitergehen sollt. Vielleicht wird es wieder eine Zeit geben, in der ihr euch selber hassen werdet, weil ihr es nicht fertigbringt, das zu sagen, was ihr sagen wollt. Aber geht den Weg weiter, denn wer soll auf euch aufpassen, wenn ihr es nicht selber tut? Es wird keiner auf euch aufpassen. Im Prinzip seid ihr alleine, und ihr müßt zusehen, dass ihr glücklich werdet.

Ihr seht, mir kommt es nicht so sehr auf die sprachliche Seite an, euer Kopf ist viel wichtiger. Nur mit einem gutgestimmten Kopf könnt ihr euch der schwierigen Aufgabe widmen, für sehr lange Zeit euer Sprechen zu beherrschen. Die Psyche und die Motorik beim Sprechen sind zwei Dinge, die unbedingt immer zusammen gesehen werden müssen. Bei mir überwiegt die Psyche, denn jetzt im Moment kann ich das erste Mal seit fünf Jahren wieder die Techniken anwenden, und ich habe sie seit zwei Jahren nicht mehr geübt. Das liegt daran, dass mein Kopf sich hier in Sicherheit, irgendwie auch zu Hause fühlt. Nur daran liegt das, das hat gar nichts damit zu tun, in was für einer sprachlichen Verfassung ich bin.

Also - um diese Predigt fürs erste zu beenden: seht zu, dass ihr am Ball bleibt, was immer auch nach der Therapie für Probleme auf euch warten. Übt die Techniken, übt den Blickkontakt und guckt, dass euren Köpfen nichts passiert. Und erst dann seht zu - Entschuldigung, Herr Rawe, falls sie nicht so ganz meiner Meinung sein sollten - erst dann seht zu, dass ihr euer Sprechen in den Griff bekommt. Was nützt euch die schönste Technik, wenn ihr euch innerlich nicht wohl fühlt? Ich habe lange mit meinem Inneren gehadert und komme nach und nach auf diese Philosophie, die wahrscheinlich die wenigsten von euch kapiert haben werden, weil sie so unstrukturiert von mir vorgetragen wurde. Ich setze auch nicht besonders viel davon um. Ganz wichtig ist eben nur, dass man immer am Ball bleiben, sich nicht brechen lassen und darauf vertrauen soll, dass da ganz tief in einem drinnen der eigene persönliche Kämpfer ist, der das alles schon für einen regelt..."

Tim erzählte noch lange so weiter, hatte aber das Gefühl, dass niemand auch nur ein Wort von dem verstanden hatte. Er wusste schließlich noch genau, wie die Gefühlslage von ihm selber gewesen war, als er in der Therapie mit seinen Freunden zusammen gewesen war und Herr Rawe versucht hatte, ihn vor einem Rückfall zu warnen.

 

Herr Rawe kam auf ihn zu, als die anderen schon zum Rauchen nach draußen gegangen waren.

"Tja, Herr Habermann, da haben sie ja mehr Gedankenarbeit geleistet als es die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben tun. Ich bin ihnen dankbar, dass sie versucht haben, meinen Leuten beizubringen, dass ihnen da noch eine Menge bevorsteht."

"Ich wünsche denen allen, dass sie das nicht durchmachen müssen. Aber ich glaube, dass es zwangsläufig ist.", antwortete Tim.

Tim hatte auf einmal richtig gute Laune. Auf der Hinfahrt hatte er sich schon ausgemalt, wie traurig das alles werden würde. Er würde in das Haus gehen, hatte er sich gedacht, würde eine neue Gruppe kennenlernen, würde ihnen eine traurige Wahrheit übers Stottern erzählen, würde dann wieder in sein Auto steigen und angesichts der alten Zeit bitterlich weinen. Dann würde er traurig zurück nach Hause fahren und sich wünschen, nicht hingefahren zu sein.

Aber das war gar nicht eingetreten. Er hatte den anderen keine traurige Wahrheit übers Stottern erzählt sondern versucht, ihnen irgendwie Mut zu machen. Ihnen zu sagen, dass da eine starke Energie in ihnen ruhe. Er war stolz auf sich, außerdem empfand er es als sehr angenehm, dass hier immer noch alles so war, wie er es verlassen hatte. Und dass diese Gruppe sich ebenfalls so gut zu verstehen schien, wie seine eigene es damals getan hatte. Es gab keine Traurigkeit in diesen Räumen, schon damals hatte es keine Traurigkeit gegeben. Nur dass Tim diese Tatsache längst vergessen hatte.

 

Nachdem er noch einen - dann doch wieder wehmütigen - Blick in das alte Zimmer von Sven und sich geworfen hatte, verabschiedete er sich von allen und bekam von Frau Föhring noch ein "Meld’ dich mal, Tim!" mit auf den Weg.

Er war positiv gerührt, dass wenigstens hier noch alles in Ordnung war. Er hatte nicht daran geglaubt, dass es so etwas noch gab.

Langsam und unentschlossen latschte er zu seinem Auto, schloss es auf, wollte sich gerade hineinsetzen, als er hinter sich eine weibliche Stimme hörte:

"Tim, warte mal!"

Er drehte sich um: das nette Mädchen von vorhin kam hinter ihm hergerannt. Sie konnte richtig schnell rennen.

Als sie bei ihm angekommen war, blieb sie stehen, atmete kurz durch, sah Tim an.

"Ich wollte dir noch etwas sagen. Du hast vorhin viele Dinge gesagt, die bestimmt nicht alle verstehen. Aber ich habe einiges verstanden. Ich finde, dass du dir unbedingt deine Freundin wiederholen solltest, denn sie scheint da einen wertvollen Menschen verlassen zu haben. Versuche, ihr deine Gedanken so ausführlich zu erzählen, wie du es gerade getan hast. Sie wird dich verstehen."

Tim war gerührt. Da war dieses fast fremde Mädchen hinter ihm hergerannt gekommen, um ihm zu sagen, dass er seiner früheren Freundin klarmachen sollte, was er für Gedanken gehabt hatte. Er sah sie an, wollte "Danke!" sagen, sah dann aber in ihren Augen etwas, das jedes "Danke!" hätte lächerlich klingen lassen. Stattdessen nahm er sie spontan fest in seine Arme, so als würden sie sich schon seit Jahren kennen. Für ein paar Sekunden fühlte er sich absolut im Reinen mit sich und seinem Leben. Er genoß dieses Gefühl der vollkommen inneren Ruhe. Er genoß die Wärme, die von diesem Mädchen ausging. Sie ließ die Umarmung zu und verstärkte sie noch ein wenig. Für beide war dies ein unendlich tiefer Moment. Ein Moment der totalen inneren Schwerelosigkeit, unvorstellbar leicht. Keine Droge hätte es in diesem Augenblick vermocht, ein stärkeres Gefühl hervorzurufen.

 

Es fiel ihm schwer, sich von ihr loszureißen. Aber schließlich tat er es doch, denn langsam wurde er sich dessen bewusst, dass es nicht ewig so weitergehen würde. Dann stieg er wortlos in sein Auto, startete es und fuhr los. Zurück ließ er ein 20jähriges Mädchen, von dem er nichts wusste. Noch nicht einmal den Namen.

Auf der Rückfahrt überlegte er noch sehr lange, was dieses Etwas in ihren Augen wohl gewesen war, dass ihn dazu verleitet hatte, ihr spontane körperliche Zuneigung entgegenzubringen. Er kam nicht drauf.

Stattdessen leidete er unter einem extremen Zusammenspiel aller Gefühle, die die Nervenbahnen eines Menschen auslösen können: Freude, Schmerz, Liebe, Unruhe, Traurigkeit, Zuversicht, Angst. Und noch einige andere. Er war hin- und hergerissen von seiner eigenen positiv warnenden Rede, von diesem vertrauten Etwas in den Augen dieses fremden Mädchens, von seiner unkontrollierbar erscheinenden Traurigkeit angesichts dessen, was er verloren hatte, von seiner ebenso großen Fröhlichkeit angesichts dessen, was er erreicht hatte. In ihm herrschte ein Blitzkrieg massiver Gefühlsregungen, und es war ein Wunder, dass er weder einen Unfall baute, noch von der Polizei angehalten wurde. Denn ihm war alles egal. Er merkte stellenweise noch nicht einmal mehr, dass er im Auto saß und eine Verantwortung für sich und andere hatte. Er überfuhr rote Ampeln, Stop-Schilder, ordnete sich rechts ein und bog dann trotzdem links ab und tat noch einen Haufen anderer Dinge, die jeden Fahrlehrer längst in den Wahnsinn getrieben hätten. All das, ohne dass etwas passierte.

Auf der Autobahn angekommen, versetzte er seinen 60 Pferden einen so heftigen Tritt, dass sie losgalloppierten als wären es 150. Er riß die Nadel auf 170 hoch und bewies somit, dass der Fahrzeugschein in Bezug auf die Spitzengeschwindigkeit des Autos log: 150 waren in ihm vermerkt.

Aber er wusste gar nicht, wieso er so schnell fuhr. Und er wusste ebenso nicht, wieso er solchen Gefühlen ausgesetzt war. Seine Augen sahen ihn aus dem Innenspiegel heraus an. Er hatte Angst vor seinen eigenen Augen, sie wirkten so leer. Aber im nächsten Moment spürte er wieder die Energie, die vor seinen Füßen aufgebaut wurde und die Autobahn hinter sich wegdrückte. Er spürte, wie entschlossen sein Fuß auf dem Pedal ausharrte, angespornt von einem druckvollen Achtelnoten-Gitarrenrhythmus, der aus seinen Lautsprechern heraussprang und sich wohltuend wie Erkältungsmedizin auf seine unruhig bebende Brust legte.

Westhofener Kreuz, Tims Autobahnkreuz. Er setzte den Blinker und bog auf die A 45 ab, Richtung Dortmund. Eine endlos lange Kurve, die in ihm für kurze Zeit Übelkeit hervorrief, brachte ihn auf die letzte Autobahn, mit der er an diesem Tag zu tun hatte.

Er ließ mit einer Hand das Steuer los, kramte in seiner Jackentasche, holte eine Packung Zigaretten und sein Feuerzeug heraus. Er steckte sich eine Zigarette an, warf die Schachtel zu den fünf oder sechs leeren Schachteln auf dem Beifahrersitz.

"Ich muß unbedingt mal den Wagen aufräumen!", sagte er sich und sah sich wieder im Spiegel an. Seine Augen waren nicht mehr leer. Er glaubte, in ihnen seine Vergangenheit zu sehen. Sie breitete sich dort aus wie schmelzendes Eis.

Er sah sich selbst vor dem Telefon davonlaufen, er sah die Therapie-Kerstin neben sich auf der Bank und seine Kerstin neben sich auf dem Bett. Irgendwie sah er alles – vor allen Dingen aber sah er ein, dass dieses andere Mädchen von vorhin Recht hatte.

Er blies den blauen Rauch gegen sein Gesicht im Innenspiegel.

"Jep!", sagte er und meinte damit, dass er nun auf direktem Wege zu seiner Kerstin fahren würde.

A 45, Abfahrt Dortmund-Hafen. Die Abfahrt zu Kerstin.

"Ich hole sie mir wieder!", erzählte er flüssig seiner Frontscheibe.

 

Ende.

(Oktober 1998 – November 2000)

 

 

 

Als zweiter kommt ein junger Mann, der leider vergessen hat uns mitzuteilen, ob er unter seinem bürgerlichen Namen oder lieber mit seinem Pseudonym ins WEB gestellt werden will. Sicherheitshalber nehmen wir also das Pseudonym: Dole D. Es handelt sichübrigens um einen Roman ...

 

WELTSCHMERZ

 

Vorwort:

Jeder von uns kennt diese Situation. Ein nerviger Tag, an dem einem die Gedanken an die Vergangenheit den Verstand rauben. Herrliche Erinnerungen an die erste Liebe vermischen sich mit miesen Ereignissen aus der Jugend. Unser Protagonist versetzt sich während eines Tagesablaufs von der Gegenwart in seine gelebte Vergangenheit zurück. Beide Zeitperspektiven werden bunt durcheinandergewirbelt und so kommt es zu einem wirren Gedankenchaos. Ein Tag aus dem Leben eines TWEN. Weltschmerz

 

Personen:

 

Lisa - die unendliche Liebe

Marcus - ein durchgeknallter Freak

Klaudia - die sexhungrige Pfirsichschönheit

Daniel - ein wahrer Jugendfreund

Janine - Lisas Busenfreundin

Florian und Eva - ein gewöhnliches Traumpaar

Laura und Karsten - die Partyschrecken

Anne und Saskia - die Chicago - Verlierer

Florian, Tim und Mark - die Hackfressen - Gruppe

Steven - ein netter Geistesgestörter

Philipp - der Zurückkehrer

George und Vera - die Freunde fürs Leben

 

I.

 

Die kühle, weiße Wand grinst mich mit ihrem perligen, fiesen Lächeln an. Ich komme nicht daran vorbei zu sagen, daß mir die bescheuerte Visage absolut nicht gefällt. Sie glotzt mich schon den ganzen Tag an. Auf ihre klinische Art und Weise macht sie mir klar, daß sie mich überleben wird. Leider ist es unmöglich, diese beschissene Wand abzureißen. Sie wird mich wahrscheinlich mein ganzes Leben lang verfolgen und jegliche Lebensfreuden zunichte machen. Verdammt, ich halte es hier nicht länger aus, ich muß an die frische Luft.

 

Obwohl es draußen in Strömen regnet und kläffende, armselige Köter mir ans Bein pinkeln, scheint es gerade so, als würde mich die Welt mit offenen Armen empfangen und meiner Wenigkeit Beistand schenken. Außerordentlich freundlich von Mutter Erde, der Spenderin von Wasser, Luft und Natur, bedenkt man ihre Sünden, die sie alltäglich den harmlosen Menschen antut. Kleine Erdbeben hier, ausgetrocknete Felder dort und das Allerschlimmste, sie will, daß wir an Gott glauben. Ausgerechnet dort trifft sie den Nerv der Zeit. Wer von uns glaubt denn wirklich an den Urknall, an eine wissenschaftlich bestätigte Version? Hat ihn jemand gesehen, gefilmt? Nein, ich vermute nicht. Trotzdem kann ich nicht an Gott glauben, da es mir zu einfach scheint, alle Schuld auf eine unsichtbare Gestalt zu schieben, die sich womöglich den ganzen Tag mit Wein, Weib und Gesang versüßt und nebenbei das beste Fernsehprogramm der Welt empfangen kann. Nämlich die kleinen Nicklichkeiten seiner Kinder, die irgendwo weit entfernt ihr Unwesen treiben, ab und zu kleine Mädchen vergewaltigen, ein wenig Krieg spielen, um das Bevölkerungswachstum zu verringern, und irgendwelche durchgeknallte Drogenfreaks, die sich vermutlich gerade eben den "goldenen Schuß" verpassen. Ein abwechslungsreiches Programm, jede Sekunde wiederholbar, aber immer wieder interessant, einzigartig und unterhaltsam. Trotz allem können die Gottesfürchtigen noch ihren Glauben behalten. Meint ihr denn nicht, daß Gott bei soviel Sozialkitsch einen anderen Planeten heimgesucht hat, den er mit seinen zehn Geboten belästigen kann. Schließlich will der gute, alte Mann auch ein bißchen Abwechslung. Oder glaubt ihr wirklich, es amüsiert ihn, eure billigen, heuchlerischen Fressen jeden Tag zu sehen? Nein, daran kann ich wirklich nicht glauben. Euer Selbstmitleid in Ehren, aber das hält ja im wahrsten Sinne des Wortes nicht einmal der stärkste Ochse aus. Aber ich glaube, daß mein Zynismus etwas unangepaßt ist. Sollte ich nicht lieber versuchen, um meinen eigenen vier Wände herum für Frieden zu sorgen und meinen Frust nicht bei imaginären Unschuldigen ablassen. Es ist aber so erbärmlich leicht und spaßig über ihn abzuschmähen. Haben sich nicht viele gebildete Philosophen darum bemüht, ihn zu kritisieren und letztenendes seine Existenz zu beweisen? Descartes, Kant, Heidegger, Popper, um nur einige aufzuzählen. Da sei es doch auch mir erlaubt, ein kleines Stückchen Knabberstoff daran beizutragen und ein paar wohlgesonnene Gemüter zu erhitzen.

 

Je länger das kühle Regenwasser meine überhitzten Nerven beruhigt, desto normaler werden auch meine Gedanken. Selbst die Hunde verlassen meine kleine Hütte und suchen sich ihren warmen Platz am Ofen bei Herrchen. Hat mich gefreut, eure Bekanntschaft zu machen, aber das nächste Mal scheißt ihr nicht mehr auf meine Terrasse. Jedesmal trete ich hinein und erfreue mich an dem Gestank, den die Hundekacke auf meinem verlotterten Teppichboden hinterläßt. Können sie sich nicht einmal einen anderen Platz für ihr Häufchen aussuchen. Schließlich bin ich nicht der einzige Mensch in diesem Viertel. Andererseits sollte ich mich doch glücklich schätzen, daß wenigstens die Hunde an mich denken, auch wenn ihre Unterhaltungen sehr unverständlich sind.

 

Langsam schlendere ich in die Küche zurück und hole mir ein Bier aus dem Kühlschrank. Was auch immer passieren mag, ein Six - Pack hat seinen festen Stammplatz und ist einfach nicht mehr wegzudenken. Für die treusorgende Hausfrau ist es ihr Bügelbrett, für mich ist es nunmal das wohlschmeckende Blonde (obwohl, blonde Frauen sind eigentlich nicht ganz mein Ding, vielleicht sollte ich auf Guiness umsteigen, schwarz gefällt mir nämlich viel besser). Als ich gerade dabei bin, das Bier zu öffnen, klingelt es an der Tür.

 

"Guten Tag, hier ist die Gebühreneinzugszentrale. Haben sie ihre Rundfunkgeräte angemeldet," zwitschert die Bürobrillenschlange und will im Moment ihren Stuhlfettarsch in meine frauenfreie Bude hineinschwenken..

 

Das ist eindeutig ein gewaltiges Unternehmen gegen meine angegriffene Männerehre. Gerade in letzter Sekunde kann ich die Ische schnappen und an die frische Luft hinausbefördern. Mit einem überraschend weiten Flug, der weltrekordverdächtig ist, landet sie mit ihrem fetten Allerwertesten in ein großes Stück schwabberiger, ätzender Hundescheiße. Ich kann mein Grinsen nicht verstecken und gerate in einen gefährlichen Lachrausch.

 

"Sie Arschloch sie, ihr Verhalten ist unangemessen und empörend. Was fällt ihnen ein, mich derart zu verletzen. Ich werde sie anzeigen. Das schwöre ich ihnen. Sie werden ihr blaues Wunder erleben. Sie gewalttätiger Mensch. Man sollte sie hinter Gitter sperren, ihnen den Rücken auspeitschen und sie bei Wasser und Brot halten."

 

Mein Lachen wird immer lauter und ungebremster, bis ich dann auf dem Boden zusammenbreche und Tränen meine Wangen naß machen. Diese Ische ist ja wunderbar. Wäre sie nicht so dick, unappetitlich und nach Scheiße stinkend, ich glaube, ich würde sie sofort auf der Stelle vernaschen. Aber bei dem Anblick der speichelspuckenden, wutentbrannten Giftzange vergeht mir dann doch der Spaß an eine Runde Sex. Nachdem sie endlich einen ekelhaften, aber doch einen recht stolzen Abgang gemacht hat, der mit sämtlichen bösartigen Androhungen ihrerseits vollgepfropft war, genieße ich wiederum ein Jahr kostenloses Fernsehen bei den öffentlich - rechtlichen Rundfunkanstalten.

 

Ich schalte die Glotze an und zappe durch das gähnend langweilige Nachmittagsprogramm. Das Telefon klingelt mich aprupt aus meiner Monotonie heraus. Es ist Lisa, meine Freundin, mit der ich eine offene Beziehung pflege. Das bedeutet, daß meine Bude für sie absolut tabu ist und ihre Wohnung als Rammelort ausgesucht worden ist. Leider verliere ich dabei ab und dann die Kontrolle über ihre zahlreichen Männerbesuche. Aber solange keine weibliche Seele über meinen Schuhabtreter die Grenze verletzt, bin ich sehr zufrieden. Jedesmal bringen die Frauen nur Pech und Schwefel ins Haus. Jetzt zur Lisa und meiner Wenigkeit.

 

Lisa ist eine alte Sandkastenliebe von mir. Wir spielten zusammen im Planschbecken und waren sichtlich erstaunt über unsere körperlichen Unterschiede. Sie hatte unten keinen Pimmel und ich dafür ein komisches, schlaffes Gerät, daß immer unbewußt zu tropfen anfing. Lisa war schon früher ein aufgewecktes, amüsantes Mädchen. Sie war für jeden Scheiß zu haben, selbst in unseren gemeinsamen Kindertagen. Außerhalb der Idylle, die wir gemeinsam mit Puppen, Fangen und Fußball spielen verbrachten, baute sich eine Welt auf, die wir mit unseren Kinderaugen noch nicht verstehen konnten. Eine Distanz zu den Eltern und den Kindergartenfreunden stand auf der Tagesordnung. Alles erschien so unwirklich und so phantasielos. Wir wollten nicht ein Teil der vorgeschriebenen Sozialisation werden. Dazu gab es für uns keinen ersichtlichen Grund. Lisa und ich träumten von Engelsflügeln und Gerechtigkeit, von Liebe und Zärtlichkeit, die noch nichts mit Sex zu tun hatten. Aber in den Nachrichten, während den häufigen Streiteren unserer Eltern und der Brutalität der anderen Kinder, bekamen wir die Bestätigung für eine Art zu leben, die uns beiden mißfiel. Kein aufgetragenes Tabu, kein böses Wort schlüpfte aus Lisas und meinem Mund. Keine Aggression und Niederträchtigkeit trennten unsere Wege. Das hört sich doch wirklich nach einer Idylle an, die wahrscheinlich nur in der Kinderzeit erlebbar war, von den Erwachsenen in einem Glashaus gehalten, das zersplitterte, als ich meine erste Schlägerei hatte und mit einem blauen Auge davonkam. Was hätte ich auch machen sollen? Martin, ein kleiner, dicker und stinkender Mehlsack versuchte Lisa zu küssen, die sich dagegen aufbäumte. Doch er machte weiter, krallte seine spitzen Finger in die weiche Haut von ihr, zog sie an ihren langen, roten Haaren. Selbst ihr weinendes Bitten und Schreien brachte ihn nicht zum Aufhören. Er quälte sie weiter. Da kam ich ins Spiel, mit meinen naiven zehn Jahren und drei Schulklassenerfahrungen. Niemand durfte meiner süßen Lisa zu nahe kommen. Mein Blut fing an zu kochen, zu brodeln. In meinen Gedanken malte ich die schlimmsten Folterszenarios aus und wählte von den vielen eine aus, um meinen Angriff zu starten. Wie eine giftige Schlange stoch ich Martin entgegen, mit einem gewaltigen Tempo, das jeden 100 - Meter - Läufer imponiert hätte, flog er mit mir eine halbe Ewigkeit durch die Lüfte, weit davon entfernt, in geraumer Zeit Kontakt mit dem Boden zu haben. Ein lauter Knall und das Geräusch krachender Knochen holte uns in die Realität zurück. Wild schnaufend und nach Luft ringend, hielt sich Martin seine Hand an die Kehle, lief blau an und wurde bewußtlos. Lisa winte fürchterlich. Ein unglaublicher Anlauf von Kindern und Lehrern bildete sich um mich. Voller Stolz nahm ich Lisa schützend in die Arme, während erstaunte Kindergesichter und zornige Lehrer meinen Blick streiften. So schien es, daß ich Lisas Vertrauen und Liebe für immer gewonnen hatte und der Streit mit meinen Eltern über die etwas unmoralische Gewalt Ausmaße annahm, die schier unkontrollierbar waren. Wahrscheinlich dachten sie nie im Leben daran, daß ich zu einem Schläger werden konnte. Alles, was sie mir antaten, schluckte ich widerspruchslos herunter und erfüllte meine Hausarrestzeit mit himmlischen Gedanken an Lisa, die sich geistig mit mir zu verbinden schien. Ihre Gedanken und Liebesbeteuerungen flogen durch Raum und Zeit und flatterten in meine offenen Ohren und direkt in mein junges, aufgebrachtes Herz, das gerade eben seine erste Erfahrungen mit wilden, ungestümen Schmetterlingen und schlimmen Eifersuchtsgefühlen erlebte. Für einen zehnjährigen, unerfahrenen Jungen, der noch nie davor so intensive Gefühlswallungen hatte, war dies einerseits ein berauschender und einzigartiger Moment und andererseits machte mir das schlechte Gewissen für meine erotischen Gedanken, die ich an Lisa spendete, ein komisches Magenknurren. Doch die Tage, an denen die vier eigenen Wände zu meinen besten Freunde wurden, vergingen rasch und bald konnte Lisa ihren großen Retter in die Arme schließen. Dieses Warten zehrte an unseren Kräften. Noch nie waren wir beide so lange Zeit getrennt und es war tatsächlich ein herrliches Wiedersehen.

 

Wahrscheinlich ist diese Erinnerung, die wir beide miteinander teilen, die tiefst-schürfendste von allen gemeinsamen Erlebnissen. In diesem Moment der sinnlichsten Umarmung begriffen wir, wie ernst es uns beiden wahr, zusammen zu sein. Lisa erzählte mir einige Jahre später (nachdem wir das erste Mal zusammenschliefen), daß diese wenigen Sekunden der übergroßen Wiedersehensfreude in ihr eine Vision aufwarfen, die uns beide auf einer schillernd - weißen Wolke zeigten, weit weg von der realen Welt, nur wir beide, mit Liebe und unendlicher Treue ausgestattet, unterwegs, um den erbarmungslosen Richtern der Gesellschaft aus dem Weg zu gehen.

 

Lisas Anruf kommt zu einem richtigen Augenblick. Mein Gemüt hat sich durch den kühlen Regen etwas gelegt und die Langeweile schien auch nicht mehr eine ausreichende Freizeitbeschäftigung zu sein. Sie erzählt mir, daß heute abend eine Party bei Marcus steigen soll, der seinen Geburtstag feiert. Nette Sache. Da freue ich mich. Außerdem meint Lisa, daß sie mich vermisse und mit mir die Nacht verbringen will. Nette Sache. Da freue ich mich natürlich noch mehr. Eine weitere freudige Nachricht und ich explodiere vor lauter Spannung. Es ist schon eine gewisse Zeit vergangen, seit dem wir das letzte Mal zusammen in die Falle gesprungen sind. Ein Wunder, daß ich nicht mit einer anderen ein gemütliches Schäferstündchen gehalten habe. Wahrscheinlich hat sich keine Gelegenheit geboten. Das könnte natürlich sein.

 

Das erste Mal mit Lisa war eine ungemein erotische Angelegenheit. Sie verstand es schon früher, den Männern die Köpfe zu verdrehen. Mit ihren sechszehn Jahren war sie verdammt gut gebaut, während ich noch mit pubertären Krankheiten zu kämpfen hatte. Die Akne wollte einfach keine Pause einlegen oder zum Endspurt starten. Sie brachte mein Gesicht zum Strahlen und erschrack dadurch selbst die jüngsten und häßlichsten Küken. Aber mein jugendlicher Stolz und die neue Männlichkeit, die sich mir offenbarte, wollten unbedingt aus meiner Hose heraus. Wieso sollte man dem kleinen Lümmelmann nicht die Freude schenken? Redlich verdient hätte er es.

 

Es war eine der ersten Jugendpartys, auf denen die Leute tonnenweise Bier und andere Alkoholikas mitbrachten. Lisa und ich fuhren mit dem Fahrrad auf eine Wiese mit Grillstelle und gesellten uns zu den anderen, die in den Wonnen und den unberührten Freiheiten der ersten Sommertage schwammen. Auch mir fiel etwas ungewöhnliches auf. Lisa sah nicht nur einfach wundervoll, sondern absolut hinreißend aus. Ihr enger, anschmiegsamer Mini und ihr trägerloses, weißes Hemd zeigten mir ihre besten Seiten. Die roten Haare hatte sie zu einem Zopf gebunden und das Allerbeste war ihr betörender Geruch, den sie verbreitete. Beste Voraussetzungen, um mich ohnmächtig zu machen. Selbst nach den sechzehn Jahren unserer gemeinsamen Kindheit, hätte mich Lisas Schönheit in der ersten Runde eines Boxkampfes auf die Matte schlagen können. Irgend etwas roch eindeutig nach Sex und langsam schalteten meine Sinne auf höchste Alarmstufe. Lisa hatte vor, mir die Jungfräulichkeit zu nehmen und ich war keineswegs abgeneigt, das gleiche für sie zu tun. Doch als wir am Lagerfeuer saßen und die Jungs ihre bescheuerten Witze rissen und Lisa mich mit funkelnden Augen anschaute, hielt ich es keine Sekunde länger aus. Nur eine wahre Meisterin zögert den Moment bis zur knappen Unendlichkeit heraus. Lisa wußte, wie sie mich quälen konnte, das hatte sie in ihrer Kindheit genossen und auf der Party verführte sie mich nach allen Regeln der Kunst. Jede Zelle, jeder Muskel und jeder Nerv war angespannt und selbst das kühle Bier war nicht dazu in der Lage, mich auf Gedanken zu bringen, die absolut nichts mit Sex zu tun hatten. Verzweifelt träumte ich von vollgeschissenen Unterhosen, von fettriefenden, nach Schweiß stinkenden Mädchen, doch Lisa war die schillerndste Figur und die häßlichen Gedanken flogen schnell davon. Nachdem sie mich ein paar Stunden in meinen eigenen Säften schmoren ließ, betrat sie beharrlich und siegesgewiß die große Showbühne. Es drehte sich alles (das Bier hatte keinerlei Ursache), und der süße Geruch ihres Parfüms nahm mich in ihren Besitz. Händchenhaltend liefen wir zu einem nahegelegenen Flüßchen. Am Ufer lagen ein Picknicktuch und eine Flasche Sekt bereit, die auf ihren Verzehr warteten. In diesem Moment dachte ich nur an ihren Körper. Mehr als alles andere auf der Welt sehnte ich mich danach, sie zu spüren, mehr als die sechzehn vergangenen Jahre davor (die sicherlich auf ihre eigene Art und Weise vor Erotik übersprudelten). Lisa schien tatsächlich alle Register zu ziehen und ihren ersten Sex perfekt vorbereitet zu haben. Sie wollte es wirklich und ich fing an zu schlottern vor lauter Bammel, daß ich versage. Bei der Selbstbefriedigung klappte es doch auch immer, wieso jetzt auf einmal nicht, dachte ich. Aber eine andere Situation verlangte angepaßtes Verhalten und ehe ich mich versah, saßen wir nackt (bekanntlich nicht das erste Mal) nebeneinander und tranken Sekt. Lisas Körper strahlte im Dunkeln vor lauter Begierde und Sinnlichkeit. Ich war mir im Klaren darüber, wieso mir dies seit mehr als über drei Jahren verborgen blieb. Bedächtig und mit einem unermeßlichen Hauch von jugendlicher Neugierde und weiblicher Zärtlichkeit begann Lisa, mich zu streicheln. All das, was ältere Freunde über Sex erzählten erschien mir in dem Moment wie eine technische Gerätschaft, die ein Physiklehrer im Labor aufstellt. All das, was ich im Fernsehen darüber hörte, klang jetzt nur noch nach einem unterkühltem Wintererlebnis. All das, was Lisa mit mir anstellte, war unbeschreiblich. Ihre Finger glitten schleichend an meinem Bauch hoch, berührten behutsam meinen Lümmelmann. Langsam aber sicher gewann ich wieder an Land und fing an, sie zu küssen, inniger und ewiger als jemals zuvor. Wir verloren uns in einem Strudel, der hinab in ein unerforschtes Paradies führte. Wir liesen uns viel Zeit. Nichts auf der erbärmlich öden Welt konnte diese intimste Atmosphäre stören. Lisa genoß leicht stöhnend unsere Streicheleinheiten, meine Hand, die an ihrem kleinen Busen entlangstreifte machte ihre rosa - glänzenden Brustwarzen überraschend hart. Ich mußte mich zusammenreißen, nicht gleich zum schönen Schluß zu kommen. Aber Konzentration war fehl am Platz. Lisa bemerkte meine unbändige Unruhe und setzte sich behutsam auf mich, während sich meine steifgewordene Wenigkeit vorsichtig vortastete und sie ihn mit zitterigen Fingern in sich hineinschob. Sie drückte mir ihre Zunge in den Mund und verwöhnte mich. Überall flogen Schmetterlinge, der herrliche Sternenhimmel über uns verlor an Bedeutung, die Welt hätte untergehen können. Es wäre uns beiden völlig egal gewesen. Lisa stöhnte heftig auf und in dem Moment wurde es mir klar, daß ich ihr das wertvollste genommen hatte, daß keine Frau einem Mann nehmen konnte. Doch der Augenblick höchsten Genusses übermannte unsere schweißgebadeten Körper und ihr Orgasmus kam gleichzeitig mit meinem. Erleichtert und außerordentlich glücklich über dieses unsagbar traumhafte Erlebnis, legten wir uns gemeinsam, Arm in Arm an das Ufer und beobachteten den Sternenhimmel, der sich im Wasser spiegelte. In tiefer Stille hörten wir dem Plätschern und den Waldtieren zu, genossen die Ruhe und den Augenblick des neuen Lebens. Ohne ein Wort zu sagen, wußten wir, daß niemand uns jemals trennen wurde (an ihrem siebzehnten Geburtstag zog sie dennoch einen Schlußstrich unter unsere Beziehung). Lisa machte die Gläser mit den Resten des Sektes voll und nahm meinen Kopf zwischen ihre Hände. Sie erzählte mir, daß es ihr einfach total gut gehen wurde und ich ein wunderbarer Liebhaber sei. Bei diesen Worten brachen wir gleichzeitig in ein Lachen aus und kniffen uns gegenseitig. Ich küßte und knuddelte Lisa am ganzen Körper und wir liebten uns ein zweites Mal, länger und intensiver als davor. Danach war es Zeit, im kühlen Wasser die erhitzten Körper zu erfrischen. Wie kleine Kinder tollten wir herum, tauchten unsere Köpfe hinab und genossen die letzten Minuten der vergangenen Freiheiten eines ungezwungenen Kinderlebens. In diesem Augenblick wurde es uns gewahr, daß wir langsam aber sicher in die Fußspuren einer unbekannten Zeit hineingetreten waren, die einiges schwerer sein wurden, als die unbeschwerten Jahre zuvor. Aber dies schien uns an diesem göttlichen Abend wenig zu stören. Wir liebten uns bis zum nächsten Morgen, umhüllt von dem warmen, hellen Vollmond.

 

Ich bin nun richtig in Partystimmung. Mit meinen 25 Jahren fühlt man sich noch einigermaßen fit, um die Torturen eines Alkoholexzesses zu überleben. Ich hege den Gedanken, daß Lisa heute scharf auf mich ist. Ein angenehmer Gedanke. Das sind die schönsten Momente in einem Leben. Die Vorfreude auf den Sex. Wahrscheinlich ist das erste Mal mit einem Mädchen, daß man wahnsinnig liebt, einer der Erinnerungen, die unvergleichbar sind. Natürlich hatte ich auch Sex mit anderen Frauen, aber mit Lisa war und ist es immer noch eine besondere Sache. Diese Art von Vertrautheit und Einfühlsamkeit entdeckt man erst nach einer gewissen Zeit, doch bei uns beiden war sie schon von Anfang an vorhanden. Als wir damals am Ufer lagen und die Nachteulen beobachtend auf einer Eiche saßen, fühlten Lisa und ich die Ewigkeit in unserem Herzen aufblühen. Auch wenn man in den jungen Jahren noch keinen blassen Schimmer Erfahrung mit sich trug, wußten wir, daß es kaum noch herrlicher werden konnte.

 

Abrupt werde ich aus meinen intimen Gedanken an die Vergangenheit geweckt, als es an der Tür klingelt. Es ist Marcus (wer hätte es auch anders sein können). Mit einem schelmischen Grinsen und einer Gin - Flasche steht er am Eingang und schüttelt seine buschige, braune Mähne.

 

"Hi, hier bin ich. Sicherlich hast du schon von meiner Party heute abend Wind bekommen. Natürlich bist du eingeladen. Dafür bin ich hier, um es dir persönlich zu sagen. Zuvor können wir noch ne Runde bei dir vorglühen."

 

Gerne, gerne, denke ich und laß Marcus herein. Sofort eilt er zum Kühlschrank, fischt sich Eiswürfel und eine Tonic Water - Flasche heraus, bequemt sich auf mein allerbestes Möbelstück und schenkt zwei großzügige Gläser ein. Vielleicht wäre es besser gewesen, in eine Kneipe zu gehen. Mein Riechkolben verrät mir, daß es in einem Desaster enden wird. Aber was stört mich das schon. Schließlich ist man nur einmal jung.

 

Apropo Jugend. Marcus ist einer von den vielen Partybekanntschaften, von denen nur wenige den Weg geschafft haben, langanhaltende und intensive Freunschaften zu werden. Ich war damals 17 Jahre alt und solo, da Lisa mir den Laufpass gegeben hatte (sie verliebte sich in einen 22 - jährigen Soziologiestudenten mit rotem Käppi und Che Guevera T - Shirt und bezeichnete mich als einen unreifen Knilch). Um mir meinen angestauten Frust abzubauen, beschloß ich auf eine Wiesenfete zu gehen. Meinen Eltern sagte ich, daß Lisa schon ein Bett für mich vorbereitet hätte und sie sich keine Sorgen machen müßten, da mit meiner Ankunft vor Morgenanbruch nicht zu rechnen sei. So schlenderte ich mit einer Whiskey - Flasche (aus der gutsortierten Hausbar meines Vaters entnommen) über die Straßen, bemitleidete meine Probleme, heulte meine Augen aus und träumte von Lisa. In dieser Stimmung mußte ich wohl so an die zwei, drei Stunden verbracht haben, als ich irgendwann an einer Grillstelle ankam, die von Jugendlichen meines Alters vollgepfropft war. Da meine Whiskey - Flasche sowieso dem Ende nahe war und meine Trunkenheit alkoholvergiftende Ausmaße annahm, beschloß ich, den anderen Gesellschaft zu leisten. Über Steine und Baumwurzeln stolpernd, landete ich neben einem ganzen Pulk von Jungs, die mir vom Gesicht her irgendwie bekannt vorkamen. Mit einem diabolischen Rülpser und meiner fast leeren Whiskey - Pulle machte ich mich bemerkbar. Die Köpfe wendeten sich um, und sechs Augen und drei offenstehende Münder glotzten mich an. Anscheinend hat mein Name schon die Runde gemacht und sie entlarvten mich als Lisas Freund. Leider stimmte das wohl nicht mehr ganz und es kam mir in dem Moment auch nicht allzu schlimm vor. Einer von den Jungs hieß Marcus und fiel wegen seinem äußerst lautem Lachen auf. Das machte ihn natürlich sofort sympathisch und gemeinsam schlürften wir die Pulle leer. Irgendwie hatte ich ein Faible für auffallende, durchgeknallte Typen und Marcus war ein solcher. Für diese Art von Menschen hatte ich ein gewisses Gepür und mit meiner Menschenkenntnis lag ich nicht falsch. Tony und Guiseppe, zwei Italienerbrüder, deren Vater Besitzer eines Restaurants war, drehten derweil eine Runde auf dem Boden und entleerten ihre ätzenden Innereien. Eigentlich war es auch für mich Zeit, etwas Flüssigkeit abzulassen und deswegen ging ich für einen kurzen Augenblick hinter die Büsche. Mit einer vollen Blase wankelte ich an einen Baum und stellte eine Stange Wasser in die Ecke. Ein paar Meter entfernt, standen ein paar Mädchen. Besoffen torkelte ich zu ihnen und stellte mich vor. Eine davon hieß Klaudia. Sie gefiel mir auf Anhieb. Ihre langen braunen Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden, das Gesicht wirkte schmal, die Backenknochen bildeten einen Schatten auf ihrem Gesicht, der Geruch, den sie ausströmte verhieß Gutes und die Figur war zierlich und makellos. Das enge T - Shirt zeigte einen klaren Abdruck von ihrer Körbchengröße. Ein kleines Muttermal über der linken Titte strahlte pure Erotik aus. Alles in allem war sie perfekt. Als ich Klaudia so vor mir stehen sah, fielen bunte Blumen vom Himmel, ohrenbetäubende Punkmusik zuckte durch meine Glieder und ein kilometerweiter, einsamer Sandstrand erschien mir als Vision. Lüsterne Gedanken breiteten sich in meinen Gehirnwindungen aus. Der Hypothalamus stand kurz vor dem Zusammenbruch. Die Knie schlotterten unkontrolliert. Die Speichelflüssigkeit in meinem Mund trocknete aus, eine gähnende Leere erfüllte mein Gehirn. Spitz wie ich war, hatte sich mein kleiner Lümmelmann einen Plan ausgedacht. Klaudia sollte heute abend Bekanntschaft mit ihm machen. Aber wie sollte ich es bloß anstellen? Wieso plagte mich nicht mein schlechtes Gewissen? Lisa war vergessen und ein neues Kapitel meiner unausgereiften Erfahrungen sollte geschrieben werden. Was hinderte mich daran, in Startposition zu gehen? Was hatte ich schon zu verlieren? Schließlich war man mit 17 Jahren auf dem Olymp sexueller Leistungsfähigkeit. Und davon konnte Klaudia nur profitieren. Ihr Körper zog mich mit einer mir unbekannten Anziehungskraft an. Ein Magnet, dessen positive Seite meine negative Weltanschauung an jenem Abend vereinnahmte. Ich wollte unbedingt eins mit ihr werden. Das Frustbesäufnis verlor an Wichtigkeit. Klaudia, Klaudia, dachte ich. Ein Name, ein Körper, Sex. Name, Körper, Sex. Ich wollte alles. Und ich wollte es sofort.

 

II.

 

Marcus schaltet den Fernseher an. Leicht angeheitert verfolgt er das beschissene Boulevarde - Magazin und schenkt sich dabei einen fetten Gin - Tonic ein. Während das Programm über die Bildröhre flimmert, stelle ich mich unter die Dusche. Irgendwie hat mich Marcus neugierig gemacht, als er meinte, Klaudia wurde auf die Party kommen. Natürlich ist es schön, sie einmal wiederzusehen. Aber großartige Lust verspüre ich dabei nicht. Obwohl der Duft ihrer Haut an herrlichen Sommertagen immer noch an meinen Nasenflügel entlangstreift. Von ihrer wahnsinnigen, genialen Figur könnte sich Lisa etwas abschneiden. Aber schließlich ist ja niemand perfekt. Klaudia auch nicht.

 

Ich nahm mir meinen ganzen Mut zusammen und ging geraden Schrittes zu der Mädchengruppe. Meine angegriffene Nüchternheit war wieder voll im Einsatz und so laberte ich ohne auffälligen Zungenschlag meine auswendig gelernten Liebesgedichte herunter. Aus der Nähe konnte man die sanften Gesichtszüge erkennen und ihre hellblauen Augen glitzerten in der wolkenlosen Sternennacht. Mein Herz pochte und der Blutkreislauf kollabierte. Mein Schweiß machte einen Marathonlauf und ließ keinen Fleck an meinem Körper unberührt. Ich war sogar unfähig, auf ihre Frage nach meinem Namen zu antworten. Die losgelassenen Gefühle rissen mich in ein Piraniabecken. Sie knabberten an meiner Haut umd labten sich an meinem Blut. Doch nach einigen Minuten kehrte eine gewisse Coolheit zurück. Auf einmal standen nur noch Klaudia und ich da und wir unterhielten uns auf einem Level, den ich bisher bei Mädchen dieses Alters noch nie erlebt hatte (außer mit Lisa). Wir sprachen über Musik, über die Schule, über die Themen, die jedem siebzehnjährigen Typ durch den Kopf gehen. aber auf eine intensive Weise, welche die Worte in Melodien umwandelte. Zusammen liefen wir zurück zum Fest und stellten überrascht fest, daß die Sonne über uns aufgegangen war. Mehrere Alkoholleichen bedeckten den grünen Rasen, eine dünne, schwächer werdende Holzglut flimmerte an der Feuerstelle, leere Bierflaschen machten den Eindruck eines Komasaufabends. Vielleicht hätte ich mich auch dazugesellen sollen. Aber das Glück war mir hold und Klaudia schien mit ihrer magischen Ausstrahlung alles wettzumachen. Leider kam mein Lümmelmann nicht zum Einsatz, dafür meine künstlerische Zunge um so mehr. Wir küßten uns leidenschaftlich, ihre Lippen schmeckten nach Pfirsich und ich knabberte an ihren Ohrläppchen. Dort roch es nach mildem Vanilleeis. Vielleicht lag es an meinem gesunden Appetit, daß jede einzelne Stelle ihres Körpers einen himmlischen Duft ausströmte, der ein logisches, rationales Denken unmöglich machte. Nur noch die Sinnenwelt bestimmte die nächsten Stunden, die wir knutschend auf der Wiese verbrachten. Ein wahrer Genuß. Klaudias Küsse sprachen Bände. Selten hatte ich soviel Vergnügen und Lust empfunden.

 

Nach dem Duschen fühle ich mich wie ein neuer Mensch. Der Gin - Tonic belebt meine Seele und die Partystimmung kommt hoch. Marcus hat sich in die Küche verkrochen und schmiert sich ein paar Sandwiches. Die Gin - Flasche nähert sich ihrem vorhergesehenen Ende. Der Alkohol breitet sich in unserem Körper und Geist aus. Ein wohliges Gefühl fließt in unseren Adern. Bestens vorbereitet, um die Sause zu machen. Hastig verzehre ich die Sandwiches und packe noch ein Six - Pack in den Rucksack. Zusammen verlassen wir die Bude und machen uns auf den Weg zu Marcus. Unterwegs wünscht uns die untergehende Sonne mit ihrem leichten Licht einen schönen Abend. Den werden wir auf jedenfall haben.

 

Klaudia und ich trafen uns jeden Tag. Wir gingen zusammen ins Kino, besuchten die wilden Tiere im Zoo, schlenderten händchenhaltend durch den Park, tauschten leidenschaftlich unsere Körperflüssigkeiten aus und genossen eine wahnsinnige, intensive Zeit. Es sah so aus, als hätte ich Lisa aus meinem Gedächtnis verbannt. Keine einzige Sekunde dachte ich an sie. Die Liebe versprühte heiße Funken in meinem Körper. Klaudia und ich redeten über Heirat und Kinderkriegen (niemals war das ein Thema zwischen Lisa und mir), über eine gemeinsame Zukunft, die vielversprechend werden sollte. Jede freie Minute, die uns der Schulalltag schenkte, verbrachten wir zusammen. Selten ging es mir so hervorragend wie mit Klaudia. Unsere Beziehung entwickelte sich auf sonderbar angenehmer Weise zu einem eigenem Inselreich in der Karibik. Man konnte von Glück reden, daß ich damals auf dem Wiesenfest außerordentlich angeheitert war und die Worte wie der Wasserfall Nicaraguas aus meinem Mund flossen. Normalerweise bekomme ich immer Ohrensausen, wenn es darum geht, ein Mädchen anzusprechen (dieses Ohrensausen hat auch etwas gutes; es verleitet einen nicht zu Kurzschlußaktionen). So lernte Klaudia mich kennen, ohne daß eine Mauer mein wahres Ich verbarg. Wahrscheinlich hatte ich deswegen keine Probleme, ohne innere Hemmnisse mit ihr offen und ehrlich zu reden. Zwar mußten wir damals bei null beginnen, aber desto abendteuerlicher und spannender ist unser Kennenlernen gewesen. Jede Spur von Gemeinsamkeit nahm man mit einer kindlichen Freude auf, jedes Lächeln brachte einen zum Schmelzen. Klaudia war sichtlich angetan von meinem Charakter. Einmal meinte sie, daß ich ein ausgeflippter, durchgeknallter Freak wäre und keinesfalls ein bodenlos langweiliger Stubenkater. Das beeindruckte mich natürlich gewaltig, da ich schließlich nicht zu den Normalos der Jungenklasse gehören wollte. Mein Platz war für eine andere Klasse besetzt, in die ich mich langsam aber sicher hineinbewegte. Die Beziehung mit Klaudia brachte mir viel Ruhm bei den anderen eifersüchtigen Pickelbuben ein, die sich immer noch auf die Unterwäschewer-bebeilagen der Tageszeitung einen runterholten. Ich hingegen stieg unabänderlich auf und es schien keine Grenzen zu geben. Während andere noch davon träumten, die weiche, anschmiegsame Haut der Mädchen zu berühren, war ich ihnen schon bei weitem im voraus. Während andere noch die Lippen der Sexpuppen ihres Vaters pimperten, war ich gerade dabei, den himmlischen Duft von Pfirsich einzusaugen, die zarten Lippen Klaudias zu liebkosen. Voller Selbstbewunderung wußte ich, daß die Sterne hervorragend standen. Selbst Lisas übertriebene Eifersucht und Beinstellerei konnte meiner Karriere keinen Beinbruch zufügen. Je mehr Klaudia und ich uns ineinander verliebten, desto augenscheinlicher wurden unsere kleinen Auseinandersetzungen zwischen uns beiden. Sie wollte jede freie Minute mit mir verbringen, wollte mich auf irgendwelche bescheuerten Verwandtschaftsfestivitäten mitschleppen und eine gewisse Kontrolle über meinen Alltag ausüben. Aber ich traf aus Protest stattdessen meine Kumpels, ging mit Marcus in unsere Stammkneipe und betrank mich sinnlos. Wäre der Sex mit Klaudia nicht so betörend und anregend gewesen, wahrscheinlich hätte ich schon viel früher die Beziehung beendet. Das erste Mal mit ihr dauerte drei Monate und es verlief ähnlich schön wie mit Lisa. Ihre Eltern waren in den Ferien und sie lud mich zu einem Videoabend zu zweit ein. Natürlich war ich kein dümmlicher, naiver Jüngling und checkte sofort die Situation. Wie oft stellte ich mir vor, die wunderschönen Brüste Klaudias zu küssen und ihre Muschi zu kraulen. Stundenlang verbrachte ich im Bett und träumte mit einer Dauererrektion davon. Das ist das besondere an der Phantasie. Niemand kann sie einem kaputt machen. Jetzt endlich kam der große Moment und meine Freude darüber war grenzenlos.

 

Klaudia hatte den schnulzigen, aber schönen Videofilm "Before Sunrise" mit Julie Delpy und Ethan Hawke ausgeliehen, der die Stimmung ins richtige Licht rücken sollte. Das war eigentlich überhaupt nicht nötig, da ich bestens vorbereitet war. Ihre Nervosität hingegen bewegte sich ständig auf einem Höhepunkt. Schießlich war es ihr erstes Mal. Natürlich standen mehrere Sektflaschen auf dem Tisch, um uns etwas lockerer zu machen. Irgendwie glaube ich, daß alle Mädchen Sektfetischisten sind, wenn es um den ersten gemeinsamen Sex geht. Von mir aus würde auch ein kühles Blondes genügen. Man ist ja kein Ausbeuter. Nachdem Klaudia und ich auf dem bequemen Sofa Platz nahmen, Arm in Arm ineinander versunken, das Fernsehbild über unsere Köpfe flimmernd, trafen sich Ethan und Julie gerade im Zugabteil und bemerkten, daß sie beide nach Wien gehen wollten (was für ein Zufall). Nach dieser Szene bekamen wir leider nichts mehr mit, da der glorreiche Liebesakt schon begonnen hatte. Glücklicherweise sah ich mir den Film schon vor einem Jahr mit Lisa an. Das war mir in dem Moment natürlich ziemlich egal. Meine Sinne waren von dem himlischen Duft ihres Parfüms und ihrer Pheromone völlig erfüllt, ihre Lippen schmeckten noch mehr nach himmlischen Pfirsich und ihr Haar duftete nach frischen Sommerregen. Meine erotischen Gedanken wurden endlich Wirklichkeit. Als der Filmabspann kam, befanden wir uns schon in der dritten Runde und ein Ende war nicht abzusehen. Unersättlich lieferten wir uns den Gefühlen, den zärtlichen Liebkosungen und den göttlichen Orgasmen aus. Wir vögelten stundenlang. Klaudia hatte einiges nachzuholen und meine sexuelle Potenz erreichte ihre Bestleistungen.

 

Lisa und einige andere bekannte Gesichter stehen schon vor Marcus seiner Bude. Gespannt warten sie auf eine lustige und ereignisvolle Party. Lisa macht ein etwas entsetztes Gesicht, als sie uns beide leicht torkelnd zur Tür laufen sieht. Keine Angst, Schatzi, das war erst der Anfang, denke ich. Eine gute Seele hält sich zurück, obwohl der Wunsch nach Alkoholnachschub mir keine Ruhe läßt. Marcus drückt mir ein eisgekühltes Bier in die Hand. Leider (zu Lisas Bedauern) kann ich nicht nein sagen. Schließlich ist heute sein Geburtstag und die Tradition erlaubt einem keinen Widerspruch. Die einzige Möglichkeit, um Lisas Wunsch zu erfüllen, hinsichtlich meines Bierkonsums, ist das aprupte Ende eines Komasaufabends, nämlich der Gang aufs Klo. Gemütlich zünde ich eine Zigarette an, zeige guten Willen und gebe Lisa auch eine. Gerade in dem Moment kommt Klaudia hinzu, die sich von hinten angeschlichen hat.

 

"Na, ihr beiden, alles in Ordnung?" - " Natürlich, wie sollte es auch anders sein."

 

Lisa hingegen geht eingeschnappt zu den anderen. Scheiße, was mache ich jetzt? Flüchten, einen bescheuerten Spruch abgeben, netten, unpersönlichen Small - Talk führen? Irgendwie kann ich mich für keine Option begeistern. Aber Klaudia läßt sich bekanntlich nicht sehr leicht verjagen.

 

"Läuft es zwischen dir und Lisa noch gut?" - "Natürlich, kann man das etwa nicht sehen. Besser ist es noch nie gelaufen."

 

Verdammt, ich muß weg von ihr. Sie trägt dasselbe Parfüm wie früher und hat sich auch noch die gleiche Frisur schneiden lassen. Alles um mich herum fängt an, Karussel zu fahren. Klaudia will mich heute in die Falle kriegen. Ich kann es an ihrem Gesichts-ausdruck ablesen, der mir (wie schon früher verrät), daß sie mal wieder gepimpert werden will. Zu meiner Erlösung kommt Lisa dazwischen, die mir voller Widerwillen ein Bier in die Hand drückt. Damit gibt sie mir einen gutgemeinten Wink, nach dem Motto, ich tue dir einen Gefallen und du mir einen, indem du so schnell wie nur möglich von Klaudia verduftest. Diese Chance lasse ich natürlich nicht ungenutzt und wende mich Marcus zu. Er befindet sich in seinem Metier. Zwei hübsche Mädchen stehen neben ihm, die er in seiner Trunkenheit über Brüderschaftsküsse aufklären will. Ein Spiel, daß er auch schon mit siebzehn Jahren bis zum bitteren Ende durchgezogen hat. Man könnte meinen, Marcus wäre kein Stück älter geworden. Im Gegenteil. Seine Raffinesse ist um einiges gestiegen. Geschickt und mit viel Humor schafft er es immer wieder, einen Kuß zu bekommen. Während Marcus beschäftigt ist, schenke ich mir einen Whiskey mit Eis ein. Lisa steht bei Janine. Es macht den Eindruck, als ob sie sich über mich unterhalten. Da möchte ich natürlich nicht stören. Frauenunterhaltungen sind größtenteils totlangweilige und nichtssagende Gespräche über sinnlose und alberne Gefühlsduseleien. Irgendwie geht mir Klaudia nicht mehr aus dem Kopf. Ihr Parfüm flattert immer noch in meinem Nasenflügel umher. Aber es hat sich alles zwischen uns beiden erledigt. Diesen Streß werde ich mir nicht noch einmal antun.

 

Nach dem Videoabend bei Klaudia hatte ich keinerlei Spaß mehr im Leben. Sie genoß zwar ebenso wie ich die Zeit sexueller Freuden, beide erlebten wir den Augenblick der höchsten Erregung. Wochenlang waren wir Sklaven des Orgasmus und der wirkliche Sinn von Liebe verlor immer mehr an Gehalt. Je stärker Klaudia mich vereinahmte, desto mehr verlor ich den Kontakt zu meinen Kumpels. Marcus konnte mich nicht einmal in der Schule ansprechen. Immer war Klaudia dabei und kontrollierte meine Schritte. Wie konnte ich mich bloß so gehen lassen? War etwa der Sex mit ihr wirklich so phantastisch, daß ich an nichts mehr anderes dachte? Monatelang fehlte jeglicher Kontakt mit Marcus. Selbst Lisa hatte mich aufgegeben. Sie meinte, daß ich ein unansprechbares Ekel ohne eigene Identität gewesen wäre. Damit lag sie leider im Recht. Klaudia nahm mich so sehr in Besitz, ohne Chancen einer Flucht. Wie auf Drogen verfolgte ich den Alltag, sehnsüchtig darauf wartend, ihren Körper zu spüren. Wie ein Zombie wanderte ich durch die Straßen. Irgendwann gelang es Lisa, über Klaudias Rücken hinweg, mich in eine Ecke zu zerren. Sie schüttelte mich voller Tatendrang in die Realität zurück. Schreiend stand sie da und appellierte an meine Vernunft. Sie meinte, daß ich mich wie ein naiver, kleinkarierter, dümmlicher Junge verhalten wurde. Ein stupides, nichtsdenkendes Anhängsel einer gierigen Göre. Ein mieses Arschloch, daß seine Freunde im Stich ließ, um egoistisch seiner Freuden zu frönen. Erst da ging mir ein Licht auf und ich verstand, daß mir ein großer Fehler unterlaufen war. Wie konnte ich nur so kurzsichtig gewesen sein? Was hatte mich zu diesem Fehler gebracht? Das einzige, was ich jetzt noch machen konnte, war meinen ganzen Mut zu nehmen, mich aufzuraffen und einen Schlußstrich unter unsere Beziehung zu ziehen, Klaudia gehörig den Marsch zu blasen und sie in das Reich der Verlassenen zu schicken. Dort sollte sie über ihre beschissene Art, Beziehungen zu leben, nachdenken. Keinem anderen Jungen würde ich es wünschen, meine Erfahrungen, die ich mit Klaudia erlebt hatte, am eigenen Leibe spüren zu bekommen. Tagelang saß ich an meinem Bett und überlegte mir, wie das Ende aussehen sollte. Irgendwie war es am Anfang eine wunderbare Zeit. Erst als Klaudia und ich das erste Mal zusammen vögelten, bekam sie einen Knacks ab und wollte mich die ganze Zeit um sich herum haben. Meine Freiheiten als Single hatte ich nicht unbedingt in Gefahr gesehen, da ich davor schließlich mit Lisa gebunden war. Um zu erfahren, was mir aus den Händen geglitten war, brauchte ich ein paar Tage Abstand. Ein Wochenende auf einer kleinen Hütte, die Marcus seinen Eltern gehörte, gab mir die Gelegenheit über Klaudia und über mich nachzudenken und ein wenig von der jugendlichen Freiheit zurückzugewinnen, die mir seit einigen Jahren abhanden gekommen war. Am ersten Tag betrank ich mich auf die allerübelste Art und Weise und lernte dabei das Klo als meinen besten Freund kennen. Eine Flasche Gin und ein Six - Pack reichten aus, um den Effekt zu erzielen. Leider blieb mir dabei keine Zeit, um mein Gefühlsleben in Ordnung zu bringen. Am zweiten Tag stand ich reichlich spät und mit starken Kopfschmerzen auf und startete einen Waldlauf, um meinen Körper und Geist wieder auf Vordermann zu bringen. Die erfrischende Naturluft und der herrliche Geruch von Tannenzipfeln brachten mich mindestens seit einem halben Jahr auf andere Gedanken. Niemand kontrollierte meine Schritte. Außer Marcus wußte niemand von meinem Ausflug. Zum ersten Mal fühlte ich mich wieder frei, ungebunden von jeglichem Zwang. Endlich war mir bewußt geworden, wie geil die jugendliche Freiheit sein konnte. Endlich checkte ich, was ich unbedingt benötigte, was mir schon mit zehn Jahren unmöglich gemacht worden war (da ich mit Lisa liiert war). Aber ein gewisses, flaues Gefühl durchquerte meine Bauchgegend. Was wäre, wenn mir das Single - Dasein nicht gefiele? Vielleicht war ich ein Mensch, der die Liebe benötigte, wie andere die Luft zum Leben? Je mehr ich darüber nachdachte, desto unentschlossener wurde mein Ergebnis. Nachdem ich schwitzend nach zwei Stunden extremen Leistungssport mit zitterigen Beinen und unkontrolliertem Herzschlag zur Hütte zurückkehrte, bemerkte ich, daß eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter war. Außer Marcus wußte doch niemand, daß ich hier war. Wer konnte der Störenfried sein? Welcher Wixer wollte meine sinnliche Ruhe stören? Voller Neugierde und gleichzeitiger Wut, im Bauch drückte ich den Startschalter. Was meine kleinen, schnuckeligen Ohren zu hören bekamen, war eine außerordentliche Zumutung für die ganze Menschheit. Klaudia. Verdammt, hatte man nicht mal seine Ruhe an einem Ort, den eigentlich nur Marcus kennen sollte? Die nervtötende Schnepfe forderte mich auf, sofort zurückzukommen. Was verlangte sie von mir? Keine einzige Sekunde hielt ich es mehr mit der Ische aus. Das positive an ihrem Anruf war, daß mein Entschluß hundertprozenzig sicher stand. Keiner konnte mich daran zurückhalten, endlich das zu tun, was mir vorher im Wald schon durch den Kopf ging. Jetzt war es an der Zeit, meine jugendliche Freiheit zu geniessen und die "Sturm - und Drängertage" zu starten. In höchster Eile stieg ich in den nächsten Zug und fuhr zurück. Kurz und bündig bewegte sich ein Bündel voller Energie und Entschlossenheit zu Klaudias Wohnung, klingelte an ihrer Tür und hielt ein Sermon, der vor Tatendrang und Selbstüberzeugung nur noch überquoll. Meine feste Stimme und der Wille war stärker als Klaudias sexuelle Anziehungskraft. Vor lauter Enttäuschung und Wut über meinen aprupten Schlußstrichbesuch, fing sie an, zu heulen, schluchzte ihr Taschentuch voll. Ich ignorierte einfach alles, verschwand aus ihrer Wohnung und somit auch für längere Zeit aus ihrem Leben.

 

Meine Rede mußte tatsächlich sehr wirkungsvoll gewesen sein, da sie keinen einzigen Versuch startete, die Beziehung wieder ins Rollen zu bringen. Jetzt war ich ein freier Mensch und genoß die darauffolgenden Tage mit besinnungslosem Komasaufen unter der Regie von Marcus.

 

Vielleicht hat sich Klaudia gebessert. Vielleicht sollte ich mit ihr reden und sie nicht so eiskalt abservieren. Aber man kann nicht zu allen nett sein. Lisa kommt zu mir und küßt mich auf die Backe. Marcus hat sich von seinen Gören gelöst und winkt mich her.

 

"Na, was hälst du von der dunkelhaarigen Ische? Sieht die nicht verdammt geil aus, absolut mein Typ von Frau! Vielleicht sollte ich sie mal zum Pizzaessen einladen. Was denkst du davon?"

 

Jeder Kommentar ist sinnlos. Bevor ich meinen Mund aufmachen kann, ist Marcus wieder bei der dunkelhaarigen Ische, die sich sehr belustigt und geschmeichelt fühlen muß von seiner nicht sehr überzeugenden Anmachtour. Aber das ist mir auch scheißegal. Irgendwie plagt mich das schlechte Gewissen. War ich damals, als ich mit Klaudia Schluß machte, vielleicht ein bißchen zu gefühlskalt? Sie war schließlich kein Unmensch. Wahrscheinlich wollte sie nur ihre erste Beziehung genießen. Vielleicht war es ihr gar nicht bewußt, wie sehr sie mich vereinnahmte. Ich weiß es nicht. Aber Vergangenes kann man bekanntlich nicht rückgängig machen. Und es ist auch besser so. Marcus kommt von seinem kleinen Ausflug in die Welt des Flirtens zurück. Mit einem enttäuschten Gesichtsausdruck stellt er fest, daß er wahrscheinlich sein ganzes vor ihm stehendes Leben mit Onanieren verbringen werden muß, falls nicht demnächst eine Ische auf ihn abfährt. Traurige Sache. Ich stosse mit Marcus auf die Frauen an und hoffe sein bestes. Unvorstellbar, daß das weibliche Geschlecht so einen wie meinen besten Freund links liegen lassen kann. Seine lockige Mähne und seine braunen Augen sind doch heißbegehrte Schönheitsbestandteile, welche die Gören anziehend finden sollten. Aber so kann man sich täuschen. Frauen sind manchmal undurchschaubare, widerspenstige, gemeine Subjekte. Marcus kann einem leid tun. Trotz hervorragender Bedingungen will es bei ihm irgendwie nicht richtig funktionieren. Als Ersatz für seine Triebe hat er sich nunmal dem Alkohol verschworen. Im Grunde genommen ist das keine schlechte Alternative. Man muß diese Ressource nur in einem richtigen Maße ausleben und die goldene Mitte treffen. Zu besoffen und zu nüchtern sind die beiden anderen Kehrseiten des positiven Betrunkenseinseffekt. Im Moment ist Marcus in dem perfekten Zustand, den man braucht, um seine Schwallkünste in Perfektion zu präsentieren. Ich bin gespannt, wie lange er das durchhält. Auf der eigenen Party peinlich aufzufallen, wäre nicht wünschenswert. Aus dem Kühlschrank fische ich mir ein frisches Bier heraus und beobachte die Szenerie im Wohnzimmer. Lisa unterhält sich mit Janine, Marcus hat sich Klaudia geschnappt, Daniel spielt mit Anne und Saskia Chicago, Simon und Katharina knutschen sich ab. Es macht mir einen Riesenspaß, die Leute zu beobachten.

 

 

III.

 

Der Abend verläuft weiterhin erstaunlicherweise in geregelten Bahnen. Alles ist so, wie es sein soll. Lisa präsentiert ihre Lust auf Sex, indem sie mir mit scharfen Blicken zuzwinkert. Marcus labert mit den weiblichen Gästen, Klaudia steht betrübt neben ihm, Daniel hat zum dritten Mal hintereinander drei Einser gewürfelt (sehr zum Mißfallen von Anne und Saskia, die keinen Bock auf roten Whodka haben), Simon und Katharina vögeln sich auf dem Klo. Ich gehe zur Anlage und checke die Musik ab. Die Plattensammlung von Marcus kann sich sehen lassen. Zwar sind einige miese Hip - Hop - CDs dabei, aber das hält sich in Grenzen. Soll ich Marcus einen kleinen Gefallen tun, indem ich TuPac einlege oder soll ich mir selber einen Gefallen tun, indem ich Neil Young in den Plattenspieler werfe? Nach einer kurzen Überlegzeit kommt mir der Einfall, Punkrock spielen zu lassen. Dead Kennedys in Bestform. Eine wunderbare Musik, die jegliche Partyfreuden bei Punkrockhasser zunichte machen kann. Tja, meine Lieben, man kann nicht immer alles haben, was man will. Diese leidige Erfahrung mußte ich in meinem Leben auch schon einige Male machen.

 

Ich war elf oder zwölf Jahre alt. Daniel, ein alter Grundschulkumpel, und ich beschlossen, eine Bande zu gründen und zwar nach dem Vorbild der Fernsehserie "Die Rote Zora". Diese Gelegenheit bot sich hervorragend an, um den aufmüpfigen Nachbarskinder zu zeigen, wo der Hase langläuft. Sie waren ständig in der Überzahl und überfielen uns beide beinahe jeden Tag nach der Schule. Daniel und ich hatten wirklich die Schnauze voll und wollten diesen Idioten diese Folterqualen und Erniedrigungen auf übelste Art und Weise zurückzahlen. Innerhalb kürzester Zeit erklärten wir unseren Feinden und Menschenrechtsverletzern den Krieg, indem wir die Kadaver einiger toter Mäuse (von unserer Miezekatze Muschi gefangen) in ihre Schultaschen versteckten und sie somit zur Konfrontation aufforderten. Die verzerrten, vor Panik entsetzten Gesichter waren ein erfreulicher Anblick für uns und gespannt warteten wir auf ihre Rache, auf die wir natürlich schon sämtliche Vorbereitungen getroffen hatten. Daniel und ich konnten es kaum noch erwarten. Wir richteten im leerstehenden Hobbyraum neben der Garage unseren Stützpunkt ein und bauten einen Folterstuhl. An den Stuhl schlossen wir ein Stromaggregat an (leider war dieser nicht mehr funktionsfähig, zu unserem ehrlichen Bedauern). Aber wir hatten vorgesorgt und kauften uns das dickste Seil ein, daß im Handel käuflich war. Zur Absicherung des Hobbyraums bauten wir ein stärkeres Schloß ein. Somit konnte der Bandenkrieg beginnen.

 

Schreck laß nach. Laura und Karsten betreten die Party. Die beiden sind seit längerer Zeit als die Partyschrecken bekannt. Warum hat Marcus sie eingeladen? Oder haben sie nur durch Mundpropaganda davon Wind bekommen? Irgendwie muß ich sie vergraulen. Karsten bewegt sich auf den Kühlschrank zu. Er will sämtliche Getränke in kürzester Zeit in sich hineinschütten. Laura hingegen beweist ihre Höflichkeit und gratuliert Marcus zu seinem Geburtstag. Das ist ihre typische Methode, um gute Atmosphäre zu schaffen. In ein paar Stunden sieht alles anders aus. Kaputte Lampen werden auf dem Boden liegen, zerschellte Bierflaschen an der Decke hängen, Brandflecken den Teppichboden säumen, das Klo aus der Fassung herausgerissen sein. Ich bin gespannt, wie Marcus die Lage unter Kontrolle halten will. Bisher hatte dies noch kein Gastgeber geschafft. Aber falls Laura und Karsten ausflippen sollten, stehe ich natürlich meinem bestem Freund aufopfernd zur Seite.

 

Daniel und ich waren gemeinsam auf dem Schulweg, als Tim, Mark und Florian aus dem Gebüsch stürmten. Überrascht von diesem fiesen Angriff war es uns beiden nicht möglich, zu fliehen. Sie nahmen uns in den Würgegriff und schlugen uns in den Bauch. Sie meinten, daß dies die Rache sei für die Mäuseaktion. Mit einer blutigen Nase stand Daniel da, ich hingegen versuchte, einen Ausweg aus dieser beschissenen Situation zu finden. Doch Florian hatte mich voll und ganz im Griff. Selbst mein Meisterschlag in die Eier war vergebens, da Tim meine zappelnden Beine fest unter Kontrolle hatte. Sie schmierten uns mit stinkender Gülle ein, warfen uns in einen Komposthaufen und verschwanden. Daniel röchelte nach Luft und fluchte vor sich hin. Eins war sicher. Das konnten wir nicht so locker auf uns sitzen lassen. Wir mußten härtere Kaliber aufziehen. Sie sollten erfahren, zu welchen brutalen Taten wir fähig sind. Damit unsere Eltern nichts von unserem Kleinkrieg mitbekamen, sprangen wir in einen nahegelegen See, um den Gestank von unserer Haut und den Kleidern abzuwischen. Gegen den Dreck hatten wir allerdings kein Gegenmittel. Aber kleine Kinder kommen bekanntlich immer etwas schmutzig von der Schule nach Hause. Mittags setzten Daniel und ich uns in den Hobbyraum und arbeiteten einen Plan aus. Wir kamen auf die Idee, Florian, den Anführer der Bande zu kidnappen und ihn in unserem Stützpunkt gefangenzuhalten. Aber wie sollten wir es bloß anstellen? Ständig waren die beiden Hackfressen Tim und Mark mit ihm zusammen. Irgendwie mußten wir ihn alleine kriegen. Aber wie? Daniel meinte, Lisa als Köder einzusetzen, wäre eine Möglichkeit. Meine Lisa, dachte ich, als Köder für den größten Wixer aller Zeiten. Nein, viel zu riskant. Aber Daniel konnte mich nach längerer Überredungszeit von der Idee überzeugen. Er war sich sicher, daß Florian heimlich Lisa anhimmelte. Damit lag er richtig. In der Schule beobachtete ich ihn, wie er neidvoll uns beiden hinterherspionierte und wie er kurz vor dem Heulen war, wenn ich Lisa einen Kuß gab. So gesehen war es die beste Idee, die Daniel seit langer Zeit hatte. Nur noch die Feinheiten des Plans fehlten, um ihn zur Perfektion zu bringen. Aber bekanntlich ist die Spontanität die klügste Waffe der Postmoderne. Am nächsten Morgen stellte ich mich provozierend vor Florian und seiner Dödelgang und sagte, daß Lisa ihn gerne sprechen würde. Man konnte von Glück reden, daß sein Gehirn nicht gerade schnell arbeitete und er mit einer großen Portion Naivität bedeckt war. Sabbernd vor lauter Vorfreude, seiner Angebeteten näher zu kommen, lief er um die Ecke und tappte in unsere Falle. Daniel und ich warteten schon auf ihn und stülpten einen stinkenden Mehlsack um seinen hohlen Kopf. Schreiend und mit allen Körperteilen zappelnd stand er da und war voll und ganz unserem bestialischem Willen ausgeliefert. Der Racheakt konnte beginnen. Daniel und ich machten den restlichen Schultag blau und schleiften stattdessen Florian in unseren Stützpunkt, wo wir ihn nach meisterlicher Art an den allseits beliebten Folterstuhl fesselten. Als wir den Sack von seinem bescheuerten Kopf herunternahmen, war er wahnsinnig konfus, verdattert und kleinlaut. Man merkte ihm an, daß seine blöden Kumpels fehlten. Aber diese Situation verbesserte unseren genialen Plan. Florian schien eingeschüchtert zu sein, ohne Anwendung von Folter. Hoch lebe die psychische Gewalt. Stotternd gab er ein paar unverständliche Worte von sich und fing an zu flennen, wie ein Schloßhund, dem sein Knochen geklaut worden ist. Unbeschreibliche Schadenfreude überkam Daniel und wir mußten unser Lachen unterdrücken. Es fiel uns außerordentlich schwer, die Ernsthaftigkeit zu bewahren. Florian hingegen fing an, um Hilfe zu schreien. Das war natürlich nicht erlaubt. In der Gefangenschaft hat man keine Mitbestimmungsrechte. Daniel nahm ein stinkendes Tuch aus der Ecke, daß mit sämtlichen Motorölschleimresten bedeckt war und stopfte es in die Fresse von Florian. Schweigen brach in den Raum. Wir warteten einige Stunden vor dem Hobbyraum und liesen unseren Gefangenen in seiner Einsamkeit schmoren. Bevor wir in Verhandlungen mit ihm traten, mußte er so eingeschüchtert und verängstigt sein, daß er unsere Forderungen kompromißlos annahm. Aber eine Sache hatten wir vor lauter Schadenfreude über den meisterhaft gelungenen Plan völlig verschwitzt. Seine Hackfressen - Freunde Tim und Mark checkten natürlich sofort, daß ihr Anführer Florian in einer mißlichen Situation steckte und von uns entführt worden war.

 

Jetzt ist es soweit. Laura und Karsten beginnen mit ihrer teuflischen Partyzerstöraktion. Zuerst machen sie es auf die humane Art, indem sie eine Schlager - CD in die Stereo einlegen und Samba tanzen. Das ist schon fast schlimmer als die Pseudoromantik am Lagerfeuer. Schlimmer als die Übertragung von Golf im Fernsehen. Markus bleibt trotz allem relativ gelassen. Bis jetzt ist es noch ertragbar, aber wann kommt der untolerierbare wunde Punkt, der einen zum Ausflippen bringen kann. Ich weise die beiden freundlich auf ihre Peinlichkeit hin und beschwöre ihren nicht vorhandenen friedfertigen Willen. Aber da stosse ich auf harten Granit. Bei soviel unauserkorener Dummheit beißt man sich den letzten Zahn aus. Ich gehe stattdessen zu Florian und Eva, die gerade die Showbühne der Party betreten haben.

 

"Hi, ihr beiden! Hoffentlich habt ihr genügend Nerven mitgebracht. Laura und Karsten wollen systematisch die Party aus der Verankerung lösen. Aber nicht mit uns. Da seid ihr hoffentlich der gleichen Meinung."

 

Florian sagt, daß er noch einige nutzbringende Waffen in seinem reichhaltigen Repertoire habe, er wäre bekanntlich schon mit einer Kalaschnikoff auf die Welt gekommen. Bisher hat er den größten Maulaffen in seine Schranken weisen können. Das möchte ich gerne sehen. Laura und Karsten sind schließlich keine pflegeleichten Hunde, die man erziehen kann. Bei ihnen hilft nur die geballte Faust. Während Florian zum Kühlschrank geht und sich ein kühles Blondes holt, höre ich Begeisterungsschreie von Marcus im Hintergrund. Er ist gerade dabei, seine besten Witze der geselligen Gesellschaft zu erzählen. Der Lautstärke nach kommen sie hervorragend an. Lisa kommt auf mich zu und will meinen Bierkonsum kontrollieren.

 

"Dein wievieltes Bier ist das schon? Willst du dich heute mal wieder totsaufen?" - "Nein, Koma reicht mir auch schon aus," antworte ich ihr.

 

Mit einem widerwilligen Stöhner geht sie in die Küche und schenkt sich einen fetten Gin Tonic ein. Nach dem Motto "was du kannst, kann ich schon lange". Das ist ein weiterer Punkt, warum ich Lisa so unendlich liebe. Irgendwann platzt ihr immer der Kragen. So zeigt sie mir, daß sie zwar über meine Trunkenheit sauer ist, aber sie kann sich auch besaufen. Ursprünglich wollten wir gemeinsam in die Falle springen, aber der erwartete Spaß auf Marcus Party ist im weitesten Sinne auch mit Sex zu vergleichen. Lisa drückt mir einen fetten Versöhnungsschmatzer auf die Lippen und verzeiht meinen nicht unterdrückbaren Komawillen. Das muß wahre Liebe sein, denke ich. Man soll seine Freundin ab und dann an der kurzen Leine halten, wenn es anders nicht geht.

 

Es war so gegen drei Uhr mittags, als Tim und Mark unseren Hobbyraum aufspürten und wie zwei Vollidioten auf die Tür einschlugen. Von sicherer Distanz beobachteten Daniel und ich das aberwitzige Szenario. Nach einiger Zeit checkten sie, daß ein Zettel an der Wand hing, auf dem unsere Forderungen daraufstanden. "Land und Freiheit für die Friedfertigen, totale Kapitulation der Verlierer!" Unterschrieben war das Papier mit einem Spritzer Ketchup, der das verflossene Blut Florians symbolisieren sollte. Wir glaubten wirklich, daß damit das Ende des Bandenkrieges eingeläutet war. Weit gefehlt. Tim und Mark, die Freundesverräter, liefen weg und lachten sich ins Fäustchen. Wie kann man nur seinen Anführer so mies im Stich lassen. Unser genial ausgeklügelter Plan war somit zum Scheitern verurteilt. Florian eine Nacht länger da zu behalten verstieß gegen unsere fairen Richtlinien. Betroffen von der niederschmetternden Niederlage mußten wir ihn in die Freiheit zurückschicken. Schluchzend wie ein Straßenköter schleichte Florian sich aus der Gefangenschaft. Daniel wirkte völlig verwirrt. Wieso hatten die beiden Hackfressen nichts unternommen? Fehlte ihnen etwa der Mut und die Klugkeit, ihren Anführer aus den Klauen des Feindes herauzuholen? Verbittert gingen Daniel und ich ins Bett und blickten dem nächsten Tag mit völliger Gleichgültigkeit entgegen. Sollten die Hackfressen ihre süße Rache an uns ausüben. Es spielte sowieso keine Rolle mehr. Als gute Verlierer muß man ab und zu seiner Niederlage in die Augen schauen. So hart es auch sein mag.

 

Splitterndes Glas und lautes Geschrei bringt mich in die Gegenwart zurück. Karsten läutet seinen ersten Terroranschlag auf die Partygemeinschaft ein. Ein wahres Wirrwarr von Scherben liegt auf dem Boden. Marcus flippt völlig aus.

 

"Du verdammtes Arschloch, verpiss dich sofort oder ich poliere dir deine verfickte Fresse! Flaschen an die Wand werfen kannst du auch in deiner Bude machen, wenn es dir hier zu langweilig ist!"

 

Mit einem Satz springt Florian ihm an die Kehle und holt zum Kinnschlag aus. Schnell schnappe ich mir einen Baseballschläger, der an der Wand hängt und stürme damit auf den Störer zu. Noch bevor seine Faust das Ziel erreicht, liegt Karsten mit einem Schmerzen-schrei auf dem Boden. Ein geschickter Schlag an die Knie ist immer ein nützlicher Helfer in brenzligen Situationen wie dieser.

 

"Wenn es dir nicht paßt, dann geh raus und sag hallo zu den Schlümpfen!"

 

Karsten blinzelt mir mit einem verschmerzten Gesichtsausdruck an und signalisiert seine Aufgabe. Einige Sekunden Entsetzen über die sinnlose Brutalität breitet sich im Raum aus. Aber es dauert nicht lange und alle haben sich wieder im Griff. Janine räumt die Scherben auf. Marcus trinkt ein Glas Whiskey auf den Schock. Karsten verdrückt sich in die Ecke, um neue Zerstörungspläne zu schmieden. Alle haben sich weitgehend unter Kontrolle. Noch einmal so ein Ausraster und er kann seine Zähne einzeln aus der Kanalisation fischen. Klaudia bewegt sich langsam auf mich zu. Ich hoffe nur, daß sie an mir vorbeigeht. Mit einem schmierigen "Fick mich - " Grinsen blickt sie mir in die Augen. Na Hübsche, heute wohl noch nicht gevögelt, denke ich dabei. Glücklicherweise können die Leute nicht Gedanken lesen. Niemand würde mit mir ein Wort wechseln, geschweige denn die Hand schütteln, wenn sie die Fähigkeit hätten, meine Gedanken zu erraten. Um Klaudia die kalte Schulter zu zeigen, geselle ich mich zu Marcus, der gerade ein paar fette Gin - Tonics einschenkt.

 

"Auf dich Alter und auf ein endgeiles Fest! Ich hoffe doch, daß ihr alle mächtig viel Spaß habt und die Party so richtig flippen laßt. Wer heute nicht Koma ist, wird unter die kalte Dusche gesetzt. Wer heute abkotzt, bekommt einen spendiert. Ist das nicht ein außerordentlich faires Angebot?" meint Marcus, der von allen blöd angegafft wird.

 

Typisch. Niemand sonst kann eine Party von einer Sekunde auf die nächste zum Schweigen bringen.

 

Daniel schaute immer noch reichlich verdattert aus der Wäsche. Verärgert über den gefloppten Plan, schlug er mit der Faust auf den Tisch. Tim und Mark hatten ihren Anführer verraten. Das stand fest. Aber wieso? Wie sich einige Tage später herausstellte, zog Florian mit seinen Eltern in eine andere Stadt, in der sein arbeitsloser Vater einen Job als Werkzeugmacher gefunden hatte. Irgendwie bekamen wir ein schlechtes Gewissen. Diese Entführung als Abschiedsgeschenk war nicht gerade ein moralischer Brenner. Zwar waren somit alle Angriffe auf uns gestoppt, aber glücklicher fühlten wir uns dabei nicht. Der armselige Rest der Hackfressen - Crew verbrachte ihre Tage mit Fußball und Nintendo. Wahrscheinlich spielten sie untereinander auch das Keksespiel, wer weiß. Wir hatten unseren Frieden.

 

 

IV.

 

Es ist so gegen 10 Uhr und die Bude füllt sich mit Leuten, die mir bekannt sind und anderen, die noch nie in mein Gesichtsfeld getreten sind. Aber alle sind freundlich und bringen einige Alkoholikas mit. Da vorne steht Philipp, einer meiner besten Freunde. Bestens gelaunt kommt er auf mich zu.

 

"Hi, alles klar bei dir." - "Kann mich nicht beschweren, bin auf dem Weg, besoffen zu werden." - "Na, dann muß ich ja jetzt schleunigst ein paar Biere intravenös einlöten." - "Klar, laß uns ein paar Biere gemeinsam trinken."

 

Wir gehen ins gemütliche Nebenzimmer, indem nur ein oder zwei verstreute Alkoholleichen ihren frühzeitigen Rausch ausschlafen.

 

"Na, Philipp, was gibt es neues bei dir? Klappt es mit deinem Studium der Popularmusik in Salford?" - "Ja, ist echt geil, aber ich vermisse euch alle tierisch. Die Unterhaltungen und die gemeinsamen Partys. Es ist echt voll gut, wieder hier zu sein." - "Ja, hab mir auch schon die Langeweile ohne dich aus dem Bauch verscheuchen müssen. Aber genung sentimentalisiert. Der beste Weg zurück in die heimische Routine ist es, das alte Brauchtum des gemeinsamen Lachens und Saufens zu repetieren."

 

Wenn ich besoffen bin, neige ich dazu, etwas geschwollen zu reden. Aber das braucht man nicht allzuernst nehmen. Das andere Extrem wird bald zum Vorschein kommen. Mit Philipp nach über einem halben Jahr der Trennung wieder rumzulabern und rumzualbern, läßt meine Laune stetig dem Gipfel näherkommen. Leider ist er (zu meinem Bedauern) nicht sehr unbeliebt und in wenigen Minuten ist der Raum mit unseren Freunden Marcus, Florian, Eva, Daniel, Lisa und anderen überfüllt, die ihn über seine Studienzeit ausfragen. Da mir diese ganze Sache von Briefen und Telefongesprächen bekannt ist, verziehe ich mich in die Küche, in der ein paar wundervolle Alkoholikas zum Mischen bereit stehen. Lisa steht plötzlich hinter mir und beschwert sich über mein Benehmen.

 

"Hallo, ich bin auch noch da, siehst du mich?"

 

Um dieser Frage Gewicht zu verleihen, fächelt sie mit den Händen vor meinem Gesicht.

 

"Du bist den ganzen Abend immer irgendwo, aber nie bei mir. Ich würde es echt nett finden, dich ab und dann zu sehen. Komm, gib mir einen Kuß."

 

Damit ist die Situation geklärt und ich benehme mich, Lisa zuliebe, einsichtig und umarme sie.

 

"Hi, sorry, aber der Abend ist ja noch nicht zu Ende. Wir werden den ganzen nächsten Tag für uns haben. Morgen haben wir Sonntag und da möchte ich neben dem alleraller-wunderbarsten und schönsten Mädchen der ganzen Zeitgeschichte aufwachen und in ihre vom Sonnenlicht verzauberten Augen blicken." - "Ach, du bist so lieb."

 

Zur Feier dieser nicht gerade intellektuellen Rede trinken wir einen braunen Tequilla zusammen und schieben uns die Orange durch ein kleines Zungenspielchen gegenseitig in den Mund. Dabei bekomme ich unbemerkt einen Ständer. Lisa grinst mich mit einem verschmitzten Lächeln an, nimmt meine Hand und schleppt mich in den leeren Keller. Sie schließt die Tür hinter uns zu und es klickert in meinem Verstand. Gegen einen Quickie habe ich nichts einzuwenden. In einem wilden Tempo reißen wir uns gegenseitig die Kleider von den Leibern. Links an der Wand steht ein volles Mostfaß, auf das sie sich setzt. Ich fühle mich wie verzaubert. Das monatelange Asketenleben hat mich so richtig scharf gemacht. Jede kleinste Hautpartie wirkt wie elektrisiert und die Hormone wandern im Eiltempo zum Hypothalamus. Hoffentlich hört niemand unser erregtes Stöhnen. Aber das läßt uns in dem Moment völlig ungerührt. Drei Minuten später betreten wir wieder die Hauptbühne der Partygesellschaft. Einmal durch die Haare gefahren und ein flüchtiger Kuß.

"Hmm, das war echt geil," flüstert Lisa mir ins Ohr. - "Bin eben noch nicht ganz aus der Übung. Ich weiß nunmal, was dir gefällt, Schatzi," laß ich etwas prolletig von mir.

 

Mit einem zuckersüßen Lächeln quittiert sie meine Bemerkung.

 

"Besauf dich nicht so erbärmlich!"

 

Und weg ist sie.

 

Als ich mit einem Glas Whiskey zur Stereo (oder wie Dieter Thomas Heck es nennt, nämlich Heimdiskothek) schlendere, sitzt Karsten davor und packt sich ein paar CDs in seine Tasche. Beinahe ungerührt von seiner unglaubichen Assozialität geselle ich mich zu ihm.

 

"Na, du kleine, miese Arschgeige, willste deine Sammlung aufstocken. Das läuft absolut null, negativ, unmöglich. Verstehst du das? Geht es in deine Riesensegelohren rein oder soll ich mich in der Sprache der völligen Gehirnabstumpfung mit dir unterhalten?" - "Verpiss dich Zwergnase und laß mich machen. Wenn du mir noch einmal dumm kommst, schlag ich dir deine kleine Moralfresse ein."

 

Da hat Karsten wohl ein Fremdwort mißverstanden. Hätte ich ein gewisses Pensum Moral heute eingepackt, wurde er schon längst die Party von draußen betrachten. Diebstahl ist schließlich tierisch unmoralisch, besonders wenn es um meine CDs geht.

 

"He, du Furzkanone, gib die Sachen wieder zurück oder du wirst dein Gesicht in einem vollgeschissenen Bahnhofsklo wiederfinden."

 

Um meiner halbherzigen Androhung ernst zu machen, hole ich Steven her, einer der bekannten Unbekannten (da ich ihn seit über vier Jahren nicht mehr gesehen habe und der erst gerade gekommen ist). Mit seinen knapp drei Zentnern schwankt er leicht beduselt zu uns herüber, schnappt sich Karsten an seinem Kragen und hebt ihn hoch.

 

"Na, was haben wir denn für ein Problem du dreimal Nasenlangpulliwixer. Willste hier ein auf großen Macker machen und dich ein bißchen mies benehmen. Hab schlimme Geschichten von dir gehört. Partys zerstören, Leute blöd anprahlen, ein auf verdammt scheiße machen. Stimmt das? Wenn ja, dann werde ich Kleinholz aus dir machen und danach als Brennholz fürs nächste Grillfest benutzen. Willst du das? Hä!"

 

Auweia, das hat gesessen. Karsten läuft auf einmal weiß an.

 

"Red lauter, du kleiner Holzmehlsack, ich versteh nichts." - "Laß mich runter, du Fettsack, sonst erlebst du dein blaues Wunder!" - "Aah, wird er mutig, na, reißt er seine Fresse auf, will er wirklich sein ganzes Leben auf dem Bauch schlafen und einen Stuhl nur noch auf einem Spezialkissen benutzen? Will er das?" - "Halt die Fresse, du Riesenmonstrum!"

 

Ups. Ich glaube, das war eindeutig zuviel. Trotz Stevens Großherzigkeit, hat er das Faß zum Überlaufen gebracht. Mit Schwung hievt er Karsten auf seinen Rücken und trägt ihn nach draußen. Zappelnd und mit seinen Fäusten auf ihn einschlagend, versucht er sich aus dieser Klemme zu befreien. Aber Karsten hat keine Chance. Hundert Meter vor dem Haus läßt Steven ihn mit einem professionellen Wrestling Wurf durch die Luft wirbeln. Mit einem geschickten Schwenker und einem diabolischen Schlag auf den Allerwertesten beendet er seine Kür. Karsten fällt mit lautem Geschrei auf den Boden. Laura kommt angerannt und beschwert sich über diese Brutalität.

 

"Wie könnt ihr bloß meinem lieben Freund etwas antun? Was hat er denn gemacht? Seid ihr wirklich solche Unmenschen?" - "Na, wir schmeißen jedenfalls keine Flaschen an die Wand und klauen auch keine fremde CDs, wenn du das mit Unmenschlichkeit meinst," gebe ich salopp als Antwort zurück. "Das werdet ihr noch büßen, das sage ich euch!"

 

Mit diesen angsteinflößenden Worten (hahah!) verlassen Karsten und Laura die Party. Ich gratuliere Steven für diese geniale Aktion. Bestens gelaunt gehen wir zu Marcus zurück und trinken ein Bier zusammen.

 

Steven ist ein sogenannter Uralt - Freund von mir. Schon im Kindergarten präsentierte er seine Vorliebe für sanfte Geistesgestörtheit. Im tiefsten Winter, bei minus 10 Grad Außentemperatur und 40 Zentimeter Neuschnee, ging er mit einem dünnen T - Shirt bekleidet ins Freie und spielte im zugefrorenen Sandkasten. Nur knapp konnte er einer bitterbösen Erfrierung entkommen, da die Kindergartentante sein Fehlen in letzter Sekunde bemerkte. So lernte jeder Steven als einen Verrückten kennen und dieser Ruf blieb ihm in den folgenden Jahren stetig erhalten. Bald wurden wir älter. Die Einschulung stand auf dem Plan. Niemals in seinem Leben wird man mit so vielen unterschiedlichen Leuten in einem Klassenzimmer sitzen. Vom selbstgeplagten Sozialfall bis zum Millionärssohn, vom türkischen Jung - Kickboxer bis zum amerikanischen Einwanderer war alles vertreten. Aber zurück zu Steven und meiner Wenigkeit. Ungefähr zwei oder drei Wochen nach unserem ersten Schultag waren alle Schüler kategorisiert und in eine Schublade eingeordnet. Steven hatte den Ruf eines nicht zimperlichen Schlägers, der bei jeder kleinsten Regung sein auffälliges Übergewicht und seine Stärke zeigte. Auch ich kam in den Genuß seiner Gestörtheit. Die Schulklingel läutete zur nächsten Stunde und alle rannten durch die Gänge, um pünktlich in den Unterricht zu kommen. Am Eingang pferchten sich die Kinder durch die Tür. Steven hingegen kämpfte sich ohne großen Kraftaufwand hindurch. Zu meinem Bedauern aber fiel er über meinen Fuß und landete dabei auf allen vieren. Dieses Attentat konnte er natürlich nicht so locker auf sich sitzen lassen. Schnaufend richtete sich Steven wieder auf, blickte mir in die Augen und holte mit seiner Hand aus. Sterne bildeten sich vor meinem Gesichtsfeld. Das linke Auge begann anzuschwellen, Tränen flossen. Lisa kam angerannt, um mich in ihre Arme zu schließen. Steven trottete ungerührt weiter. Am nächsten Tag kam seine Mutter wegen eines klärenden Gesprächs mit unserer Lehrerin in die Schule. Für einige Wochen war ich mit einem blauen Auge das entstellteste Kind. Eigentlich unglaublich, schaute man sich die unvorstellbare Zusammensetzung der krassesten Schüler an. Die Türken schlugen sich unbemerkt in den kleinen Pausen, die Sozialfälle klauten kleinen, naiven Mädchen ihre Geldbeutel, die Ami - Kids tauschten ihre Basketballstarsammelbilder untereinander. Aber seit dieser Sache war Steven immer ein treuer Begleiter. Vielleicht erkannte er in mir so etwas wie einen friedfertigen Gegenpol (was ja so nicht stimmte). Auf jedenfall bildete sich zwischen uns eine angenehme Freundschaft. Mit den Jahren wurden wir älter, fingen das Skaten an, man ging gemeinsam in die Kneipe undsoweiter. Ein üblicher Zeitvertreib für dreizehnjährige Jungs, die ihr ganzes Taschengeld für den Flipper ausgaben.

 

 

V.

 

Ein kurzer Blick auf die Uhr verrät mir, daß es kurz vor elf ist. Puuh. Ich bin ziemlich besoffen. Sogar fett besoffen. Während der Alkohol sich in meinem Körper immer mehr ins Sprachzentrum ausbreitet, gönne ich mir noch eine Zigarette, so lange das Selberdrehen ohne Probleme funktioniert. Daniel steht mit Florian an der Heimdiskothek und palavert über Musik. Da geselle ich mich mal hinzu.

 

"Seit Grateful Dead gibt es keine ernstzunehmende Rockband mehr," meint Daniel. "Sie haben sozusagen die E - Gitarren erfunden und sich nie von irgendwelchen Kommerzheinis unterkriegen lassen." - "Hmm, das ist jetzt aber stures Fangelaber. Damit läßt sich nicht argumentieren. Wenn von Gitarren die Rede ist, da kenn ich mich aus. Bei meiner klassischen Musikausbildung lernte ich Leute kennen, die Gitarre nicht nur spielen, sondern sie auch fühlen konnten. Der legendäre Tim Buckley sang sogar durch seine Gitarre."

 

Um Florians Redeschwall zu unterbrechen, stelle ich meine notorische Top - Fünf - Frage.

 

"Welche Bands haben euch bisher am meisten geprägt? Welche CDs würdet ihr nie aus der Hand nehmen?" - "Tja," meint Daniel, "das ist ne schwierige Frage. Aber natürlich alle Grateful Dead ohne bestimmte Reihenfolge auf Platz eins. Danach die unvergessene Patti Smith. Hmm, mal überlegen. Embryo auf Platz drei. Natürlich der Frisco - Sound im ganzen. Da läßt sich nur schwer ne Reihenfolge finden. Und zuguterletzt meine Freundin, die würde ich nie aus der Hand nehmen, ho,ho." - "Danke Daniel, das war echt sehr detailliert, aber ist o.k. Meine Top - Fünf ist ein bißchen genauer. Tocotronic "Digital ist besser", danach auf Platz zwei die gelungenste Platte Neil Youngs, nämlich "Harvest". Dann wird es schwierig. Da muß ich mir überlegen, aus welcher Lebenszeitphase man sich dort etwas herausgreift. Bei den Punk - Rock - Klassikern wurde ich Dead Kennedys nehmen und zwar die "Give me convenience OR give me death". Aber momentan entscheide ich mich für Steakknife, das Debütalbum. Auf Platz vier R.E.M. und zwar die Platte mit "The One I love". Und last but not least die Notwist "shrink", genial, gemütlich und immer anhörbar."

 

Florian ächzt auf und will unser Gespräch damit beenden, da er die meisten dieser Bands nicht kennt und sie nicht einordnen kann. Daniel und ich lieben diese Gespräche, aber nur deshalb, weil wir uns gerne selber sprechen hören. Aber bei den Top - Five – Getränke-fragen hat auch Florian ein Recht, mitzureden.

 

"Na, was sind deine alkoholischen Lieblingsgetränke?" - "O.K., die kann ich beantworten," sagt Florian," Nummer eins Rotwein, und zwar den Rioja, ein leckerer spanischer Wein, aber nur, wenn er trocken ist. Auf Platz zwei Beckïs. Dann Sangria, aber nur den Selbstgemachten. Hmm, Ffrüchtebowle find auch noch lecker, so mit Sekt, Whodka und so. Nummer fünf ist Whodka - Lemon. Zufrieden?" - "Na, ja, wollen wir mal nicht so streng sein," gibt Daniel mit einem süffisanten Lächeln zurück.

 

Wir beide haben die gleiche Top - Five - Liste, was wohl daran liegt, daß wir sehr oft zusammen einen trinken gehen.

 

"Ich fasse mich mal kurz. Nummer eins Gruibinger Brunnenbier, dann natürlich Gin - Tonic, am besten Beefeater, hmm, Whiskey - Cola, Black Label, Nummer vier , Kristallweizen von Heubacher und natürlich das unschlagbare Sudbier Dinkelacker edelherb."

 

Das ist die ehrliche Liste eines wahren Mannes. Bei Florian könnte man meinen, er hätte sich umoperieren lassen. Während Daniel nun auf die Literatur kommt, gehe ich besser. Diese Art von Gespräch geht mir nämlich ziemlich auf die Nüsse. Es gibt nur wenige Schriftsteller, die es verdient haben, gelesen zu werden. Bei den deutschen Autoren fällt mir leider nur Struckrad - Barre ein, der mit "Soloalbum" ein göttlich bösartiges Werk veröffentlicht hat. Aber ich möchte ja keine Werbung machen.

 

Kauft nur mich!

 

Philipp kommt nach längerer Abwesenheit auf mich zu.

 

"Mann, voll nervig. Jedesmal muß ich die gleiche Geschichte erzählen. Die Uni ist wie in "Fame". Man tanzt in den Gängen, spielt Musik, und so weiter. Jetzt geh ich mir einen fetten Gin - Tonic holen. Willst du auch einen?"

 

Da sag ich natürlich nicht nein. Lisa steht zwar schon in den Startlöchern und schaut mich mit einem bösen Blick an. Aber ich kann nicht anders. Philipp war ein halbes Jahr lang in England. Da darf man doch einen Willkommensdrink zusammen schlürfen.

 

Die lustigsten Abende hatte ich mit fünfzehn oder sechszehn Jahren, als ich mit Philipp die ersten Besäufnisse in unserer Stammkneipe hatte. Während die anderen in die Tanzschule gingen, saßen wir mit einem kühlen Blonden am Tisch und amüsierten uns köstlich. Während die anderen immer brav mit dem Bus heimfuhren, trampten wir am Straßenrand. Für diese Abende gab es auch einen Namen. Sauf - und Tramp - Abend. Mit der Zeit wurde er unser eigener Kult und so pflegten wir jedes Wochenende diese Sache. Im Winter war es leider kein Vergnügen. Da wir beide in der Vorstadt wohnten, mußte man sich auf die Autofahrer verlassen. Eine Bus - oder Zugverbindung gab es um die späten Abendstunden keine mehr. Bei bitterkalten Minusgraden harrten wir aus, machten einen auf mitleiderregende Teenies, die sich kein Taxi leisten konnten und hofften auf die Freundlichkeit der Leute. Oftmals hatten wir echt ein Schweineglück und ab und zu mußten wir die Füße unter die Arme nehmen. Was dachten sich die Leute? Waren Tramper für sie wirklich eine kriminelle Gefahr? Wir waren doch nicht in Berlin. An Weihnachten nahm uns zum Beispiel ein älterer Geschäftsmann mit seinem Mercedes mit. Das war wirklich ein Wunder. Normalerweise konnte man bei dieser Sorte von Autos seinen Daumen gleich wieder in die Tasche stecken. Als Philipp ihn fragte, ob er eigentlich öfters Tramper mitnehme, antwortete er, daß ja heute Weihnachten sei. Heuchler. Aber es war leider unmöglich, sich seine Autofahrer persönlich auszusuchen. Ein schlimmes Erlebnis hatten wir mit einem ultrabesoffenen Audi 80 - Fahrer. Leider checkten wir seinen Zustand erst als wir schon Platz genommen hatten und zum rausspringen war es auch schon zu spät. Er pöbelte uns die ganze Fahrt dumm von der Seite an, wurde aggresiv und beschimpfte uns, weil wir nichts zum Kiffen hatten. Er versuchte seinen ganzen Weltschmerz auf unseren Schultern abzulegen. Arschloch. Aber es gab auch lustigere Erlebnisse. Einmal wurden wir von einem typischen Manta - Fahrer mit Fuchsfell und Heavy - Metall - Frisur mitgenommen. Außerdem hatte er einen höchst amüsanten Sprachfehler. Er lispelte wie Schwanzus Longus in "Das Leben des Brian". Beim Trampen lernt man eine bunte Palette unterschiedlicher Typen kennen. Ein Querschnitt durch die ganze Vielfalt gesellschaftlicher Akteure. Zu meinem Bedauern nahmen die Sauf - und Trampabende ab, als wir den Führerschein hatten. Zum einen wurden wir dadurch natürlich um einiges unabhängiger, aber die jugendliche Ungebundenheit ging damit ein Stück weit verloren. Zum anderen froren wir nicht an eiskalten Wintertagen. Meistens hatte der Fahrer die Arschkarte gezogen. Während die anderen sich hemmungslos besaufen konnten, saß er am Tisch und nuckelte an seinem Cola. Um der alten Zeiten willen, wiederholten Philipp und ich an ausgewählten Wochenenden unsere Sauf - und Trampabende. Sie waren aber nie mehr so lustig wie am Anfang.

 

Na, wer kommt denn da zur späten Stunde. George und Vera. Sofort eile ich zu meinen Freunden, die mir schon seit der ersten Klasse bekannt sind.

 

"Mußte man davor noch moppeln, oder," frage ich ironisch. - "Jaja, natürlich, was denkst denn du," gibt die liebe Vera frech zurück. "Wo ist Marcus? Wir haben sein Geburtstagsgeschenk dabei, daß er eigentlich schon letztes Jahr hätte bekommen sollen. Du weißt ja, du hast ja auch mitgelöhnt. Den schwarzen Kapuzenpulli mit TuPac hintendrauf." "Ja, klar, George, da wird sich der Junge freuen, falls er überhaupt noch irgendetwas kann. Er steht dahinten bei Klaudia. Moment, ich komme kurz mit."

 

Da der Partyraum schon ziemlich gerammelt voll ist, müssen wir uns regelrecht durchkämpfen. Aber Marcus hat uns schon gesehen.

 

"Hi Vera, hi George! Schön (rüülps), daß ihr noch kommen konntet."

 

Voller Euphorie nimmt er Vera in die Arme und läßt ein diabolisches Lachen von sich. Hinter ihm steht Klaudia, die mich mit einem "du bist zu spät - hab schon gefickt - Gesicht" angrinst. Na, hoffentlich hat es keinen Spaß gemacht.

 

Mit George verbindet mich auch eine lange Freundschaftsgeschichte. Am Anfang konnte ich ihn absolut null ausstehen, da er ständig mit Daniel zusammen war. Sie liefen sogar zusammen nach Hause, während ich wie der letzte Trottel hinterhertrottete. Daniel wollte damals unbedingt einen Hund haben und Georges Eltern besaßen zufälligerweise einen von der Sorte. Von einem Moment auf den anderen war der gemeinsame Bandenkrieg gegen die Hackfressen - Crew für ihn gelaufen. Wochenlang wurde ich alleine gequält, in Güllefässer hineingeworfen und mit Hundekacke (welche Ironie) eingerieben. Doch Daniel lies es völlig ungerührt. Er spielte in Seelenruhe mit Augustus, dem Hund. Doch ein paar Wochen später hielt ich es in meiner Haut nicht mehr aus und freundete mich mit George an. Natürlich hatte ich unehrliche Hintergedanken. Auf keinen Fall sollte er mir Daniel vor der Nase wegschnappen. Ich wollte ihn hinterrücks abzocken. Während die verschiedensten Optionen in meinen Kopf herumschwirrten, behandelte mich George wie einen wahren Freund. Er machte es mir verdammt schwer, fies zu sein. Irgendwie schlug mir mein Gewissen eine Falle und so entwickelte sich im Laufe der nächsten Zeit eine verdammt gute Freundschaft, die hoffentlich noch viele Jahrzehnte andauern wird.

 

"He Marcus, wo ist das Bier," fragt George ihn, "ich hab einen ordentlichen Durst am Start." - "In der Küche, wo sonst!"

 

Es ist jetzt so gegen ein Uhr und die Bude ist zum Bersten voll. Ich habe beschlossen, eine kleine Saufpause einzulegen und schlürfe an einem Sprudel. Lisa macht sich darüber lustig.

 

"Na, soll ich dir kurz ne warme Milch machen, hoho!"

 

Selber lustig. Sie hat auch schon einiges intus. Dabei sieht sie echt verdammt gut aus. Ihre Bäckchen bekommen einen roten Teint, passend zu ihrer Haarfarbe. Echt süß. Hastig küßt Lisa mich auf meine Nasenspitze und fällt dabei schier in eine Bierdosenpyramide. Saskia, die auf dem Boden liegt, kriegt sich vor Lachen kaum noch ein. Ihr hat wahrscheinlich jemand ins Hirn geschissen. Mädchen, wenn du keinen roten Whodka verträgst, dann lass das Chicago spielen sein. Aber nein, sie mußte natürlich das coole Girl mimen, das jeden Scheiß mitmacht. Wenige Sekunden nach ihrem Lachanfall rennt sie auf die Straße und kotzt. Daniel baut seelenruhig an der Pyramide weiter, während er lässig einen Wickel in der Fresse hat. Ich nehme sie ihm aus dem Mund und ziehe daran. Wenn ich gerade wieder nüchtern werde, möchte ich wenigstens high sein. Daniel hat mal wieder abgeerntet. Diesmal schmeckt es sogar nach Gras. Das letzte hatte nur den Eigengeschmack von Rauchfleisch. Aus der Heimdiskothek schmettert das neue Lied von Hausmarke "Für immer" uns entgegen. Ein Grund zum Abtanzen. Auch Marcus und George haben es vernommen und zu dritt breaken wir zum Rhythmus des Beats.

 

 

VI.

 

Nach dem Song wird es allerhöchste Zeit, sich wieder dem Alkohol zu widmen. Und zwar im engsten Freundeskreis. Marcus, George und ich gehen dazu ins heilige Privatgemach, öffnen eine Whiskey Black Label - Flasche und atmen den Duft göttlichen Destillats ein. Was der Nonne der Heilige Geist, ist dem Manne sein Whiskey. Mich überkommt immer ein wohliger Schauer, wenn ich mit den zwei Jungs zusammensitze und in einem angemessenen Zeremoniell ein paar Gläser trinke. Diese Momente sind in den letzten drei Jahren äußerst rar geworden, da George in einer anderen Stadt studiert. Meistens besucht er uns, wenn Vera gerade da ist. Sie studiert auch in einer anderen Stadt als wir drei. Aber die Distanz soll heute kein Grund sein, einen auf traurig zu machen. Marcus holt frische Eiswürfel aus dem Kühlschrank und füllt die Gläser auf. Ich glaube, heute könnte er auch einen Jörg Fauser, den deutschen Charles Bukowski - Verschnitt, unter den Tisch saufen. Trotz seiner Promille ist er immer noch überraschend standhaft. Eine angenehme Stille umgibt uns. Eine Weile abwärts vom Partygetümmel kann den Geist recht gut erholen. Außerdem müssen alte Freunde nicht immer miteinander reden. Wir können uns auch ohne Worte verständigen. Der Geschmack des Whiskeys erinnert uns an alte Zeiten.

 

"Weißt du noch," sagt George," als wir sechszehn waren, bekamen wir nicht einmal ein Bier in unserer Stammkneipe, weil Alexander als Bedienung am Start war und uns spaßeshalber verarscht hat. Aber wir schnallten das ja nicht. Mann, war das peinlich. Danach gingen wir in eine stadtbekannte Trinkerkneipe namens Bierakademie. Ne Akademie war das auf keinen Fall. Vielleicht ne Forschungsanstalt für Lebergeschädigte. Am nächsten Tag wußte es die ganze Klasse, daß wir dort waren. Eine Woche lang mußten wir das Geläster der Leute über uns ergehen lassen. Meine Fresse, war das peinlich." - "Mein erstes Kneipenbesäufnis hatte ich mit achtzehn Jahren," erzählt Marcus," davor gab es die Wiesenpartys, ihr wißt es ja. Mann, das war auch mordsmäßig peinlich, als ich meine erste Zigarette rauchte, da hat es mich völlig umgeblasen. Ich verlor völlig meine Orientierung. Zwei Tische und mehrere Stühle fielen um und alle schauten mich an. Mann, war das peinlich. Wirklich die ganze Kneipe drehte ihre Köpfe zu mir um. Sie dachten, daß ich absolut besoffen sein muß. Aber nein, es war nur die verdammte Benson & Hedges - Zigarette."

 

Marcus ist in dem Falle ein Spätzünder. Kneipen sind für ihn immer noch kein obligatorischer Bestandteil eines Saufabends. Er ist mehr der Disko - Typ. Ein Gefangener des Hip - Hop - Beats. Leider kann er nicht jedes Wochenende ins Depot in Tübingen oder in den 0711 - Club gehen. Dazu hat er zuwenig Kohle. Für mich sind Kneipenabende das höchste der Gefühle. "Capone - Keine Woche ohne" - mein Leitspruch. George ist irgendwie alles egal, hauptsache es macht Spaß und es ist nicht so teuer. Darunter kann man alles verstehen. Er ist nicht besonders wählerisch, wenn es um die Abendgestaltung geht. Das war auch früher nicht anders.

 

Während ich das Telefon zum Heißlaufen brachte und versuchte, einen coolen Abend zu planen, saß er gemütlich daheim und schaute Glotze. Nicht mal zum Zähne putzen hat es ab und dann gereicht. Die Abendgestaltung raubte mir den letzten Funken Verstand. Kein Wunder, daß ich mich danach selber unter den Tisch saufen mußte nach so vielen Stresshormonen, die in meinem Körper Kettenkarussell fuhren. Aber diese Sache ist ein alter Hut und gehört schon lange in die Kiste vergangener Tage.

 

George füllt die Gläser auf. Von der Küche kommt Geschrei. Wahrscheinlich pinkelt Daniel ins Spülbecken. Das macht er fast immer, wenn ihm das Gras in den Kopf gestiegen ist. Vielleicht wäre er ein bekannter Dadaist geworden, wenn er in den 20er Jahren in Paris gelebt hätte. Das waren bekanntlich die Meister der Provokateure. Uns läßt das alles ziemlich kalt. Wir stoßen gemeinsam auf unsere Freundschaft an. Mit einem leisen Knarren geht die Tür auf.

 

"Toll, ohne mich zu saufen, echt voll assimäßig," gibt Philipp stinkig von sich. - "He, sorry, hab ganz vergessen, daß du auch da bist. Komm setz dich hin und trink ein Glas auf uns."

 

Marcus füllt ihm in bester Gastgebermanier ein Glas mit Black - Label ein.

 

"Übrigens, George, ich hab dir aus England ne Stange Silk Cut mitgebracht." - "Waaaas? He, gib her. Ist ja ultragöttllich. Voll geil, daß du daran gedacht hast. Bist ein wahrer Kumpel." - "Na, Marcus, auch eine," fragt Philipp. - "O.K., bin ja kein Spießer."

 

Das Knistern des Zippofeuerzeugs, ein leises Ziehen an der Zigarette, gemählisches Ausblasen des Rauches. Was braucht der Mensch mehr? Die alte Vierer - Clique so nah zusammen. Wie in alten Tagen. Die einzige äußerliche Veränderung ist die Haarlänge. Außer Marcus und meine Wenigkeit haben sich George und Philipp die Haare kürzer schneiden lassen. Unser gemeinsamer Leitspruch "Lange Haare sind eine Lebenseinstellung" ist wohl in die Jahre gekommen. Aber er diente wohl eher als Floskel und Abgrenzung gegenüber den Normalos. Unser Leben beginnt zusehends andere Wege zu gehen. Das ist auch völlig in Ordnung. Veränderungen sind wichtig. Früher haben wir uns jeden Tag gesehen. Heute sieht man sich vielleicht vier oder fünfmal im Jahr. Damit muß man leider leben. Manchmal vermisse ich die Jungs und die alten Zeiten. Wenn ich mich jetzt selber hören würde, mit meinen fünfundzwanzig Jahren, ständen mir die Haare zu Berge. Klingt irgendwie nach Rentnermentalität. Aber in meinem trunkenen Zustand wird man meistens sentimental.

 

Ich muß zugeben, daß es Filme gibt, bei denen einige Taschentücher draufgingen. Das ist eine Eigenschaft von mir, die sicherlich nicht besonders cool ist. Indianer weinen nicht, höre ich meinen Vater sagen. Scheißspruch. Wer sagt eigentlich, daß Jungs sich nicht gehen lassen dürfen. Irgendwelche halbstarke Vollidioten, die ihre Männlichkeit nur durch Härte und Lieblosigkeit ausleben können. Die können mich am Arsch kratzen. Ich bin nämlich stolz auf meine Sentimentalität. Mein erster Kinofilm war "Bambi". Daran kann ich mich nur noch schleierhaft erinnern. Aber eines sehe ich noch glasklar vor meinen Augen. Zum Schluß liefen die Tränen. Mein Vater, der neben mir saß, schämte sich deswegen. Der zweite Film, bei dem die Taschentücher verschwendet wurden, war "E.T. - Der Außerirdische". Ein absoluter Heulknüller. Stephen Spielbergs einziger geiler Film. Aber wenn es nicht das Vorurteil geben wurde, Männer heulen nicht, wäre alles viel leichter. Wer sagt eigentlich, daß ich das nicht machen darf?

"Hey, was ist denn mit dir los? Bist du geistig abwesend oder was?" - "Sorry, Philipp, hab gerade an etwas denken müssen. Wo waren wir stehengeblieben? - "Marcus wollte die dritte Black Label - Runde einleiten." - "Ja, das stimmt. Da ich nun auch ein Jahr älter geworden bin, habe ich vor mein Leben zu ändern.- "Hast du schon mit 23 Jahren gesagt, nach dem Motto von Tocotronic "Ich hab 23 Jahre mit mir verbracht, zu alt, um ewig jung zu bleiben und zu jung, um meine Biographie zu schreiben", und so weiter," meine ich. - "Ja, aber diesmal wird alles anders. Dieses Jahr werde ich die Liebe meines Lebens finden."

 

Allgemeines Gelächter bricht aus. Meine Beziehung zu Lisa kann man auch nicht die einzig wahre Liebe nennen. Manchmal gibt es Momente, bei denen ich endlich den Schlußstrich ziehen will. Doch dann denke ich, daß es mit ihr eigentlich voll genial ist. Aber das ist wohl vielleicht die Angst, wieder auf der Pirsch zu sein, wie man so schön sagt. Darauf habe ich null Bock. Jedem Mädchen hinterher zu stieren, daß eventuell zu einem passen würde, einen aüßerlichen Charaktertest anstellen und nachher feststellen, daß sie absolut nicht dein Typ ist. Nein, ich glaube, mit Lisa gut beraten zu sein. Wenn man vom Teufel spricht.

 

"Hi Jungs! Hab euch schon überall gesucht. Daniel pinkelt gerade in deine halbtoten Pflanzen. Einige wollen gehen und suchen dich, Marcus. Laura und Karsten schmeißen faulige Eier an die Tür. Du mußt unbedingt kommen. Da unten ist das reinste Chaos!"

 

Marcus kann einem echt leid tun. An seiner eigenen Party Stress zu haben wegen irgendwelchen Dichtrüben. Ist nicht unbedingt angenehm. Zu fünft laufen wir die Treppe runter.

 

Es ist drei Uhr. Ein Wunder, daß Laura und Karsten überhaupt noch frei auf der Strasse rumlaufen dürfen. Wahrscheinlich haben sie heute Freigang. Das Heim für schwererziehbare Kinder scheint recht tolerant zu sein. Ich weiß auch nicht, was Laura und Karsten zu diesen nervigen Missetaten gebracht hat. War es der Frust vor dem alltäglichen Tag. Morgens Aufstehen und Abends wieder schlafen gehen, jeden Tag dasselbe. Mir gefällt das irgendwie. Man kann sich schnell daran gewöhnen. Schließlich gibt es sonst nicht allzuviel, das jeden Tag gleich abläuft. Marcus läßt das Eierwerfen ziemlich kalt. Es regnet in Strömen. Die Sauerei wird nicht lange den Eingang verunstalten. Dumm wie die Nacht. Von den Partyschrecken hätten wir wahrlich mehr Kreativität erwartet. Muß Langeweile trostlos sein. Lisa steht neben mir und wir betrachten gemeinsam das bedauernswerte Eierwerfen. Ich fühle mich äußerst ausgeglichen. Zwar werde ich heute früh mit einem Kopf so groß wie Indien aufwachen, aber Lisa wird mich schon wieder auf Vordermann bringen können.

 

Marcus redet mit Janine. Die Turteleien gehen schon seit einigen Monate. Vielleicht wird es heute abend funktionieren. Mit einem Ohr höre ich den beiden zu.

 

"Stell dir mal rein fiktiv vor, wir wären ein Paar. Glaubst du, daß unsere Beziehung Zukunft hätte?" - "Tja, Marcus, ich weiß es nicht und ich möchte dir auch nicht auf den Latz treten. Aber du kennst mich noch zuwenig, um dir ein Bild zu machen. Ich bin nämlich die Zickigkeit in Person. Ich falle dir sicherlich auf die Nerven." - "Hmm, damit könnte ich leben."

 

Es ist ein wahrer Genuß für Marcus, mit Janine zu flirten. Beim Reden zieht sie immer ihre rechte Augenbraue hoch. Das sieht verdammt entzückend aus. Ich glaube, daß Marcus das Hochziehen falsch interpretiert. Für Janine ist es nur eine Übung. Wenn der Ernstfall eintreten sollte. Für Marcus ist es ein Zeichen, daß sie mehr als nur reden will. Zwei Welten, zwei Menschen. Diese klitzekleine Diskrepanz trennt die beiden mehr als alles andere. Armer Marcus. Wenigstens amüsiert er sich für den Moment. Das kann bekanntlich sehr motivierend sein. Er hatte schon mit schlimmeren Absagen zu kämpfen.

 

Das Besondere an Janine ist ihre Art, auf Einladungen zu reagieren. Marcus und ich hatten sie schon sehr oft auf irgendwelche Feste, Konzerte oder Diskoabende aufmerksam gemacht. Wir wollten unbedingt, daß sie ins Depot kommt, an dem Tag, als Hausmarke die Turntables bediente. Sie sagte fortwährend, daß sie am Start wäre und daß sie sich tierisch darauf freuen würde. Der Jubel war groß. Besonders für Marcus. Die Tage zogen ins Land und die Party kam immer näher. Doch ein paar Stunden vor Beginn des Diskoabends rief Janine an und sagte, daß es unmöglich sei, zu kommen und daß es ihr verdammt leid tue, irgendetwas mit der Familie, blablabla. Diese Art Absage ist sicherlich nicht gerade nett. Aber es hinterläßt auf jedenfall einen besseren Eindruck bei uns als die üblichere Art. Nämlich von Anfang an nein zu sagen und sich nicht überreden lassen. Vielleicht ist sich Janine bewußt, daß ihre Art die unstressigere für sie und für uns ist und wir nicht verärgert sein würden. Sie lag mit dieser Annahme im Recht. Frauen und ihr siebter Sinn. Vielleicht lag es auch daran, daß Janine einfach schnuckelig aussieht. Es fällt einem dabei sehr schwer, ihr nicht zu verzeihen. Sie hat wunderschöne guinessfarbene, kinnlange Haare, dabei kugelrunde, dunkellbraune Augen und einen etwas dünnen, verschmitzten Mund. Meistens trägt sie dunklere Klamotten, die fanatastisch zu ihrem Äußeren passen. Außerdem hat sie eine gewisse Ähnlichkeit mit Winona Rider. Wäre ich nicht mit Lisa zusammen, würde ich Marcus Konkurrenz machen. Aber Janine ist im großen und ganzen ein guter Kumpel von mir. Es läßt sich meistens locker mit ihr reden. Sie stellt keine dummen Fragen und kann wunderbar zuhören. Zu Marcus Bedauern ist Janine schwierig zu erobern. Aber sein Angrableitspruch ist - lieber ein Mädchen, daß unerreichbar und besonders ist, als eines, das jeder haben kann und leicht zu bekommen ist. Natürlich braucht man einen Kick, um Spaß beim Graben zu haben. Marcus Meßlatte hängt, meiner Meinung nach, nur ein paar Meter zu hoch.

 

 

VII.

 

Manchmal denke ich darüber nach, in gewisser Zukunft zu heiraten. Obwohl mein Atheismus es mir nicht unbedingt erlaubt, möchte ich vielleicht Lisa zuliebe diesen Gefallen der Hochzeit tun. Außerdem spielt die Angst vor der Einsamkeit sicherlich auch eine Rolle. Wenn die Liebe im Alter irgendwann verblasst und den Geist aufgibt, wie ein 20 Jahre alter Golf G1, dann will ich nicht alleine in meinen Sessel furzen. Manchmal überkommt mich das traurige Gefühl, daß dieser bittere Gedanke in Erfüllung gehen wird. Vielleicht wird der Tod schon früher kommen und diese Zukunftsspielchen sind dann ad absurdum geführt. Scheiße. Der Alkohol macht mich depressiv. Ich zünde eine Zigarette an.

 

Es ist jetzt kurz nach vier. Einige sind gegangen, einige sitzen auf dem Boden und pennen, einige sind noch aktiv, tanzen zu Jamiroquai und einige sitzen in der Küche und quatschen. Klaudia kommt aus dem Klo.

 

"Weißt du, daß es mich echt voll getroffen hat, als du Schluß mit mir gemacht hast. Ich hab mich tagelang in mein Zimmer eingeschlossen und hab geheult wie ein Schloßhund. Vielleicht war ich wirklich zu besitzergreifend und hab dir keine Freiheiten gelassen. Aber es ist vorbei und ich sehe es auch ein, aber bitte schau mich nicht immer so fies an. Ich kann das echt nicht mehr ertragen.

 

"Das trifft mich. Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem ich aufgrund des Alkohols Sensibelchen Nummer eins bin, muß mich Klaudia mit einer Rede, die mir wirklich durch Mark und Bein geht, an einen Tiefpunkt meines Lebens erinnern.

 

"Was soll ich dazu sagen. Das ist schon einige Jahre her und du bist mir tierisch auf die Nerven gefallen. Ich konnte echt nicht mehr so weitermachen. Das ist sicherlich hart für dich, aber es ist nicht mehr zu ändern."

 

Mein schlechtes Gewissen pinkelt mir ans Bein. Was soll ich jetzt machen.

 

"Weißt du, Klaudia, wir sollten uns in Ruhe darüber unterhalten. Wie wäre es mit Dienstag in der Tangente? Ich hab gerade echt keinen Kopf dafür. O.K.? Sie lächelt mich an. "Ja, ich bin dabei. Sagen wir um halb neun." -"O.K., ich bin am Start."

 

Irgendwie fühle ich mich erleichtert. Diese Sache von damals hat Klaudia wohl stärker belastet als ich dachte. Wahrscheinlich hat sie in den letzten Jahren den ganzen Frust in sich hineingefressen. Hoffentlich kann ich die Sache am Dienstag für immer klären.

 

Der Small - Talk mit Klaudia hat mich wieder etwas nüchterner gemacht. Was eine Offenbarung mit einem anstellen kann, ist ab und dann wundersam. Aus der Küche höre ich Marcus lautes Gelächter. Da scheint der Bär los zu sein. Ich verlasse die tanzenden Leute und verziehe mich in die Küche, mache eine Bierflasche auf und geselle mich dazu.

 

"Mein Englisch - Proff ist voll cool. Florian und ich sind als die zwei "Reiter der Apokalypse" bei ihm bekannt und er reißt die ganze Zeit Witze über uns. Aber keine fies gemeinte, sondern echt coole Witze, ihr versteht," erzählt Marcus, während Florian grinsend neben ihm sitzt.

 

Eva ist an seiner Schulter eingeschlafen und sabbert sein Hemd voll. Lisa hört nur mit halbem Ohr zu, Janine ist hingegen aufmerksam und zieht ihre rechte Augenbraue hoch. Wenn der Gesprächsstoff dem Ende entgegengeht, wird meistens über die Uni gelabert. Früher war es die Schule. Das nervt. Man sollte die beiden Sachen trennen. Entweder Party oder Uni. Beides geht nicht. Aber das ist Marcus egal. Er gibt seine kleinen Geschichtchen zum besten. Soll er nur machen. Solange Janine und Florian ihm lauschen, kann ich in der Zwischenzeit mit Lisa ein paar Tequilla mit erotischem Zungenspiel zu mir nehmen.

 

Manchmal komme ich mir im betrunkenen Zustand vor wie "Stiller" von Max Frisch. "Denn ohne Whiskey, ich habs ja erfahren, bin ich nicht ich selbst, sondern neige dazu, allen möglichen guten Einflüssen zu erliegen und eine Rolle zu spielen, die ihnen so passen möchte, aber nichts mit mir zu tun hat,..." Dieses Zitat am Anfang des Buches konnte ich mir immer sehr gut merken. Gerade fühle ich mich ein bißchen wie Stiller. Was der Alkohol nicht alles aus einem macht. Scheiß drauf. Es ist Partyzeit. Ein Gin - Tonic und alles sieht wieder klarer aus. Ich bin gespannt, was Klaudia am Dienstag zu erzählen hat. Lisa darf von dieser Sache nichts mitbekommen, sonst ist der Teufel los. Ich muß auf der Hut sein, da Klaudias Schönheit nicht zu unterschätzen ist. Männer achten nunmal auf das Äußere. Auch wenn sie es nicht offen zugeben. Schließlich sind sie ausgezeichnete Lügner, mich eingeschlossen.

 

"Sollen wir demnächst einen Abgang machen?" fragt Lisa mich. - "Ne, bin noch gar nicht in Abgangstimmung. Macht es dir etwas aus, noch eine Weile hierzubleiben?" - "O.K., aber daß du mir nachher nicht wie ein Mehlsack ins Bett fällst. Wir haben heute noch einiges vor."

 

Das kann ich mir bildlich vorstellen. Pump mich nur aus. Meine Prostata ist zäh und widerstandsfähig.

 

"Lisa, bevor ich beim Poppen einschlafe, kann man auf dem Mars schon Schlitt-schuhlaufen."

 

 

VIII.

 

Die Müdigkeit überkommt mich. Draußen geht die Sonne auf, die Pfützen auf der Straße werden kleiner, Vögel zwitschern, der Zeitungsjunge läuft seine Runde. Auf dem Boden liegen die Alkoholleichen. Daniel pennt neben Saskia, die ihr vollgekotztes T - Shirt ausgezogen hat. George und Vera sind nach Hause gegangen. Philipp, Lisa, Janine, Marcus und ich sind die letzten, die noch wach sind und ein Bier gemeinsam trinken.

 

"Puuh, das war echt ne fette Party. Aber ich bin völlig am Arsch," meint Philipp. -

 

"Wißt ihr, irgendwie fühlt man sich nach Partys immer so fertig. Der übermäßige Alkoholkonsum, der unglaubliche Spaßfaktor, die Leute. Alles ist perfekt. Bis auf den Schluß. Völliges Chaos in der Bude. Löcher im Teppichboden, Essensreste in den Ecken, halbvolle Bierflaschen auf den Tischen, zerkratzte CDs auf der Stereo und der klägliche Rest, den man noch Wochen danach riecht. Aber das Allerschlimmste ist das Aufwachen. Ein völlig ruinierter Magen, ein Kopf, der mehr wiegt als ein amerikanischer Truck und ein Tag, den man nicht richtig wahrnimmt. Ein Tag, an dem man völlig desillusioniert durch die Gegend wankt. Man fängt an, etwas zu lernen, doch dann kann man sich nicht konzentrieren. Man schaltet die Glotze an und vom Rumzappen wird man richtig wirr im Kopf. Der Magen knurrt und das ganze Essen schmeckt nach gar nichts. Drei Bissen und man hat genug. Und für was macht man das? Für ein paar Stunden Mordsgaudi, die sich wirklich lohnen. In der Hoffnung, daß es einem doch nicht so mies geht am nächsten Tag. Und dann sieht man ein, daß Hoffen auch nichts bringt. Bald geht es wieder bergauf. Irgendwie wollte ich heute mit voll vielen Leuten ein geiles Gespräch führen, mit Leuten, die man schon lange nicht mehr gesehen hat und die einem echt was bedeuten. Am Schluß stellt man dann fest, daß man viel zu besoffen war und man das geile Gespräch auf das nächste Mal verschieben kann. Aber wieso kommen nicht die Leute zu einem und labern mit dir? Meistens bin ich es, der das Gespräch beginnt. Daran kann man die echt guten Freunde von den normalen unterscheiden. Wißt ihr, daß es keine besseren Freunde gibt als ihr, George, Vera, Daniel, Florian, Eva undso. Ihr werdet mir die Wochen und Monate echt fehlen. Und bei der nächsten Party denkt man genauso und irgendwie bleibt doch alles beim Alten. Ein paar Sachen sind vielleicht anders. Die eine hat jetzt einen neuen Stecher oder der andere hat ne neue Kurzhaarfrisur, die eine trägt einen neuen Style oder der andere schmeißt die Uni und wird Landschaftsgärtner, die eine geht für ein paar Monate nach Mexiko, der andere zieht nach Berlin und kommt genauso verzweifelt wie er gegangen ist wieder zurück. Wo bleibt die Hoffnung? Scheiß drauf. Laß uns ein bißchen aufräumen und dann in die Falle springen." - "O.K. Marcus. Ein Klasseschlußwort. Besser kann man es nicht schildern. Also ran an die Arbeit. Ich will schließlich noch ein paar Runden mit Lisa im Bett drehen."

 

 

Gedanken eines Geplagten

 

 

"Hört mal her, heute ist ein besonderer Tag. Wir wollen eine Bank knacken."

 

Gespannt lauschen wir der Rede von Butch, der schon seit Monaten unseren großen Clou geplant hat. Meine Finger trommeln nervös auf den Kiefertisch. In acht Stunden soll es losgehen. Alle sind aufgeputscht von Drogen. Kokain, Haschisch, Alkohol. Ich bin normalerweise die Ruhe in Person. Aber mein Herz schlägt schneller, unkontrollierter als jemals zuvor. Das Adrenalin macht sich in meinem Körper breit und ich habe keine Ahnung, wie ich meine Nervosität unter Kontrolle halten kann. Jim reicht mir eine Flasche Red Bourbon rüber. Ein langer Zug aus der Flasche und alles wird besser. Ganz im Gegenteil. Mit schlotterigen Füßen stehe ich auf und gehe für kleine Jungs. Auf dem Klo betrachte ich intensiv mein Gesicht im Spiegel. Nicht gerade eine Schönheit, aber trotzdem voller Selbstüberzeugung. Komm, Junge, pusch dich auf. Nach dem Ding biste ein reicher Mann, dachte ich. Da brauchste nicht mehr jobben gehen. Dein Traum kann in Erfüllung gehen. Scheiße, du wirst es überstehen. Aber du wirst keine Unschuldige umbringen. Ich pisse ins Pissoir und baue mir eine Tüte. Langsam ziehe ich den Rauch ein, bemerke die wohltuende Wirkung. Meine Muskeln werden entspannter, mein Kopf leerer von quälenden Gedanken an den heutigen Tag.

 

Eine laute schreiende Stimme empfängt mich, als ich aus dem Klo komme.

 

"Mensch, Smokey, steh auf," schreit Butch.

 

Aber Smokey reagiert nicht. Eine weiße Spur Kokain hängt ihm an der Nasenspitze. Ein Tropfen Blut hängt an seinem schweißnassen Hemd. Seine Augen sind weit aufgerissen und eins davon fängt an, zu tränen.

 

"Schnell, holt verdammt nochmal jemand ein Wasser für Smokey," schreit Jim.

 

Heute um neun geht es los. Wir werden eine Bank überfallen und Menschen mit der Waffe bedrohen. Jede Sekunde denke ich daran. Jedenfalls soll niemand krepieren, niemand verwundet werden.

"O.K., Jungs, stossen wir an. Heute werden wir zu den reichsten Männern der Galaxie gehören."

 

Butch hat die Angewohnheit, zu übertreiben. Er muß immer die Anführerrolle spielen. Großkotzig und arrogant. Ich kann ihn nicht ausstehen, aber er hat den Plan entworfen und ich vertraue ihm. Er ist ein Genie. Schon zwei Banken hat er leergeräumt und die Bullen haben immer noch nicht die leiseste Spur, wer dahinter steckte. Butch ist ein Experte in Bauaufzeichnungen lesen. Nicht umsonst hat er sein Architekturstudium mit Bravour bestanden. Sicherlich wäre er ein rechtschaffener Mensch geworden, wenn ihn nicht seine extreme Sucht nach Adrenalin zu solchen Aktionen treiben wurde. Aber ich mag seine Art nicht, wie er sich vor den Jungs aufführt. Sie haben es nicht verdient, so von oben herab behandelt zu werden. Schließlich werden sie jeden Tag von irgendwelchen spießbürgerlichen Rutenläufern auf der Straße gequält. Nein, sie haben es wirklich nicht verdient.

 

Smokey richtet sich mit einem monströsen Stöhnen auf und kotzt auf den Boden. Etwas Gutes hat die Sache. Er ist wieder bei vollem Bewußtsein. Vielleicht wird er sich in ein paar Stunden, wenn wir vor der Bank stehen, ein wenig besser fühlen. Butchs Idee, die Nacht durchzumachen, halte ich für absoluten Schwachsinn, aber er bestand darauf. Wahrscheinlich hat er Angst, wir würden abklemmen. Sehr unberechtigt. Nie sind wir uns sicherer gewesen und sind es immer noch. Unser Glaube, der Welt zu zeigen, zu welchen Aktionen wir fähig sind, ist der Sinn eines unbestimmten Daseins. Existieren auf einem bequemen Niveau, sein Leben aufs Spiel setzen, riskieren und den Mut aufbringen, das momentan richtige zu machen, das macht aus uns eine Gruppe grundverschiedener Typen, von denen ich der Einzige bin, der bisher noch kein kriminelles Ding gedreht hat. Wenn man davon absieht, die Leute mit meinem Weltschmerz belästigt zu haben. Doch in diesem Gebiet bin ich ein wahrer Meister, bisher ungeschlagen auf Platz eins. Ivan, ein alter Kumpel, habe ich bis zum Wahnsinn getrieben, weil nichts von seinem Optimismus bei mir angekommen ist. Nach etlichen Jahren der Einsamkeit verliebte er sich unsterblich in eine Frau, die für ihn mehr als alles andere bedeuetete. Doch mit meinen Worten, er solle die Finger von ihr lassen, da seine Begierde nichts außergewöhnliches sei und er sich nur in die Liste der Verlassenen einschreiben wolle, beeinflußte ich ihn negativ. Ich hatte Ivan soweit, daß er mir alles glaubte. Alles, worüber wir redeten, hinterließ in ihm den Eindruck der ewigen Einsamkeit. Leider gab er es auf, seiner Angebeteten hinterher zu rennen und stürzte sich stattdessen die Brücke hinunter. Natürlich besuchte ich Ivan im Krankenhaus, aber seine Blicke töteten mich. Wahrscheinlich war er sich in dem Moment bewußt geworden, daß ich mit meinem Weltschmerz nicht so falsch lag. Sein Sturz aber blieb ohne Folgen, da ihn niemand außer mir besuchte. Damit lag ich doppelt im Recht. Ivan war ein Verlassener, ein vom Weltschmerz Geplagter. Ein Gleichgesinnter im Palast der Gefühlsgeplagten.

 

Butch reicht mir einen Trink.

 

"So, macht euch bereit für den Raub. Vergeßt eure Waffen und die Masken nicht. Der Karneval des Goldfiebers kann beginnen. Läutet die letzte Runde ein. Vielleicht ist euer nächster Schluck der letzte, der eure Kehlen in der Freiheit befeuchten wird."

 

Smokey, Butch, Jim und ich gehen zum Lager und holen unsere Ausrüstung, um sie nochmals zu prüfen. Wir haben uns mehrere 45`er zugelegt und im Wald auf leere Flaschen geschossen. Natürlich nur wenn der Notfall eintritt, werden wir davon Gebrauch machen, aber Butch meinte damals, man kann nie sicher gehen. Sein Leben ist ihm mehr wert, als das Leben eines Fremden. Mir auch, ehrlich gesagt. Trotzdem werde ich nur im äußersten Notfall davon Gebrauch machen.

 

"O.K., hey ho, let`s go," schreit Jim, der ein Fan von den legendären Ramones ist, ein Schlachtruf, den er bei jeder Gelegenheit den Leuten ins Ohr gröhlt.

 

Ja, ich bin bereit. Los, laßt uns die Bank ausrauben, denke ich bei mir. Die Angst kehrt zurück. Aber wir sitzen schon im Auto, die Masken über unsere Köpfe gestülpt, gewappnet für unser letztes großes gemeinsames Unternehmen. Es kann schließlich nur gut und beschissen ausgehen. Freiheit und Luxus oder Knast und Entbehrung. Mit viel Geld aus der Bank stürmen oder in Handschellen abgetragen werden. Eine andere Option gibt es nicht.

 

Jim legt eine Dead Kennedys - Kassette in den Rekorder. Wild gestikulierend singt er den Text mit schrecklicher Stimme nach: "Is my cock big enough, is my brain small enough for you to make me a star". Sein Traum ist es nämlich mit seiner Punk - Rock - Gruppe "Massives Chaos" durch die Lande zu ziehen. Bisher hat er es nur in irgendwelche miefige, schlechtbesuchte Jugendhäuser geschafft und ist mit mehreren Beulen vor der wütenden Menge geflüchtet. Eigentlich kein Wunder, wenn man bedenkt, daß er die Leute in der ersten Reihe mit einem Strahl gelber, stinkender Pisse bespritzt hat. Und danach meinte Jim immer, man wäre selber Schuld, wenn man ihn mit Bierflaschen bewerfe, er müsse sich schließlich auch wehren. Da liegt er völlig im Recht. Schon viel zu lange sind wir auf der faulen Haut gelegen und haben uns alles gefallen gelassen. Wir haben zugeschaut, als die Reichen immer reicher, die Armen immer ärmer wurden. Aber heute wird es sich ändern, denn heute werden wir zu den oberen Zehntausend gehören und ordentlich auf den Putz hauen. Vielleicht werde ich dann einem Obdachlosen auf der Straße mal einen Blauen in seinen ausgeleierten Hut werfen, vielleicht werde ich mir auch nur ne hübsche Ische ans Ufer ziehen und mit ihr die marxistischen Klassenkampfparolen neu definieren. Aber wozu mache ich mir darüber Gedanken, während mein Magen eine Achterbahnfahrt ohne gelöstem Ticket fährt. Die Angst des Ungewissen breitet sich immer mehr aus. Die Waffe in meiner Hand fühlt sich fremd an, als ob jemand einen Zementstein auf meinen großen Zehen geworfen hätte. War es etwa das Gefühl, das Butch uns immer und immer wieder erzählte. Geiler als der beste Orgasmus ohne Kokain. Irgendwie hatte ich dann noch nie einen. Auf jedenfall noch nie einen Orgasmus ohne Kokain. Nervös spiele ich am Abzug.

 

Wieso wird es nicht klarer in meinem Kopf? Wir rauben doch nur eine beschissene Bank aus, werden niemand ärmer machen. Das ist nur ein Austausch von materiellen Wertpapieren. Ob sie jetzt einem reichen Schnösel in die Hände fallen, der damit seine Wand neu tapeziert, oder irgendwelchen Verlorenen auf der Suche nach einer Selbstverwirklichung, die immer näher zu rücken scheint. Von Sekunde zu Sekunde wird der Schriftzug der Bank größer. Leide ich etwa an Halluzinationen oder sitze ich wirklich in einem Auto mit vier durchgeknallten Freaks, die sich eine Ladung Speed hinter die Kiemen kippen. Reicht ihnen das Adrenalin nicht aus, das sie gleich in einer viel zu großen Menge abbekommen werden? Mit zitterigen Hände versuche ich eine Fluppe zu drehen. Selbst das klappt nicht. Aber Jim ist so freundlich und reicht mir eine Lucky Strike. Welche Ironie. Wie gerne wäre ich bei einem Streik, auf dem die Bullen mit ihren Wasserwerfern uns zehn Meter über den Boden fliegen lassen und mit Knüppeln brutal unsere Eingeweide malträtieren. Auf jedenfall eine bessere und sichere Angelegenheit als ein Banküberfall. Man weiß wenigstens, daß eine nette Krankenschwester einem danach den Nacken massiert. Wie in einem Nebel höre ich die Bremsen quietschen. Ein Gefühl von Kaltblütigkeit und totaler Negation des Lebens übermannt mich und zieht eine ewige Feedbackschleife in meinem leeren Gehirn. Bin ich schon länger auf der Welt oder erblicke ich gerade das lächelnde Gesicht meiner Mutter und die fette Visage des nach Desinfektionsmittel stinkenden Arztes? Wieso bin ich hier, was mache ich hier? Alles erscheint auf einmal so unwirklich, so als schaut mein imaginärer Zwillingsbruder mir in die Augen und zwinkert mit einem hämischen Lächeln dem Teufel zu. Ist das der viel gepriesene Adrenalinrausch, der uns für einen kurzen Moment in die vierte Dimension emporhebt oder wird mir gerade die Unmöglichkeit unseres Vorhabens deutlich? Doch bevor sich meine Gedanken noch weiter in Hirngespinste verhaken können, höre ich einen lauten Schrei, das mein Trommelfell zu platzen droht.

 

"So Jungs, laßt uns die Miezen aus dem Sack holen und ihre Muschis kraulen", schreit Butch.

 

Smokey und Jim stürmen in die Bank, Butch und ich hinterher. Alles um mich herum erscheint wie der Nebel von Avalon. Ein dicker Schmöker, der kein Ende nehmen will, wie die Verlängerung nach einem Elfmeterschießen, bei dem die Spannung einem die Harnblase zum Platzen bringen kann. Irgendwie schaffe ich es, mich vor dem erstbesten Bankschalter zu plazieren und die dickbusige Frau dahinter mit meiner 45ïer zu bedrohen.

 

"Alles auf den Boden oder wir schießen euch die letzten paar Gehirnzellen aus eurem verdammten Scheißkopf", gröhlt Jim, der wohl immer noch das Stück von Dead Kennedys im Ohr schwirren hat.

Butch zeigt auf einen jungen Mann mit Oberlippenbart und scheudert ihn auf den Boden.

 

"So, du kleiner mieser Sack, her mit dem Schlüssel oder wir knallen jeden einzelnen Wixer vor deinen Augen ab."

 

Von hinten höre ich einen lauten Schuß. Es wird doch nicht das Schlimmste aller Fälle eintreten? Langsam wende ich mich dem Geschehen zu. Aber es ist nur ein Warnschuß von Smokey gewesen, der dadurch verhindert hat, daß der Alarm angeht. Die Alte macht sich schier in die Hose. Wieso soll sie auch ihr Leben aufs Spiel setzen. Von dem Geld, das in der Bank lagert, wird sie wohl nie einen einzigen Pfennig ihr Eigen nennen können. Wunderbare Gedanken kommen mir in den Sinn. Es wird nicht mehr lange dauern und ich werde mich am Ufer eines kanadisches Sees den Fischen und den Büchern widmen. Früher erschien mir alles sehr schwer. Die gesamte Last meiner Emotionen lag auf meinen Schultern.

 

Es gab eine Zeit in meinem Leben, wo ich morgens nicht mal aus dem Bett steigen konnte, da alles, was ich auch nur machte, so unendlich sinnlos erschien. Tiefste innere und emotionale Schmerzen breiteten sich in meinem Körper, in meinem Kopf aus wie ein Krebsgeschwulst. Irgendwann biß ich mir in den Arsch, versuchte endlich, mich aufzuraffen, nicht nur herumzugammeln und die Scheiße der Wixer der Gesellschaft über mich ergehen zu lassen. Es war verdammt schwierig, aus seinem Bett zu kommen. Man hatte sich schon viel zu sehr daran gewöhnt. Der Kopf war zu einem gedankenlosen, fremden Körperteil geworden. Nur noch die Ausscheidungsorgane absolvierten ihre vorgesehenen Aufgaben. Wie sehr sehnte ich mich in jener Zeit nach einer Person, die sich meiner annahm und mir Wärme spendete. Ich war tatsächlich der Überzeugung, daß mich jemand aus dieser Scheiße herausholen wurde. Ich wartete, bis ich schwarz wurde, bis der Dreck an mir keinen Fetzen Haut darunter erkennen ließ, bis der Nachttopf schon lange keinen Platz mehr für Nachschub bot, bis der volle Aschenbecher nur noch als Raumverzierung diente, bis die Wände eine gelbe Färbung anzeigten. Als ich gerade dabei war, an meinem eigens erzeugten Dreck zu krepieren, klopfte eine engelsähnliche Gestalt an meinem Ohr und erzählte von einem Neubeginn, von einer anderen Welt, in der es keine Häßlichkeiten und Unmenschlichkeiten mehr gab. Neugierig und gespannt, endlich eine andere Stimme als die eigene zu hören, lauschte ich ihren unsäglich wunderschönen Gedanken und als sie mich verließ, hinterließ sie einen Geruch, der alle meine Lebenssinne wieder wachrüttelte. Da faßte ich den Plan, einen großen Coup zu starten. Und merkwürdigerweise begegneten mir noch am selben Tag Butch und Smokey, die mich sogar beim Namen riefen. Sie erzählten mir von ihrem Plan und sofort fing ich Feuer und Flamme.

 

Jetzt stehe ich hier mit einem nervösen Finger, der bei jeder kleinsten Regung den Abzug drücken kann. Wehrlose Menschen liegen vor mir und warten voller Angst um ihr Leben auf Erlösung. Butch hat es geschafft, den Schlüssel für den Tresor zu ergattern. Smokey und er gehen in den hinteren Raum, während Jim und ich die auf dem Boden liegende Menge zu kontrollieren versucht. Kalter Schweiß klebt an meiner Stirn, jede Minute erscheint mir wie eine Tortur, schlimmer als das Warten auf dem Arbeitsamt oder das Anstehen bei einem coolen Konzert. Im Hintergrund höre ich das Schluchzen einer verzweifelten Frau, die ihr Kind im Arm hat, ich höre den eigenen Atem, der sich erstaunlich laut und unheimlich anhört. Das Rauschen des Windes im dunklen Wald wäre wohl dagegen eine romantische Begleitmusik.

 

Endlich kommen Butch und Smokey mit einem vollen Sack aus dem Tresorraum. Ein Gefühl der Erleichterung erfüllt mich, Jim rennt vor purer Begeisterung zu den beiden und nimmt sie herzlich in die Arme.

 

"Verdammt, Jungs, wir sind jetzt Millionäre, wir ficken das System, wir übernehmen die Weltherrschaft, wir, wir," überlegt Jim, "wir sind die geilsten Jungs der ganzen Galaxie. Die Frauen werden uns um den Hals fallen und unseren Schwanz lutschen."

 

Ich kann es noch gar nicht fassen. Eine unglaubliche Sache ist uns meisterhaft gelungen. Ein Banküberfall in Zeiten der Uneinnehmbarkeit dieser bestbewachten Burg des Kapitals. Schnell rennen wir zum Auto und machen uns aus dem Staub.

 

Epilog:

 

Zwei Jahre sind seit unserem gelungenen Coup vergangen. Ich sitze an einem herrlichen See in Kanada und habe meine Angel ausgeworfen. Vor einem Jahr fing ich an, Geschichten zu schreiben. Bisher sind zwei Romane von mir erschienen und ich hege den Gedanken, einen kleinen, netten Verlag zu gründen. Genügend Leute, die dabeisein wurden, kenne ich. Jedes Wochenende ist in der nächstgelegenen Stadt die Hölle los. Dort treffen sich die Freaks jeglichen Coleurs, Leute, die auch schon einige durchgeknallte Sachen erlebt haben und mit mir teilen wollen. James zum Beispiel hat schon im Kindesalter kriminelle Aktionen abgeliefert. Vielleicht liegt es ihm im Blut. Sein nächster Verwandter ist nämlich der legendäre Billy Braggs. Außerdem kann er wundervolle Liebesgeschichten schreiben.

 

Sabrina, meine kanadische Rosenblume, setzt sich neben mich. Wir schauen uns lange in die Augen und wissen, daß es nur ein Paradies gibt.

 

 

 

 

Eine nervig - betörende Sache

 

 

Ich fühlte mich verdammt gelangweit, als der Barkeeper mir seine Geschichten vom Mixen der Getränke auftischte. Was fiel ihm eigentlich ein, zu glauben, daß ich an einer solchen sinnlosen Unterhaltung kurzweilige Spannung finden konnte. Eigentlich interessierte mich nur das Bier, das vor mir stand und darauf wartete, verzehrt zu werden. Wenn der Barkeeper durch sein übermäßiges Abschwallen nur irgendwelche persönliche Probleme damit vertuschen wollte, dann wäre ein anderer Job für ihn ratsamer. Vielleicht bei den Anonymen Alkoholiker.

 

Ich hatte vor, den Abend ohne nervige Leute zu verbringen, das Bier als einziger Freund. Das war die perfekte Vorstellung auf die ich mich schon seit einigen Wochen freute. Doch es war wohl sehr naiv von mir, zu glauben, in einer Kneipe in Ruhe sein Bier trinken zu können. Kaum waren meine Gedanken woanders, rempelte mich ein besoffener Hippie an.

 

"He Alter, was sitzt du hier alleine herum? Hat dich wohl deine Braut verlassen, hä? Komm Alter, da saufen wir einen drauf."

 

In meinem Kopf pochte das Blut. An den Schläfen fühlte ich es rauschen, der Puls stieg rapide in ungesunde Frequenzen hoch. Aber ich versuchte cool zu bleiben. Ein Hippie war nicht in der Lage, mir diesen Abend zu verderben.

 

"Weißte," röchelte er," vor ner Woche hat mich meine Schlampe verlassen. Da hab ich mir zwei Alternativen überlegt. Entweder gehste mit nem gefälschten Studentenausweis in die Uni - Bibliothek und holste ein paar Emanzenbücher, um deine Fehler zu suchen oder gehste dich totsaufen. Vor ner Woche hab ich noch sämtliche Schmöker gelesen, nebenbei hab sie auf dem Trödel verkauft, und jetzt, jetzt saufe ich. Weißte, das packst du echt nicht, auf was für Ideen die Frauen heutzutage kommen, Gleichberechtigung iss ein Scheiß dagegen, von Emanzipation überhaupt keine Rede. Diesen Scheiß muß ich mir erst wieder wegsaufen und dann kauf ich mir einen Porno."

 

In aller Ruhe hörte ich seinen philosophischen Ausuferungen zu. Irgendwie konnte er einem leid tun. Bei dem ekeligen Schweißgestank, den er ausströmte, hätte ich ihm an der Stelle seiner Freundin wohl auch den Laufpaß gegeben.

 

"Willste dir eigentlich mal anhören, was ich bei meinen Analysen herausgefunden habe? O.K., du wirst erstaunt sein, aber es stimmt, glaub mir. Die Frauen planen eine Revolution. Zuerst machen sie uns scharf, indem sie ihren Körper preisgeben und dann überrumpeln sie uns, um die geistige Herrschaft auszuüben. Die ham das ganz geschickt eingefädelt. Wir sollen ihnen ausgeliefert sein. Willste wissen, wieso die Frauen überhaupt mit uns in die Falle springen? Nämlich aus zwei Gründen. Zuerst wollen sie unser Denken entlarven und dann unseren Schwanz abschneiden. Aber nicht mit uns, Alter, nicht mit uns. Wir sind ja schließlich auch auf den Hund gekommen. So einfach lassen wir uns nicht ablinken. Also, machste mit bei meiner Anti - Emanzen - Gruppe? Biste auch zu nichts verpflichtet. Vielleicht gehen wir ab und dann zu einer Nutte, die einzigen ehrlichen Menschen auf der Welt. Sind zwar auch Frauen, aber durch ihren Job sind sie bei den Emanzen etwas in Ungnade gefallen. Kannste dir ja vorstellen, ho,ho."

 

Sichtlich erstaunt über seine Verschwörungstheorien nahm ich einen tiefen Schluck aus meiner Bierflasche und versuchte den Hippie irgendwie abzuwimmeln. Mit viel Glück erwischte ich einen glücklichen Moment, bei dem er sich für ein paar Sekunden wegen einer Göre den Kopf verdrehte, und verschwand für ein paar Minuten auf dem Klo.

 

Doch auf das Klo zu gehen, war ein großer Fehler. Beim Öffnen der Tür sah ich einen alten Kumpel wieder, der mit beiden Armen gestützt am Pissoir hing. Mit geöffneten Reißverschluß und nicht abgeschütteltem Schwanz kam er auf mich zu und knetete meine Backen.

 

"He, was machst denn du da? Schon ne halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen. Was geht mit dir, altes Haus?" palaverte Frank.

 

Irgendwie hatte ich das Gefühl, der Teufel sei hinter mir her. Gab es denn auf diesem gottverdammten Planeten keinen Platz mehr, wo man in Ruhe sein Bier trinken konnte? Das muß wohl ein übler Alptraum sein, aber ich roch die nach Pisse stinkenden Finger von Frank, der seinen feuchten Schwanz an meiner Hose abwischte. Da war ich mir sicher, daß das die bittere Realität sein mußte.

 

"Ich komm gerade vom Wählen, und willste wissen, was ich gewählt habe?"

 

Im Grunde genommen interessierte mich das eigentlich null, aber da man einen alten Kumpel nicht links liegen lassen sollte, tat ich so, als würde mich seine Antwort glücklicher machen.

 

"Natürlich PDS, was sonst. Damit die Bonzen da oben sehen, daß man mit dem Volk nicht alles machen kann. Nieder mit dem Reichtum!"

 

Eigentlich eine ganz nette Parole, die Frank von sich gab. Leider denken die Reichen etwas anders darüber. Sollen die faulen und armen Säcke da unten arbeiten. Von nichts kommt nichts. Aber schließlich konnte ich Frank das nicht ins Gesicht sagen. Obwohl ihm ein bißchen Provokation guttun wurde. Aber irgendwie tat er mir leid. Mit seinen verrissenen Jeans, seinem Che Guevera-T-Shirt, und seinem verwarzten Gesicht sah er aus wie ein Soziologie-Student ohne Abschlußchancen.

 

Nachdem Frank einen fetten Bierrülpser von sich gab und mit seinem Sermon fortfahren wollte, überlegte ich mir Optionen für eine erfolgreiche Flucht. Um aus dieser nervigen Situation zu entkommen, log ich ihm vor, daß mein Darm dringend eine Entleerung benötigte.

 

"Haste wohl zuviel Kaffee getrunken und darauf ein paar Fluppen geraucht?" fragte er mich und lachte sich dabei den Arsch ab.

 

Das war zuviel dummes Gelaber. Ich schloß die Klotür hinter mir zu und konzentrierte mich auf einen erholsamen Abgang. Danach waschte ich mir meine Hände am Waschbecken und freute mich auf mein Bier, das an der Theke darauf wartete, die Besonderheiten der Leber zu besichtigen.

 

Um einige Kilo leichter, landete ich wieder auf meinem Barhocker. Der Hippie und Frank waren gottseidank verschwunden und das frische Bier, das mir der Barkeeper auf den Tisch stellte mundete hervorragend. Einige wirre Gedanken machten mich etwas mißmutig. Sollte ein so cooler Typ, wie ich einer bin, seinen Samstagabend alleine auf dem Barhocker verbringen. Eigentlich war es bisher sehr nervenaufreibend. Der Hippie und Frank fielen mir außerordentlich auf die Nerven und ein nettes Pläuderchen mit einer Göre könnte mich vielleicht auf andere Gedanken bringen. Mit dem kühlen Blonden in der Hand schwang ich mich lässig vom Barhocker und checkte die Lage ab. Ein paar alte Bekannte saßen mit ihren Freundinnen neben dem Flipper. Um mich ein wenig in Stimmung zu bringen, ging ich zu ihnen.

 

"Hallöchen Mädels. Und wie läuft es so?" zwitscherte ich.

 

Mit einem Grinsen, das zwischen völliger Angenervtheit und scheinheiliger Freude lag, quittierten sie meine Störung.

 

"Bei mir läuft es ganz gut, kann mich überhaupt nicht beschweren. Hab gehört, daß du nen Verleger für deine Kurzgeschichten gefunden hast," sagte Rebecca, eine kleine pummelige Rothaarige, die mir dabei ihren Zigarettenrauch ins Gesicht blies.

 

"Das hat aber mal wieder schnell die Runde gemacht. Vor euch neugierigen Gören kann man wirklich nichts geheim halten."

 

Mit einem angewiderten Gesichtsausdruck drehten sie mir ihre kalte Schulter zu. Wahrscheinlich mußte ich mich doch ein bißchen mehr anstrengen und meine Sensibilität aus der Abstellkammer herausfischen. Sonst endete der Abend ohne Anhang und das wollte ich auf jedenfall vermeiden.

 

"Also, dann noch einen schönen Abend beisammen und vergesst nicht, wascht euch immer schön hinter den Ohren."

Das letzte, was ich noch vernahm, nachdem ich von den Gören wegging, war ein verächtliches "Puuh, endlich ist der Nervenarsch gegangen."

 

Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, ein härteres Kaliber aufzuziehen. Was hätte wohl James Dean in meiner Situation gemacht? Die Stammkneipe verlassen, um in unbekannten Gefilden auf Frauensuche gehen. Nein, darauf hatte ich keine Lust. Schließlich mußte ich nur einmal umfallen, um in meiner Bude zu landen. Und das war wahrscheinlich auch ganz gut so, falls mein Bett wirklich nur mit mir zu rechnen hatte.

 

Da ich einer bin, der ein bißchen an das Schicksal glaubt - zumindest wenn man es herausfordern wollte - hatte ich heute morgen mein Bett frisch überzogen und das konnte ja schließlich nur gut sein. Denn dieser Vorgang kam bei mir bisher äußerst selten vor und bisher hatte dieser kleine Trick immer funktioniert. Letzten Monat bezog ich mein Bett zweimal und zweimal hatte es hingehauen. Sogar zweimal mit derselben. Dieser Gedanke munterte mich auf. Schnell trank ich das Bier leer, um mir ein frisches zu ordern.

 

Am hinteren Ausgang stand ein Flipper, der mit lauter Stimme meinen Namen zu rufen schien. Ich folgte seinen Ruf und schmiß fünf Mark in den Schlitz. Lässig schoß ich die Kugel hoch, zog noch einmal an meiner Zigarette und konzentrierte mich. Mit null Punkten beendete die erste Runde mein Spielglück. Bei soviel Pech im Spiel müsste mein Bett mit einem ganzen Harem von Frauen heute abend belagert sein. Aber man sollte nicht in Tagträumen verweilen. Die zweite Runde begann und ich spitzte meine Ohren. Doch durch einen Schlag an meine Rippen verlor ich das Gleichgewicht und landete auf dem Boden.

 

"Oh, tut mir verdammt leid, irgendwie bin ich auf dem nassen Boden ausgerutscht," entschuldigte sich eine weibliche Stimme.

Und als ich mich von meinen Ausflug auf der Schwimmhalle für herrenlose Zigaretten erholte, sah ich eine Vision. Eine Ische, schöner sie Gott nie erschaffen könnte.

 

"Hä, was meinst du, Gott, schöner, ich versteh dich nicht. Ist bei dir alles in Ordnung, oder biste auf den Kopf geflogen?"

 

Ihre Stimme klang wie eine riesengroße Pizza mit Schinken, Champignons und einem Tequilla danach. Ein Traum, Liebe auf den ersten Blick. Ich spürte nur noch ein donnerndes Schlagen an meinen Ohren und danach wurde es schwarz um mich herum.

 

Epilog:

 

Wenn du alleine den Abend verbringst, fühlst du die Einsamkeit in den Knochen lodern. Freunde sind wichtiger als der weiteste Weg, den man zurücklegen muß. Verzichte auf sie und du wirst nie den Spiegel sehen.

 

 

 

Der Versuch "Cut - Up" zu sein

 

 

Stimmen schwirren von draußen herein. Sitze gerade in meiner Bude. Neue Idee für Kurzgeschichte. Wird cool, glaube zumindest daran. Hübsche Sternschnuppe. Wünsche mir eine große Flasche Champagner und die dazu passende Ische. Habe mal wieder nix zu tun und warte auf das Wochenende. Freudige Vorspannung. Erregt und entspannt, gleichzeitig. Werde mich zurücklehnen und eine Zigarette anmachen. Bier schmeckt hervorragend. Eisgekühlt aus dem Kühlschrank. Schnee klopft an mein Fenster. Heizung voll aufgedreht. T- Shirt naßgeschwitzt. Hauptsache es friert mich nicht. Was wohl Philipp so treibt. In Salford wird es vielleicht auch schneien. Wer weiß. Geht mir am Arsch vorbei. Wetter juckt null, wenn das Zimmer wärmer ist. Gefällt mir. Könnte wieder was in meinen No - Name - Laptop tippen. Scheißverlage. Versprechen einem die Welt und das heißt warten. Die letzten Tantiemen warten auch. Aber nicht auf meinem Konto. Sieht nicht rosig aus. Kann nicht einmal die letzte Telefonrechnung zahlen. Anschluß gesperrt. Menschheitsrecht verletzt. Hau mir Ravioli - Dose in den Topf. Strom ist noch da. Blaue Tischdecke versteckt Brandflecken auf schwarzen Kunstholztisch. Der Staubsauger sollte generalüberholt werden. Vorwerkvertreter war gestern da. Habe gar keinen Vorwerk. Brauche nichts. Schauen sie das nächste Jahr mal wieder vorbei. Mache den Ventilator an und schaue Traumschiff. Habe mir einen Cocktail gemixt. Reste von Whodka, Captain Morgan und Bacardi. Schmeckt scheußlich. Dicker Kopf am Morgen. Vielleicht ist das Geld da. Aber kein Aspirin im Schrank. Notfalls bei Nachbar fragen. Wer ist das? Sollte mal wieder an die frische Luft gehen. Sehe vor lauter Nikotinwolken die Wand nicht mehr. Auch schon ganz gelb. Frische Tapete kommt nicht in die Tüte. Nur Junk - Food aus der Tiefkühltruhe. Statt Wagner gut und billig. Der Magen beschwert sich nicht. Werde zum Kettenraucher. Tabakfirma schenkt mir das dritte Mal diese Woche Tabak. Den mit dem Löwen. Aber wo sind die Papers? Muß aus dem Haus und zur nächsten Tanke. Zwei Kilometer. Auto hat kein Sprit. Und keinen TÜV. Verschrotten ist zu teuer. Meinen ersten Fick gehabt. Erinnerungswert. Spermaspur auf dem Vordersitz. Bitterkalt. Zwei Pullis, Schal, Handschuhe und ein frostiger Wind. Hätte gleich nackt raus gehen können. Frustrierte 620 Mark Gesichter. Schaufenster häßlich dekoriert. Für mehr reicht es nicht. Besser als gar nichts. Trotzdem scheiße. Straße ist zugefroren. Schrittempo. Vorsicht Dachlawine. Zu spät bemerkt. Schnee in meinem Haar. Rauchen macht keinen Spaß. Schmeiß Zigarette auf den Boden. Hund schnüffelt daran. Selbst dem macht es keinen Spaß. Bekanntes Gesicht an der Ecke. Sage hallo und lauf weiter. Schnorrer auf dem Gehsteig. Schau mich an. Werde bald Konkurrenz sein. Auto haut mir volle Ladung Matsch an die Jeans. Ironie. Stehe neben einer Reinigung. Indios spielen im Park. Hat das Geld für den Rückflug nicht gereicht? Sehe Lichtplakette der Tanke. Wind schießt mir ins Gesicht. Alles hier. Kleider, Spirituosen, Sex, Musik, aber keinen Tabakladen. Nur noch wenige Meter. Schiebetür geht auf. Kassierer sitzt an der Kasse und liest Praline. Kids stehen vor der Entscheidung. Six - Pack oder Dosen. Kommt mir bekannt vor. Schaue mich um. Kein Geld. Reicht gerade für Papers.

 

Einmal OCB. Den Luxus gönne ich mir. Schönen Tag. Leck mich. Schiebetür geht auf. Bus fährt vorbei. Kein Geld mehr. Zwei Kilometer langer Heimweg. Es wird dunkel. Und kälter. Dreh mir eine. Mit Handschuhen rauchen ist nicht ganz einfach. Indios spielen immer noch. Geschäftsmänner laden Frauen ein. Geld und Sex. Nichts habe ich. Kann nicht einmal beim Verlag anrufen und um einen Vorschuß bitten. Kein Geld für das Telefon. Nur noch 10 Pfennig. Freunde zu weit weg. Zum Laufen auf jedenfall. Krampf an der Wade. Muß mich auf die Bank setzen. Komme mir ziemlich bescheuert vor. Sollte mal wieder Sport treiben. Aber leider keine Kondition. Teufelskreis. Kein Sport, keine Kondition, keine Kondition, kein Sport. Weiter geht es. Der Schneefall wird dichter. Höre Bass im Hintergrund. Tiefergelegter GTI mit getönten Scheiben. Komme mir vor wie in den South Bronx. Schritt wird schneller. Auf keinen Fall Schimanski verpassen. Frau auf der Straße schreit mich an. Kenn ich nicht. Ignorieren und weitergehen. Durchgeknallte Obdachlose. Endlich. Ein heißer Luftstrom empfängt mich. Riecht nach verbrannter Tomatensoße. Vergessen, Ravioli vom Herd zu tun. Sieht unappetlich aus. Esse es trotzdem. Letzte Dose. Neue Geschmacksvariante. Hackfleisch well - done. Nach einer Seite mache ich Pause.

Zünde Zigarette an. Kerzenlicht und Fernsehkrimi. Romantisch, aber ohne Ische. Vielleicht bei der nächsten Party. Muß mich zurückhalten. Freche Fresse. Zu beiden Geschlechtern. Viele Feinde, weniger Freunde. Geht mir am Arsch vorbei. Bester Freund sitzt daheim. Hat Telefon und Geld. Morgen schaue ich bei ihm vorbei. Heute ist es zu kalt. Selbst die Penner gehen ins Obdachlosenheim. Buch auf dem Tisch. Mal reinschnuppern. Dritter Versuch. Wird immer noch nicht besser. Kein Geld für ein besseres. Regal steht voll. Aber alles schon gelesen. Nick Hornby, Hanif Kureishi, T.C. Boyle, Philippe Djian, Joseph O Connor, David Baddiel. Sogar einiges zweimal gelesen. Setze mich an No - Name Laptop, spiele Solitaire. Beobachte Leute. Sind ganz schön verfroren. Hasse Winter. hasse Fernsehen, hasse Solitaire. Geht mir alles gewaltig auf die Nüsse. Nehme Hume und Locke zur Hand. Vergleich. Hume ist besser zum Lesen. Und zum Einschlafen. Wache auf. Kurz vor zwei. Draußen schneit es. Spuren von Hunden. Oder Katzen. Kann man nicht genau sagen. Höre Werbung für 0190. Telefon ist abgestellt. Vielleicht eine Runde aufs Ohr hauen. Bin topfit. Lese Malcolm Lowry. Vulkan ist nicht gut. Alkoholikergeschichten mit Niveau. Landschaft ala Camus. Der erste Mensch bringt es besser. Kerzen abgebrannt. Aschenbecher voll. Im Mülleimer Fliegen. Vielleicht schon genmanipuliert. Zweite Runde. Immer noch topfit. Gehe an die frische Luft. Zwei Sekunden. Dann wird es mir zu bunt. Wo sind die Schlaftabletten? Zähle blöde blaue Schäfchen. Wo sind die weißen? Übernächtigt. Halluzinationen. Über mir ein Poster von Franka Potente. Minutenlang gedankenverloren. Sie lacht mich an. Oder täusche ich mich. Papers in Haschöl getaucht. Mal daran schnuppern. Riecht nach nichts. So wie Seinfeld. The Show about Nothing. Knüller. Selten so herzlich geschmunzelt. Jetzt um vier nur Hör mal wer da hämmert. Besser als 0190. Versuche warme Milchmethode. Sauer, ungenießbar, Abfluß. Dann halt ohne. Denke an langweilige Ereignisse. Fällt mir nichts ein. Auf jedenfall nichts was nicht langweilig war. Weihnachten. Sylvester. Im Marktkauf schon Weihnachtsbäume. Sind aber nicht echt. Nur wiederverwendbar. Ein Bier im Kühlschrank. Davon wird man auch nicht müde. Gehe unter die Dusche. Nachbar beschwert sich. Bin eben Frühaufsteher. Schreit, will zum Vermieter gehen. Von mir aus. Erste Vorlesung um elf Uhr. Gehe sowieso nicht hin. Gibt keinen Schein. Höre Kindergeschrei von nebenan. Wußte nicht, daß Kinder hier wohnen. Umzug planen. Bringen nur Unglück. Eier und Speck im Kühlschrank. Eier aber verfault. Dann eben nur Speck. Und starker Kaffee. Werde nämlich müde. Zu spät zum Schlafen. Sonne geht auf. Höre Leute Auto freikratzen. Stadthoffahrzeuge räumen Schneestraßen. Hasse Motorgeräusche. Hört sich beängstigend an. Kindheitstrauma. Hört sich nach Psychologie an. Kein Bedarf. Muß zum Bankautomaten. Ahne Enttäuschung. Betrag überschritten. Danke für Ihren Besuch. Danke für die Höflichkeit. Mißmutig laufe ich zur Mensa. Noch ein Fressticket. Nachschlag für daheim. Sehe Marcus. Bestens ausgeruht. Kein Wunder. Geld, Telefon, Eier, Schlaf, Auto, Freundin. Jetzt ist Schluß.

 

Muß mir etwas neues überlegen. So kann es nicht weitergehen. Welthass. Wie wäre es mit Weltliebe? Sitze im Bus. Schwarzfahren. Betrachte Gesichter. Neben mir Jurastudent und Soziologiestudent. Werden nie Freunde werden. Brian Addams contra Bikini Kill. Lesbische Frauen sind erotisch. Höre Chauvinismus. Aber freie Gedanken sind wichtiger als Emanzensprache. Marcus sagt, Frauen sind die besseren Menschen. Weiß nicht. Wo ist der Beweis? Haarspalterei. Hasse ich. Philosophie bringt mich noch um. Aber besser als ungebildet dem Tod ins Gesicht zu sehen. Metaphysik passt zur Bioethik. Überhaupt. Metaphysik passt überall. Bloß nicht beim Vögeln. Da versteht man es dann. Steige aus. Busgedanken. Herrlich. Das nächste Mal nehme ich meinen No - Name Laptop mit. Heute abend ist eine Party. Habe null Bock. Morgen um zehn Seminar. Werde dann nicht fit sein. Rote Augen. Dicker Kopf. Alkoholfahne. Alles transparent. Transformationstheorien. Sehe ich auch so. Mein Körper ist transparent. Renne aufs Klo. Demokratie, Politische Kultur, Macht, Herrschaft, Max Weber. Schlagwörter. Das kann ich auch. Schweigen. Muß nicht immer alles den Wissenden unterbreiten. Studieren ist höchste Nervenarschbelastung. Ich meine. Das ist doch so. Die Argumentation ist nicht schlüssig. Man kann das auch so sehen. Kant sagt. Nietzsche sagt. Hume sagt. Ich sage. Fresse. Gewöhnung stumpft ab. Werde zum Zombie der Zombies. Schreiben hilft. Ischen auch. Aber zu weit entfernt. Das Nahe suchen. No - Name Laptop. Mache Zigarette an. Höre die neue Fettes Brot. Außen Tophits, innen Geschmack war besser. SPEX. Dekonstruktiv. Als kybernetische Modelle mit Sound Equipment ausgestattet, könnte sich der Kunstsinnige an die Synapsen einklinken, den jeweiligen Track genießen, um schließlich selbst Teil dieser sensuellen Installation zu werden. Die Visualisierung eines amorphen Kollektivs von Musikwahrnehmung, Distribution, Verarbeitung und Weitergabe. Voller Sehnsucht nach anders. Besser machen. Verstehen tut es niemand. Braucht auch niemand. Soll gelesen werden. Hört sich klug an. Anders. Band besitzt Instrumente, mit denen sie Musik kommerziell ans Volk bringt. Zehntausend Sätze für eine Bedeutung. Hab schon besseres vernommen. Alles nur Klugscheißer. Treffen nicht einmal die Mitte.

 

Klodeckel immer verspritzt. Kann nicht im Stehen kacken. Klopapier ist alle. Welttrauma. Niemand da. Stolpere halbnackt ins Zimmer, hole Taschentücher. Drei - lagig. Besser als Klopapier. Lege SPEX beiseite. Viele Fremdwörter. Kein Lexikon. Dann eben nicht verstanden. Habe Heißhunger. Und Magengeschwür. Blähungen dazu. Kann ich niemand zumuten. Anruf kommt. Anrufen kann man immer. Heute abend Future Sounds of Jazz - Tour mit Fauna Flash, Jazzanova undsoweiter. Danke Marcel für den Tip. Habe kein Geld. Vielleicht nächstes Jahr. Erzählt mir von genial, einzigartig, progressiv, noch nie dagewesen. Absolut verpflichtend. Man verpaßt etwas. Lege auf. Habe keinen Kopf für Musikliebhaber. Daheim bleiben ist vielleicht besser. Ohne Geld kein Spaß. Bier drei Mark. Das nennt sich dann Studentenparty. Bier fünfzig Pfennig. Das ist Studentenparty. Bier umsonst. Das ist eine richtige Party. Leute gehen mir gewaltig auf die Nüsse. Marcus sagt, meine Sicherungen sind durchgebrannt. Kann sein. Passiert drei - oder viermal im Jahr. Geistige Übernächtigung. Marcus sagt, dann solle ich besser daheim bleiben. Gefahr für die Menschheit. Lust kommt auf. Sehe Spaß ohne Alkohol. Entscheidung fällt. Bin am Start. Marcus stöhnt. Viel Spaß, alleine in der Ecke rumzustehen. Warte es ab. Brief von Philosophiedozenten bekommen. Hausarbeit mit Fragestellung im Hinterkopf behalten. Überarbeiten. Ansonsten gute Ideen. Was heißt das? Kann seine Klaue nicht entziffern. Egal. Ändere Satzbau. Lasse alles andere beim Alten. Nützliche Methode. Fällt jeder darauf rein. Erspart notwendige Zeit. Kann ausschlafen. Vielleicht auch nicht. Schlafstörungen. Mitten in der Nacht aufwachen und bemerken, daß es noch dunkel ist. Es schneit schon wieder. Besser als Regen. Schlechter als Sommer. Zweiter Brief. Mahnung. Das übliche. Nicht berichtenswert. Kennt jeder. Dritter Brief. Falscher Name. Reiß ihn trotzdem auf. Rechnung für private Sextelefondienste. Schaue unten beim Briefkasten nach. Für Nachbar bestimmt. Schlimmer Finger. Könnte zur Abwechslung onanieren. Mal überlegen. Spermacocktail frisch ausgepreßt. Supertitten in der Sauna. Lutschfinger. Drei Nyphomaninen im Bumsbomber nach Bangkok. Kleines Arschloch. Entscheide mich für Best of Playboy. Hat Stil. Denke dabei an Melanie. Phantasie ist besser. Schließe die Augen. Nach drei Minuten läuft der Saft. Zigarette, Bier, Fernseher. Wasche mir die Hände. Am Samstag kommt Yvonne. Wahrscheinlich. Hat guten Grund abzusagen. Straße zugefroren. Bekomme Lust auf Poppen. Gute Freundinnen poppt man nicht. Blöder Spruch. Sex ruft Gedächtnisschwund hervor. Habe ich gelesen. Was spricht dagegen?

 

"Cut - Up" zu sein ist nicht schwierig. Man kann eigentlich nie aufhören. Denn ein Neuanfang ist der Beginn eines Kapitels. Ein Ende ist nur kurz da. Existierend für wenige Momente. Bewußtwerdend, der Anfang zu sein.

 

Hume sagt, die Eindrücke gehen den Vorstellungen voraus. Denke an Spanien. Vino tinto seco perfavore. Cerveca. San Miguel, Estrella Damm, Heineken. Gaudi. Katalonien. Sex on the beach. Lloret de Mar. Madrid. Kilometerstein null. Die Königlichen. Barcelona. Marrokaner klauen Geld. Mir auch. Habe immer noch keins. Furze in Anwesenheit von Ischen. Alles lacht. Stinken tut es erst später. Marcus schläft in der Badewanne. Wir fliegen aus dem Hotel. Daniel ruft ein Taxi. Zurück zum Campingplatz. Ischen lassen sich nicht poppen. Daniel hat Freundin. Ich habe Lust. Gedanken. Höre mich sprechen. Selbstgespräche. Die Party heute abend wie jeden Donnerstag. Beschissene Musik. Ischen von Jungs umzingelt. Neue Kurzbekanntschaften. Bierrausch. Übliche Anmachsprüche. Feststellen, daß Ische nicht dein Geschmack ist. One - Night - Stand reicht aus. Leute schwitzen. Scheiben laufen an. Male Figuren. Sieht scheiße aus. Morgen wieder alles vergessen. Laufe auf die Straße. Kenne ich dich? Sage nicht hallo. Man weiß nie. Sie guckt mich an. Ich gucke weg. Sicherheitshalber. Das Telefon klingelt. Es ist mein Verlag. Zeigen sich interessiert an zweiter Auflage. Sage ja und lege auf. Bücher zu verkaufen und keinen Pfennig davon zu sehen. Das ist Kapitalismus. Morgen ist eine Party in der WG. Neue Gesichter. Altes Gelaber. Werde mich vornehm zurückhalten. Marcus meint, daß kann ich nicht. Hole Reader aus meiner Tasche. Länderspezifische und auch vergleichende Forschung über die Tschechische Republik. Politische Kultur. Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln. Schwammig wie alles. Lege Reader auf den Schreibtisch. Spiele Solitaire. Lösche alte Dateien. Speicherkapazität erreicht. Drucker am Arsch. Scheiß No - Name Laptop. Scheißdrucker. Schlechtes Gewissen kommt auf. Muß noch ein Referat fertigmachen. Locke läßt grüßen. Rawls will Gerechtigkeit. Geht mir auch so. Hasse Habermas, Weber und andere Schmallspurwixer. Dozent meint, daran kommt man nicht vorbei. Alles ist möglich. Beweis steht vorne. Empirisch nachvollziehbar. A posteriori. Gehe erneut auf das Klo. Betrachte stolz die gelegten Wurste. Da macht mir niemand Konkurrenz. Telefon klingelt. Daniel ist dran. Warum ich mich nicht melde. Ruf später zurück. Bin beschäftigt. Kann er lange warten. Telefon ist immer noch gesperrt. Fünf Seiten Dina 4 sind ungefähr zehn Seiten Dina 5. Schreibe mir Adressen von Verlagen auf. Rowohlt. Suhrkamp. KiWi. Rororo. Ullstein. Tebbert. Mein Verlag ruft an. Neues Manuskript erhalten. Stilistisch ausgezeichnet. Inhalt zu brutal. Wollen sie nicht verlegen. Soll doch etwas Schöneres schreiben. Vollidioten. Lege auf und schmolle. Yvonne ruft an. Kann am Wochenende nicht kommen. Hat sich beim Skifahren Rippen geprellt. Tut sicherlich weh. Mir auch. Reden über Urlaub, Sylvester, Geburtstage. Schnell wieder vergessen. Vielleicht nächstes Wochenende. Von mir aus. Möchte nicht mehr mit ihr Poppen. Bin frustriert. Trinke ein Bier. Fühle mich wohler. Muß mich besaufen. Frust geht nicht weg. Lasse es bleiben. Frustriere ich eben. Habe keinen Bock auf Referat, auf Fernseher, auf Marcus, auf die Donnerstagparty. Vorsicht! Unsichtbare Laserstrahlung tritt aus, wenn Deckel geöffnet und wenn Sicherheitsverriegelung überbrückt ist, nicht dem Strahl aussetzen. Lege Melvins in den CD - Spieler. Frank Kozik - Poster beobachtet mich. Mein Blick ist stärker. Ich verliere.

Bin wieder eingeschlafen. Oder war die Party doch kein Traum. Weiß nicht. War ultrabesoffen. Wer war da? Wer hat gesprochen? Monologe über nichts. Schon wieder Seinfeld. Habe laut geschmunzelt. Wochenende ist Freundinnentag. Bei mir nicht. Wie immer. Saufen. Ohne Freundin. Aber mit Freunden. Muß aufhören. Kostbare Gehirnzellen. Marcus meint, ich habe alles mit Alkohol abgetötet.

 

Mitbewohner schmeißt Party. Irgendwie komisch. Tanzschultanzen bei Will Smith. Kann ich nicht. War nie auf Tanzschule. Geld besser angelegt. Walzer kann man immer lernen. Brauche ich nicht. Ziehe mich ins Zimmer zurück. Habe einen Gin Tonic vor mir. Wenn er leer ist, gehe ich wieder raus. Habe Sauren gemischt. Mag keiner. Jetzt Hip - Hop. Vor fünf Jahren noch unvorstellbar. Eher Underground. Public Enemy. Kult. Trendy wie früher Police. Oder Bob Marley. Hört man immer noch. Kult wiederverwendbar. Retro. Hasse ich. Glamour soll in sein. Heroes. Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Christiane F. Mag David Bowie. Changes. Lieblingslied. Konsumierbarer Kommerz. Ische mag keinen Sauren. Vielleicht mag sie mich nicht. Kann damit leben. Heute nacht wird es laut. Muß schlafen. Morgen Hausmarke. Tanja im Marktkauf getroffen. Erzählt etwas über Kaffeetrinken. Soll am Mittwoch vorbeikommen. Reden über Milka, Lindt, Rittersport und Nestle. Sie sucht Vollnuß. Ich Alpenmilch. Reden über Bücher. Sie weiß bescheid. Im Dezember erscheint es. Langerwartet. Ewig verzögert. Anscheinend normal. Was ist dann nicht normal? Stehe in der Obstabteilung. Suchende Hände nach frischester Frucht. Entscheide mich für grüne Bananen. Kauft deutsche Bananen! Und russische Spätzle. Party nervt. Kopfschmerzen. Möchte schlafen. Geht nicht. Schlafstörung. Soll Baldrian versuchen. Verpiss dich! Stehe auf natürlichen Schlaf. Wenn es nicht geht, dann geht es nicht. Schreibe Hume - Hausarbeit fertig. Bin unzufrieden. Nehme ausgeliehenes Buch in die Hand. Yesterday. Beatles. Lustig. Werde später eine bessere CD auflegen. Musik grausam. Habe vor zwei Jahren in Bar Musik aufgelegt. Punk - Rock. Jetzt läuft Beastie Boys. Wird besser. Zweimal. War anscheinend nicht gut genug. Habe anderes vernommen. Who cares! Bin mit meinen Nerven völlig am Ende. Möchte Ruhe. Marcus ist daheim. Hat starke Erkältung. Hat gesagt, soll anrufen falls Party gut ist. Guter Witz. Telefon immer noch gesperrt. Lohnt sich sowieso nicht. Ischen komisch. Es hat geklingelt. Gin Tonic ist leer.

 

Fühle mich in eigenen vier Wänden fremd. Bin völlig übernächtig. Jetzt läuft Stehblues. Bin zu faul, um zu schreiben. Wann kommen die Tantiemen? Bin echt genervt. Hoffentlich nicht das ganze Wochenende. Selbstmitleid. Party irgendwie ernüchternd. Versuche, besoffen zu werden. Gegenteile ziehen sich an. What shall I do with a drunken sailor? Scheißohrwurm. Penner labert Marktkaufkassiererin an. Auf englisch. Ist aber in Wirklichkeit Schwabe. Traurige Existenz. Party, auf der mich niemand vermißt. Bin nicht unglücklicher als sonst. Läßt mich cool. Und ungerührt. Ohne Witz. Stelle Bier aus dem Fenster. Wird schneller kühler als im Kühlschrank. Acht Zigaretten im Aschenbecher. Gleich neun. Stille. Aufbruchstimmung. Nein. Schade. Kann immer noch nicht einschlafen. Versuche es mit lesen. Zu anstrengend. Tabak in der Fresse. Wer das liest, wird einttäuscht. Ist das Bier kühl? Immer noch Hip - Hop. Old School contra New School. Stehe mehr auf Zeni Geva. Für die schlechten Stunden. Oder LARD. Jetzt sind es neun Zigaretten. Kettenrauchen. Langweilige Beschäftigung, während vor der Tür der Bär rockt. Bin echt zu träge. Und genervt. Muß pinkeln. Bin zu faul. Desorientiert. Desillusioniert. Psycho. Erinnert mich an Klaudia. Bekanntschaft. Hat mir den Beinamen Psycho gegeben. Hat auch einen Freund. Deswegen am Wochenende ausgebucht. Poppendes Wochenende. Kann es nicht verstehen. Hole Bier von draußen rein. Bin mit meinen Nerven völlig am Ende. Lustlos wie ein Stein. Das macht mir Sorgen. Wenigstens habe ich Bewußtsein. Grenze zwischen Person und anderen Lebewesen. Wie lange benötigt man für "Cut - Up"? Niemand wird es verstehen. Ist das überhaupt "Cut - Up"? Ich weiß es nicht. Künstlerische Interpretationsfreiheit. Ein Bier. Eine Zigarette. Ich stinke. Morgen duschen. Hoffe, daß alles einigermaßen sauber ist. Sieht so aus. Party nicht der Reißer. Habe meine ISBN vergessen. Kann vorkommen. Habe sogar meine eigene Telefonnummer vergessen. Und noch viel mehr. Serial No. 00627. Mein No - Name Ghettoblaster. No - Name rules the world. WM 98. Adidas contra Nike. Deutschland großer Verlierer. Frankreich Weltmeister. Brasilien schlecht gespielt. Trotzdem besser als Deutschland. Möller peinlich. Eigentlich alle peinlich. War bei Deutschland gegen Kroatien auf dem Abi - Ball einer guten Freundin. Live - Übertragung im Nebenzimmer. Echt peinlich. Was interessiert den Vater das Abitur seiner Tochter. Hat selber nur Mittlere Reife. Bier ist leer. Werde besoffen. Trauriger Freitagabend. Bin mit mir nicht sicher. Was wohl die anderen so treiben? Gehe ins Bett. Erster Versuch. Hausmarke war geil. Marcus steht neuerdings auf Zwillinge. Kein schlechtes Gewissen, wenn eine zu kurz kommt. Habe kräftig gelacht. Stehe auf Klaudia. Auf jedenfall momentan. Gefühl wird sich wieder beruhigen. Nicht das erste Mal. Werde endgültig Schluß machen. Ideen gehen aus. Außerdem vor Weihnachten an Verlage schicken. Zwar wird keine Nachricht vor Neujahr kommen. Aber vielleicht gute Nachrichten im neuen Jahr. Wünsche mir Ressonanz.

 

 

 

MAXIM ON THE ROAD

 

 

"Scheiße! Mir fällt nichts ein. Ich habe eine Schreibhemmung." schrie Maxim in sein einsames Zimmer.

 

Nach Luft ächzend warf er die Bierflaschen vom Tisch, die mit einem lauten Knall auf dem halbmodrigen Parkettboden fielen. Schon wochenlang saß er an seiner alten Schreib-maschine, stierte sie mit einem völlig abwesenden Blick an, als schaue er durch eine Nebelwand. Doch dahinter verbarg sich nur eine nikotingelbe Tapete mit nackten Frauen aus dem Playboy.

 

Seit vier Wochen war Maxim damit beschäftigt, eine neue Geschichte zu schreiben. Alles war bestens vorbereitet. Seinen Freunden Elvis und Paul hatte er seither nicht mehr gesehen. Das Telefon war abgestellt. Und alles nur für eine beschissene Idee, die in seinem alkohol-verseuchten Gehirn Gestalt annahm. Alles nur für eine bescheuerte Wette mit seinen Freunden. Maxim wollte ihnen zeigen, daß er ein genialer Schreiber war und er nur eine gewisse Zeit brauche, um es zu beweisen. Auf was hatte er sich bloß eingelassen? Das schadenfreudige und hämische Lachen konnte er sich schon bildlich vorstellen. Enttäuscht von sich selber ging Maxim aufs Klo, nahm sich auf dem Weg dorthin ein Pin - Up von einer scharfen Dunkelhaarigen von der Wand und holte sich einen runter. Seit sechs Jahren holte er sich im Durchschnitt zwei - bis viermal in der Woche einen runter. Das wären in einem Monat ungefähr zwölfmal. In den letzten sechs Jahren hat er sich also schon über dreitausendsiebenhundertundfünfzigmal einen runtergeholt. Vor einigen Wochen las er in einer Fachzeitung, daß die Qualität des Spermas im Laufe der Jahre nachläßt. Aber das war Maxim egal. Das Sperma spritzte an die Klospülung.

 

Um einige Seelenkilo leichter ging er zu seinem Schreibmaschinentisch zurück, machte eine Packung Erdnußflips auf und überlegte. Seine Gedanken hielten sich an Gegenstände fest, die sich in dem kleinen, stinkenden Zimmer befanden. Ein romatisches Bild von seiner letzten Beziehung, ein vergammelter Holztennisschläger Modell Björn Borg, mit dem er seit dem fünften Lebensjahr die gelben Filzkugeln gegen das Garagentor geschleudert hatte und die dreckige Wäsche, die den ganzen Boden belagerte. Maxims Gehirn war ein großes Vakuum, damit beschäftigt zu denken und gleichzeitig sich einfach fallen zu lassen. Die letzten vier Wochen waren die absolute Hölle für ihn. Es gab Momente im Leben, bei denen er mit Freude dieser kontaktlosen Zeit entgegengesehen hätte. Doch nicht jetzt. Eine Freundin, die ihn in den Arm nehmen würde, wäre angesagter. Aber das war nicht erlaubt. Die Wette sah vor, sechs Wochen lang ohne menschlichen Kontakt vor der Einöde der Schreibmaschine zu verbringen. Nur der Gang zum Supermarkt nebenan war genehmigt. Schließlich sollte Maxim nicht verhungern. Er ist kurz davor, die Nerven zu verlieren, alles hinzuwerfen und sich seine innere Niederlage einzugestehen. Was sollte auch dieser ganze BULLSHIT? Warum mußte denn jeder etwas besonderes sein? Paul war der beste an der Uni. Elvis hatte einen rentablen Plattenladen. Nur Maxim konnte in seinem Leben nichts vorzeigen. Sein einziger eher unbedeutender Stolz war eine fast vollständige Playboysammlung aus den letzten zehn Jahren, von den Best Of... bis zu den monatlichen Magazinen sammelte sich alles in seiner Bude. Bei einigen klebten zwar aus mysteriösen Gründen die Seiten zusammen, aber das war ihm egal. Leider war dieses Hobby nichts vorzeigbares, nichts beeindruckendes. Außer vielleicht bei Männerstammtischen. Ansonsten stand Maxim vor einem Scherben-haufen einer Vergangenheit, in der er unfähig war, etwas zu bewegen. Die Nachwelt wird sich an seinen Namen nicht erinnern. Die Playboy- Magazine werden bei der Altpapiersammlung landen. Mit einem Buch wäre alles anders.

"Ein Buch ist für die Ewigkeit," dachte Maxim. Damit könnte er seine Freunde beeindrucken. Damit könnte er alles toppen. Aber die Schreibhemmung stand ihm im Weg, wie die Berliner Mauer vor dem Abriß. Auch der Aschenbecher schien ein antiquiertes Stück zu sein. Eine Zigarette mehr und er würde auseinanderbrechen.

"Über was soll ich bloß schreiben? Ist doch alles völlig ausgelutscht. Romantik, Lyrik, Liebe, Sex, Alkohol, Rock`n Roll. Mit was soll ich denn noch beeindrucken? Alles, was mir einfällt, ist schon irgendeinem Idioten vor meiner Zeit eingefallen."

 

Maxims Gedanken verloren sich in einem undurchdringliche Gestrüpp mitten im australischen Busch. Er sah den Wald vor lauter Bäumen nicht. Für einen Fernseher würde er jetzt alles tun. Nach vier Wochen Kontaktverbot zu weltlichen Gerätschaften, außer sein Playboy - Abo und dem Supermarkt mit den häßlichen Kassiererinnen, war alles verboten. Vom Radio über die Tageszeitung bis zum Telefon war alles tabu für ihn. Sein Rücken schmerzte vom Sitzen. Sein Arsch war flach wie eine Flunder. Nicht mehr lange bis die Nerven und die Geduld endgültig den Geist aufgaben. Von den letzten Reserven beinahe aufgezehrt öffnete er eine Bierflasche und nahm einen tiefen Schluck, so tief, daß auf dem Boden kein einziger Goldfisch genügend Flüssigkeit zum Überleben hätte. Draußen vor dem Fenster lief ein junges Paar schmusend und ineinanderkuschelnd vorbei.

"Die scheinen es gut zu haben," dachte Maxim," "besser als ich im Moment, besser als die ganzen Soap - Operas im Fernsehen, die nur so tun als ob. Aber wenigstens kann ich mir vorstellen, daß vor meinem Fenster eine kleine Soap - Opera stattfindet. Vielleicht tun die beiden auch nur so als ob. Vielleicht will der Typ sie nur vögeln." Der Junge gab ihr einen langen Zungenkuß.

 

Maxim dachte dabei an früher, als er sich fragte, ob ein Kuß immer noch nach der letzten Mahlzeit schmecke, welche die Küssenden zu sich genommen haben. Im Biologieunterricht bestätigte sich seine naive These. Die Biologielehrerin erzählte davon, daß die Frühform des Kusses aus der Essensübergabe der Mutter zu ihren Kindern entstanden sei. Doch nach einigen Jährchen Erfahrung revidierte er seine These. "Ein Mädchen schmeckt einfach nach Mädchen," fand er heraus, ohne näher darauf einzugehen. Während die beiden Turteltäubchen aus dem Blickfeld verschwanden, hörte man vom Schreibmaschinentisch nur einen lauten Seufzer.

 

Gerührt von diesem realen Geschehen betrachtete Maxim das Polaroid - Bild, auf dem Betty ihn mit einem liebevollen Blick beobachtete. Doch die augenblickliche Nähe, die er empfand, war nur ein Trugbild, nur eine Täuschung seiner getrübten Stimmung. Sie hielt sich gerade für ein Jahr in Südafrika auf, um dort ein Auslandsstudium zu absolvieren. Ihre Rückkehr wird ihn noch einige lange Monate in single - mißlauniger Stimmung versetzen. Maxim vermißte und beneidete sie. Auch ihrem Erfolg stand keine Berliner Mauer und keine Schreibhemmung im Wege.

"Nein! Das Leben ist nicht fair zu mir. Ständig reite ich mich in die Scheiße hinein. Während meinen besten Freunden die Sonne aus dem Arsch scheint, sitze ich in meiner versüfften Bude vor einer schrottreifen Schreibmaschine und einem überfüllten Aschenbecher. Ist das etwa alles? Kann ich nicht mehr bekommen?" redete Maxim mit sich selber. Er starrte weiterhin in einer miesen Stimmung aus dem Fenster.

 

Draußen kam ein starker Wind auf, der die losen Blätter in die Luft wirbeln lies. Ein grauhaariger, dreckiger Köder verfolgte eine miauende Katze, die sich auf einer deutschen Eiche retten konnte.

"Jeder kann sich vor dem Tode retten. Nur ich stehe vor dem kaputten Augenblick meiner Existenz, die nur durch einen genialen Einfall gerettet werden kann. Wäre nur Betty hier. Sie würde mir sicherlich ein paar lebensrettende Tips geben. Wäre ich doch auch eine Katze, die ihre Rettung auf einem lächerlichen Baum gefunden hat. Wären meine Freunde der Hund, der nicht klettern kann, würde ich mich wohler fühlen." Maxims Gedanken würden immer abstruser, verloren sich immer mehr in schwachsinnige Irrgärten. Er lief immer mehr in den auswegslosen Busch Australiens hinein. Bettys Bild auf dem Schreibmaschinentisch grinste ihn immer mehr an. Auf einmal spürte er, wie ein komischer Zorn aus seinem Bauch in seinen Verstand kletterte und ihn wütend machte, wütend auf die ganze Menschheit, die wirklich unschuldig für den kaputten Zustand Maxims war. Die Zeit wurde knapper und das wußte er. In zwei Wochen mußte das fertige Manuskript auf dem Schreibmaschinentisch liegen.

 

Aber für eine zerüttete Existenz, wie Maxim eine war, ist selbst das morgendliche Aufstehen eine schwierigere Aufgabe als eine Geschlechtsoperation. Ein Geistesblitz wäre angesagt. Paul hatte ihm vor ein paar Monaten von der Uni erzählt, über die absolut bescheuerten Kommillitonen. "Einer," sagte er," sitzt im Seminar drin und hat eine Riesenfreude daran, die Argumentationslinien der Autoren zu zerreissen. Das bringt ihn schier zum Orgasmus. Der denkt sich wohl, daß die Autoren, die seiner Meinung nach sowieso alles falsch machen, absichtlich lückenhafte Argumentationen aufstellen, nur daß er sie dann nachher kritisieren kann. Er findet dann hier und da einen Fehler, den man ja so nicht durchgehen lassen kann. Ich denke, daß die Autoren während der Verfassung der wissenschaftlichen Arbeit sich schon etwas dabei gedacht haben und die Argumentationen sicherlich korrekt sind. Man findet nur Gewissensunterschiede und daraus lassen sich dann Argumentationslücken finden. Aber scheiß drauf. Der Furz meint wohl, er könne gleich den Proftitel haben. Der weiß ja nicht einmal, daß es außer der Uni auch noch ein Leben gibt." An diese Worte mußte Maxim gerade denken. Paul nahm die Uni absolut locker und trotzdem toppte er seine Kommilitonen, ohne dafür seinen hedonistischen Lebensstil zu beenden. Er war tatsächlich zu beneiden. Den Haß auf die ewig Besserwissenden teilten sie gemeinsam. Zwar waren beide keine kritiklosen Allesakzeptierer, aber Kritik paßte schließlich nur in eine Schublade, wenn sie auch wirklich schlagfertig war und in einem richtigen Moment geäußert wurde. Für die Haarspalter und Pseudoalleswisser gab es in Pauls und Maxims Leben keinen Platz. Aber meistens gab es keinen Anlaß zur Besorgnis. Diese Art von Leute traf man außerordentlich selten auf der Straße. Ihr Lebensraum war eine abgeschottete Bude, deren Inhalt nur aus wissenschaftlichen Büchern bestand. Vielleicht zwischendurch von einem Stephen King - Bestseller unterbrochen. Von diesen Leuten hielt Maxim nichts. Sie werden zwar eine tolle Karriere vor sich haben, aber in ihrem Sterbebett feststellen, daß sie nicht mehr hinterlassen als eine EC - Karte und ein paar Daimler - Chrysler - Aktien.

 

Aber das war keinesfalls die Hauptsorge Maxims. Die Schreibhemmung wollte sich einfach nicht lösen. Er wartete stundenlang an seinem Schreibmaschinentisch und versuchte, seine Gedanken fallen zu lassen. Was konnte man heutzutage noch schreiben, ohne das es völlig langweilig und öde wäre?

"Ein ROADMOVIE!" schrie Maxim,"das ist die Lösung."

 

 

ON THE ROAD

 

Maxim saß in seiner Stammkneipe und feierte seinen Geburtstag. Alle seine besten Kumpels waren am Start. Eine überschwengliche Freude breitete sich im ganzen verrauchten Raum aus. Doch am meisten freuten sich Paul, Elvis und Maxim. Denn am nächsten Morgen um 17 Uhr sollte es losgehen. Einen Monat mit dem VW - Bus über die Straßen Spaniens. Doch jetzt sollte zuerst Maxims Geburtstag gebührend gefeiert werden. Alex, der Barkeeper kam mit zwei Flaschen Sekt an den Tisch. "Die gehen aufs Haus! Alles Gute, Maxim." Schnell füllte Paul die Gläser auf. Janine, Simone, Vera, George, Paul und Elvis sangen "Happy Birthday" und stießen gegenseitig an. Die Stimmung war richtig ausgelassen. "Girl, you`ll be a woman soon" von Urge Overkill dröhnte aus den Boxen an der Decke. Vera, Simone und Maxim tanzten im Pulp Fiction - John Travolta - Stil auf dem schmutzigen Kneipenboden, spreizten ihre Finger und bewegten sexy ihre Hüften. Alle lachten über diese Situation. Der Running - Gag auf jeder Party. Der Song zum Kult - Film der Neunziger.

 

 

Paul, Elvis und Maxim gingen gemeinsam auf das Klo, um ihre "Boa zu würgen", wie sie immer zu pflegen sagten.

"Weißt du, wo wir morgen um die Uhrzeit sein werden?" fragte Paul, der immer gerne bestimmte Stimmungen für Gemütsfragen ausnützte. "Wir werden uns auf der Autobahn in Frankreich befinden." - " Da können wir schon einmal zum Aufwärmen ein paar Chickas abchecken," meinte Elvis. - "Aber nicht mit mir. Französische Mädchen, mit Ausnahme von Sophie Marceau, sind alle durchgehend widerlich," antwortete Maxim auf die Anspielungen. Ein kurzes zustimmendes Gelächter brach aus.

Ein äußerst geiler Geburtstagsparty - Abend war kurz vor dem Abschluß, aber der Vorfreude auf eine erlebnisreiche Tour durch die Weiten Spaniens stand nichts mehr im Wege. Sonne, Party, Städte, Meer und natürlich die Mädchen. Sie sehnten sich nach Ablenkung, fernab von den Gewohnheiten des alltäglichen Lebens. Paul brauchte Abstand von seinem Studium, da ihm die ganze Meute studiergeiler Kommilitonen tierisch auf die Nerven gingen. Elvis konnte keine Vinylplatten mehr sehen, geschweige denn die Plattenjunkies mit ihren speziellen meterlangen Einkaufslisten. Und Maxim wollte nur weg von seinen eigenen vier Wänden, weg von der erniedrigenden Einsamkeit, die sich um seinen Hals wickelte und ihm das Atmen schwer machte.

 

Es war so gegen drei Uhr als die durstige Meute die Stammkneipe verlies. Obwohl der letzte Gong noch nicht geschlagen hatte, waren sie zu müde, um noch länger zu wachzubleiben. Maxim erinnerte sich an Momente in seinem Leben, die so ähnlich abliefen.

"Bei Konzerten gehen einige Leute auch immer vor der letzten Zugabe. Das kann ich nicht verstehen. Wollen sie nur schnell nach Hause gehen und ohne Verkehrchaosstress aus ihrem Parkplatz fahren? Bei einem Fußballspiel kann ich es ja noch nachvollziehen. Wenn die Heimmannschaft klar in Führung liegt, dann hätte ich auch keine Lust, mir das Gedränge am Ausgang zu geben. Und wenn die Heimmannschaft klar verliert und ein Ausgleich, geschweige denn der Gewinn des Spiels unmöglich ist, dann geht man gesenkten Hauptes und voller Enttäuschung früher nach Hause. Aber alles trifft nicht auf ein Konzert zu, geschweige denn auf meine Party. Ich versteh manchmal die Leute nicht."

 

Paul und Elvis umarmten Maxim und lachten über seine betrunkene Weltphilosophie. Eine unbeschreibliche Freundschaftsbeziehung verbündete die drei auf unglaubliche, übersinnliche, Raum und Zeit unabhängige Weise. Ihr Klang war eine Musik aus einer anderen Wirklichkeit und ihr Ziel war das Leben in vollen Zügen zu genießen.

 

Am nächsten Tag wurde Maxim um fünf Uhr nachmittags von Paul, Elvis und dem VW LT 28 abgeholt. Jeder hatte ein breites, erwartungsfrohes Grinsen am Start. Vier Wochen Freiheit, weit entfernt von der Realität. Einfach nur in den Tag hineinleben, ohne an die traurige Alltagsbeschäftigung zu denken. Das war ihr Motto für den „Road – Movie", den sie bald erleben sollten. Ein leichtes Hippie - Gefühl kam auf, aber sie waren keine Hippies. Sie wollten Outlaws sein. Nicht an Gesetze denken, aber auch nicht absichtlich welche brechen. Schließlich waren sie nur dem symbolischen Namen nach Outlaws. Keine Westernhelden, aber cool genug, um mit der verbalen Waffe zu spielen. Den Abzug drücken und den nervigen Gegner mundtot machen.

 

 

Maxim schleuderte seine Taschen in die dafür vorgesehenen Gepäckschublade und kletterte in das Innere des VW. "Komm, beeile dich, sonst schaffen wir es heute nicht mehr bis nach Montpellier." rief Paul, der Fahrer der Tour. "Mit dem Gefährt ist es eher unwahrscheinlich, daß wir unser erstes Ziel noch rechtzeitig erreichen werden," lästerte Elvis, während Maxim sich eine Kippe drehte. Mit einem röhrenden Tuckern und einer schwarzen Auspuffwolke startete Paul den Motor. Schwergängig, aber mit voller Lebensenergie bewegte sich der schwere VW auf die Autobahn. Man könnte meinen, der Bus wüßte von dem großen Unternehmen der drei Jungs. Paul legte ein Hip - Hop - Tape von Hausmarke in das etwas unmoderne No - Name – Kassettendeck.

"Jetzt kommt der abgemachte Einkauf der Playboy - Sondermagazine dran," sagte Maxim und sie stimmten ihm zu. "Von jedem Land, daß wir durchqueren, mindestens zwei oder drei Ausgaben." meinte Elvis. "Außerdem auch noch ein deutsches Kontaktmagazin. Man muß doch etwas zu lachen haben," gab Paul seinen Senf dazu. Die Sache war klar. Die nächste Tankstelle sollte der erste Stop sein. Maxim nahm vom Kühlschrank drei eisgekühlte Bier heraus und drückte seinen Kumpels eines in die Hand. "Auf die geilsten Wochen unserer gemeinsamen Freundschaft. Prost!"

 

Mit dem letzten Wort zwischen den Lippen erreichten sie eine BP - Tankstelle und parkten den VW ab. Daneben stand ein kleiner Renault, in dem vier Mädchen grinsend aus dem Fenster lugten. "Der Urlaub fängt ja schon genehm an," lachte Elvis. "Die mit dem weißen Shirt sieht echt ultrabumsig aus," meinte Maxim, während Paul nur müde einen Rülpser hervorbrachte. "Na, ,ja. Die eine hat ein zu fettes Gesicht. Und die anderen sehen aus wie die typischen Französinnen." "Du hast absolut keine Ahnung. Die Blonde würde ich nicht von der Bettkante stoßen," erwiderte Elvis, während Maxim in lauter Vorfreude auf neue Playboy - Magazine zur Tankstellentür gondelte. "He, hast du die Tür zugemacht!" schrie Paul hinter ihm her, aber kein Laut kam in Maxims Ohr an, der in Gedanken schon bei den Playmates des Monats war.

 

 

In der Tankstelle war wenig los. Von draußen hörte man die vorbeirasenden Autos. Maxim stellte sich sofort vor den Zeitungen auf und schaute sich um. Die eingeschweißten Magazine interessierten ihn nicht. Sie waren nur für Pornofetischisten, nicht für Leute mit Stil. Paul ging mit Elvis zum Kühlregal und fischte sich ein paar Dosen Dr. Pepper für die Fahrt heraus. Unbemerkt von den drei Outlaws kamen die mutmaßlichen französischen Mädchen herein. "He, Jungs, die sind aber nicht älter als 18, oder?" flüsterte Maxim seinen Kumpels zu. "Egal, jung fickt auch gut," schmunzelte Elvis über seinen etwas derben Kommentar. Natürlich mußte Paul auch noch einen völlig krassen Spruch ablassen. "Zu jung kann sie nie sein, nur zu eng." Fieses Lachen kam aus den Kehlen. Jeder war sich der sexistischen Slogans bewußt, aber niemand schämte sich dafür. Sie waren keine politisch - korrekten Sprechmeister. Es lag ihnen fern, über jedes Wort nachzudenken. Unter sechs Augen war alles erlaubt. Die Renault - Mädchen gingen an die Kasse und kauften sich rote Gauilloises. Maxim war immer noch auf der Suche nach dem optimalen Urlaubs - Playboy. Paul kam ihm zu Hilfe. Er meinte, zur Abwechslung würde es auch ein Penthouse tun. "Kauft euch doch beide," meinte Elvis. Gesagt, getan. Maxim stand mit den zwei gewählten Magazinen an der Kasse und bezahlte. Die Fahrt ging weiter. Zum Abschied winkten sie den etwas verdutzten Mädchen hinterher, die vor der Tankstelle noch eine Zigarette rauchten und in die dunklen Abgaswolken des VW LT 28 eintauchten.

 

Paul legte ein neues Tape in den Kassettenrekorder. "On the road again" schmetterte aus den Boxen. "Das ist die optimale Musik für die Straße," meinte Elvis. Maxim verzog nur das Gesicht, während eine Rauchwolke aus seinem Mund kam. "Das ist das letzte Dope für unsere Reise. Danach wird nur noch Alkohol getrunken. Und das in enormen Mengen!" Der Joint ging herum. Jeder nahm einen kräftigen Zug. "Wie es wohl Jack Kerouac auf seiner Reise ergangen ist?" fragte sich Paul, der "Unterwegs" viermal gelesen hat. "Die Zeiten sind schon längst vorbei. Wir leben in den Neunzigern und Dope wird eine aussterbende Droge sein. Glaubt mir. Sie ist echt völlig konterrevolutionär. Das Bier in ausreichender und intellektueller Menge ist die perfekte Lösung für den perfekten Abend mit den perfekten Freunden," hüstelte Maxim, der sich am starken Rauch des Joints verschluckte.

"Geh in einen Club und labere mit zugekifftem Gehirn ein Mädchen an und du wirst sehen, daß sie bald einen Abgang machen wird. Vorausgesetzt, sie ist selber nicht bekifft. Vielleicht wird sie dann Wohlgefallen daran finden, wenn du ihr über autofahrende Kakerlaken ohne Führerschein im Keller erzählst." Leider wurde Maxim von einem hupenden und überholenden Lastwagen unterbrochen. "Du Arschloch!" schrie Paul aus dem Fenster und zeigte dem Fahrer den Vogel. Das philosophische Gespräch schien somit beendet zu sein. Aber weit gefehlt. "Wißt ihr," begann Elvis, "die Mädchen wollen doch erobert werden und da ist doch jedes Mittel recht, oder. Ich habe bekanntlich schon einige Erfahrung in dem Bereich gemacht. Man muß wirklich mit den altbewährten Anmachsprüchen ankommen und nachher das Gespräch auf irgendein abgefahrenes Thema kommen lassen. Sie sollen sehen, daß du kein Langweiler bist, der immer nur warme Milch trinkt. Es kommt äußerst selten vor, wenn ein Mädchen die Initiative ergreift. Auch in den Neunzigern gelten die alten Regeln. Auch wenn das Fernsehen immer einem etwas anderes vormacht. Natürlich gibt es verschiedene Arten. Ich rede jetzt nicht von One - Night - Stands oder so, sondern von einer ernsthaften Beziehung, die nicht nur auf Sex aufbaut." "Da spricht ein Romantiker. So siehst du überhaupt nicht aus," meinte Paul, der über diese Methode nicht begeistert ist.

 

"Elvis, wo geht es nach Lyon?" fragte Paul, der kurz vor dem Nervenzusammenbruch stand. "Verdammt, kann jemand von euch Arschlöchern endlich auf die Karte schauen!" - "Hey, krieg dich wieder ein. Wir sind auf der E 611, Landstraße Richtung Lyon." sagte Elvis, der leicht bekifft war. "Warum fahren wir eigentlich nicht Autobahn? Das geht doch viel schneller." fragte Maxim, der vor sich hin döste. "Ihr seid die letzten Volldeppen. Da zahlen wir Maut und verlieren unser Geld wie nichts. Außerdem sieht man auf der Landstraße auch ein wenig vom Land." gab Paul kauzig von sich. "Wenn es Nacht ist, stört es keinen Schwanz, wie das Land aussieht. Frankreich geht mir sowieso am Arsch vorbei. Ich will nach Viva Espana." sagte Maxim, der von dieser hügeligen Strecke nicht begeistert war. "Leck mich. Ich habe keinen Bock, auf der Autobahn zu fahren. Irgendwie muß ich ja fit bleiben." schnauzte Paul. Elvis hing am Fenster und lehnte seinen Kopf heraus. "Es riecht nach Fisch." gab er mit einem schelmischen Grinsen von sich. " Ich glaube, wir schaffen es heute nicht mehr bis nach Montpellier. Na, ist eigentlich auch scheißegal. Wir haben es nicht eilig. Lass uns irgendwo wild campen, wenn du zu müde bist, um zu fahren." Aus dem Wageninneren vernahm man nur noch ein zustimmendes Grunzen. "Will jemand Bier?" fragte Maxim. "Komm, gib eins her und halt die Fresse." meinte Elvis. Ihr Umgangston war nicht immer der angesagteste, aber das war den Outlaws auch egal. "Nicht alles zu ernst nehmen" war ihr Motto. Außerdem sprachen sie ständig in diesem Ton miteinander. Es war nur ein Spaß, den sie nicht auf die Waage legten. Ihre Freundschaft hatte ihre Ursprünge in einer Vergangenheit, die tief und innig war. Sie kannten sich so gut wie ihre eigene Hosentasche.

 

Die Schreibhemmung, der australische Busch, Betty, alles verlor für Maxim in dem Moment der Zusammengehörigkeit an Wichtigkeit. Jeder einzelne Moment genoß man in vollen Zügen.

 

 

Soviel erstmal von Dole D. — wie gesagt: Wenn es Ihnen gefällt, dann schreiben Sie uns doch eine eMail. Vielen Dank

Zurück zur Startseite

Zum Buchkatalog

eMail an uns

Buchverlag Andrea Schmitz

 

Impressum - Der Buchverlag Andrea Schmitz